„Jetzt geht es wieder um Klassenkampf pur: die Linke gegen die Bürgerlichen, die das Erfolgsmodell Schweiz aufgebaut haben.“ Das in politischen Kreisen der Schweiz fast berühmt gewordene Klassenkampfzitat des FDPlers Ruedi Noser hat eine ganze Reihe von Reaktionen provoziert. Nun hat sogar die NZZ einen „aufflackernden Klassenkampf“ entdeckt, und macht linke Vertreter, darunter die WOZ und das Parteiprogramm der SP, aus, die vom Klassenkampf „oben gegen unten“ sprechen, ihn aber „von unten“ befeuern. Welche Vorstellung von Klassenkampf steckt dahinter? Was ist Klassenkampf? Wer führt ihn?

Er ist wieder auf dem politischen Parkett gelandet, der gute alte Klassenkampf. Alle reden sie drüber, ob links oder rechts, FDP oder NZZ, SP oder WOZ. Die FDP ruft nach der verheerenden Abstimmungsniederlage den Klassenkampf als Abwehrschlacht gegen links aus. Die WOZ fragt empört: „Wer führt hier eigentlich Klassenkampf?“ und meint damit die Rechten und die Manager. Doch die NZZ gibt kontra: „Der Klassenkampf wird unverändert von unten befeuert“, und meint mit unten die Linken. Die SP kommuniziert, von der NZZ angesprochen, Mühe damit zu haben, dass in ihrem Parteiprogramm etwas von der Überwindung des Kapitalismus steht. Sie versucht sich so weit wie möglich vom Klassenkampf zu distanzieren und spielt den Ball wieder der anderen Seite zu. „Nehmen wir die Parole ‹Klassenkampf› zum Nennwert, dann will Noser einen Klassenkampf von oben nach unten“, sagt die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz.

Ein seltsames Spiel geht hier vor sich. Die Mannschaften stehen parat, der Ball ist auf dem Spielfeld, aber alle Spieler versuchen ihn händeringend dem Gegner zuschieben zu wollen. Widerwillig müssen alle Beteiligten anerkennen, dass der Klassenkampf wieder auf der politischen Agenda aufgetaucht ist. Trotzdem will keiner etwas damit zu tun haben, die Beteiligten haben es eilig den schwarzen Peter der Gegenseite zuzuschieben.

Die „Ablehnung“ des Klassenkampfes hat eine lange Tradition und reicht über das gesamte politische Spektrum. Von den Faschisten ganz rechts bis hin zu „Linken“, von Sozialpartnerschaft redende Parteiführer sind sich alle einig, den Klassenkampf nicht zu wollen. Bis in die dreissiger Jahre hinein war die Ablehnung des Klassenkampfes denn auch eine ganz offensichtliche Sache: Klassenkämpferische Parteien gehörten zu den grössten Parteien Europas, klassenkämpferische Gewerkschaften hatten Abermillionen aktiver Mitglieder. Streiks, Betriebsbesetzungen, Rebellionen und Aufstände waren an der Tagesordnung. Wer damals gegen den Klassenkampf war, sah vor seinen Augen einen bewusst geführten Klassenkampf; die Organisationen der Linken propagierten ihn.

Aber heute? Starke Organisationen, die sich klassenkämpferisch geben, fehlen. Seit Jahrzehnten reden SP und Gewerkschaften gegen Klassenkampf und für Sozialpartnerschaft. Seit jeher sind die Bürgerlichen in der Mehrheit und haben die Gesellschaft nach ihrem Willen formen können. Niemand will etwas mit dem Klassenkampf zu tun haben, alle Parteien versuchen ihn auf den politischen Gegner zu schieben. Die Ideologien beider Seiten wollen den Klassenkampf am liebsten ganz schnell zum Verschwinden bringen. Niemand will ihn, keiner ist Schuld und am besten soll er ganz schnell verschwinden. Trotzdem wird heftigst über ihn geredet. Wie konnte das nur passieren?

Was ist Klassenkampf und wer führt ihn?

Die NZZ schreibt zum Klassenkampf: „Der Begriff ist […] belastet: Die von Karl Marx begründete Denkschule wird wachgerüttelt, die ideologische Frontstellung zwischen Arbeiterklasse und Kapitalisten heraufbeschworen.“ Hier hat die NZZ etwas falsch verstanden. Die Frontstellung ist nicht ideologisch, sie ist ganz und gar real, und es war auch nicht Marx, der sie begründete: „Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt.“

Ignoriert man eine Tür und will trotzdem durch, kriegt man einen blauen Fleck. Spätestens dann beginnt man über sie nachzudenken, die Existenz der Tür ist von unserem Willen unabhängig. Mit Klassenkampf ist das nicht anders. Man kann versuchen ihn zu ignorieren, zu spüren kriegt man ihn trotzdem.

Jeder Rappen Lohn, den ein Arbeiter mehr bekommt, bedeutet für den Besitzer der Firma eine Schmälerung des Gewinns. Der Kapitalist hat ein Interesse an möglichst niedrigen Löhnen, der Arbeiter eines an möglichst hohen. Der Kapitalist hat ein Interesse an möglichst hohen Arbeitszeiten, der Arbeiter eines an möglichst niedrigen. Die wirtschaftlichen Interessen von Arbeiter und Kapitalist könnten kaum gegensätzlicher sein.

Ob man es will oder nicht, wer zu seinem Chef geht und mehr Lohn verlangt, betreibt bereits Klassenkampf. Wer zu seinem Chef geht und kürzere Arbeitszeiten fordert, betreibt ebenfalls Klassenkampf. Wenn der Chef hinter dem Arbeiter steht und ihn auffordert, weniger mit den Kollegen zu reden und mehr zu arbeiten, ist auch das Klassenkampf. Jeder und Jede hat schon einmal Klassenkampf geführt, gegen jeden und jede wurde bereits Klassenkampf geführt.

Der Klassenkampf beschränkt sich aber nicht einfach nur auf die persönlichen Lohnverhandlungen und auch nicht nur auf die wirtschaftliche Ebene. Klassenkampf wird in den verschiedensten Situationen, an den verschiedensten Orten, in den verschiedensten Organisationen geführt. Wenn die FDP ein Sparpaket durchsetzt, dann führt sie Klassenkampf. Wenn gegen Migranten oder die Jugend gehetzt wird, ist dies Klassenkampf. Wenn die SP für sozialen Wohnungsbau eintritt, führt sie Klassenkampf. Wenn die NZZ einen Streik verurteilt, führt sie Klassenkampf. Und wenn die WOZ die 1:12-Initiative gut findet, dann führt auch sie – Klassenkampf. Der Interessensgegensatz zwischen arbeitender und besitzender Klasse durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft. Das morgendliche, halb scherzhafte Herumjammern über die Arbeitszeit unter Arbeitskollegen gehört genauso dazu wie heftigste gesellschaftliche Eruptionen, Generalstreiks wie in Griechenland und Revolutionen wie in Ägypten. Aus den einzelnen, kleineren Klassenkonfrontationen kann sich ein gewaltiger Sturm aufbauen, welcher den Klassenkampf auf die Spitze treibt. Dann stellt sich die Frage, welche Klasse herrscht? Auf die Spitze getriebenen führt der Klassenkampf zu  Revolutionen, nach Marx die „Lokomotiven der Geschichte“.

Um im Klassenkampf einen Vorteil zu erlangen, haben die VertreterInnen der Klassen verschiedensten Organisationen und Einrichtungen gegründet. Da sie alleine in den Lohnverhandlungen keine Chance hatte, haben sich die ArbeiterInnen zu Gewerkschaften zusammengeschlossen. Im Gegenzug entstanden die Arbeitgeberverbände. Die politischen Parteien im neunzehnten Jahrhundert entstanden als Interessensvertretungen der Klassen. Der Klassenkampf ist das Spannungsfeld, in welchem sich gesellschaftliche Veränderungen abspielen.

Was meinen die Rechten, wenn sie von Klassenkampf sprechen?

Klassenkampf wird zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Mitteln geführt. In den Boomphasen, wenn die Profite nur so sprudeln, dann ist die nächste Gehalterhöhung gar kein grosses Problem. Kapitalisten und Arbeiter haben scheinbar die gleichen Interessen, wenn alle etwas härter arbeiten, dann gibt es auch mehr zu verteilen. Der Klassenkampf ebbt dann meist ab, den politischen Parteien scheint er beendet. Aber er verschwindet nicht, er schlummert nur unter einer dicken Gelddecke. Um Profit zu erzielen, vergrössert die herrschende Klasse die Produktivkräfte, den gesellschaftlichen Reichtum. Sie spielt in diesen Momenten eine positive, eine fortschrittliche Rolle.

In den Krisen, wie wir sie auch Heute sehen, verschärft sich die Konkurrenz enorm. Die „Hetzjagd der Überproduktion“ zwingt die Kapitalisten dazu, massiv konkurrenzfähiger zu werden. Sonst verschwinden die Profite schneller als sie je gekommen wären. Sie sind gezwungen, Massnahmen zu ergreifen: Steuern, Löhne und Abgaben müssen zwecks Profiterhaltung gesenkt werden. Die Bürgerlichen nennen das dann nicht Klassenkampf, sie sagen, dass es keine Alternative gäbe, dass der gesunde Menschenverstand das befehle. Dass ihre Massnahmen zu heftigen sozialen Eruptionen führen können, nehmen sie nicht nur in Kauf, sie rechnen sogar damit. Wiederum um Profit zu erzielen, vernichtet die herrschende Klasse die Produktivkräfte, den gesellschaftlichen Reichtum: Die herrschende Klasse wird rückschrittlich, sie wird reaktionär. Für die ArbeiterInnen stellt sich die Frage, was für eine Daseinsberechtigung die herrschende Klasse nun überhaupt hat.

Als Ruedi Noser jedoch den Klassenkampf ausrief, meinte er nicht die Massnahmen der Bürgerlichen. Seit dem wuchtigen Ja zur Abzockerinitiative und der aufziehenden Gefahr von Mehrheiten für 1:12 und Mindestlohn befindet sich die Linke in einer echten Angriffssituation. Die Linke ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten in der Lage, Mehrheiten hinter Massnahmen zu scharen, welche die Ausbeutungsfreiheit der Kapitalisten offen in Frage stellen. Die Interessensgegensätze sind so offensichtlich geworden, dass die ArbeiterInnenklasse der Schweiz bereit ist, gegen die Politik der Bürgerlichen zu opponieren. Wenn Ruedi Noser vom Klassenkampf redet, meint er nicht den Klassenkampf „oben gegen unten“. Den Bürgerlichen würde auch nie in den Sinn kommen, dass Massenentlassungen, Werksschliessungen oder Lohnsenkungen Klassenkampf bedeuten. Sie sind der Meinung, alles was sie täten sei völlig legitim. Klassenkampf von oben gibt es für sie gar nicht, und kann es für sie gar nicht geben. Alle Massnahmen, die sie durchsetzen, sind auch immer durch Recht und Gesetz gedeckt. Es ist ja ihr Recht, ihr Gesetz, sie und ihre Handlanger sitzen an den Schalthebeln der Macht. Erst wenn es tatsächlich sichtbaren Widerstand gibt, erst wenn es zu Streiks, Protesten oder zu einer Mehrheit für die Juso kommt, erst wenn sie das erste Mal seit Jahrzehnten vor einer drohenden Niederlage stehen, erst dann rufen sie den Klassenkampf aus.

Genau wie die Rechten ihre massiven Massnahmen mit dem gesunden Menschenverstand begründen, begründet die reformistische Linke ihre Reaktionen mit Masshaltigkeit, Prinzipientreue und dem gesunden Menschenverstand. Beide Seiten begründen also ihre zunehmend konfrontativere Politik mit dem gesunden Menschenverstand und beide Seiten haben damit sogar Recht. Der eigenen Klasse erscheinen die Massnahmen völlig massvoll und gesund, der Gegenseite erscheint sie als heftiger Angriff. So ist das halt im Klassenkampf. Reden die Bürgerlichen vom gesunden Menschenverstand, meinen sie jenem der Kapitalisten. Redet die Linken vom gesunden Menschenverstand, reden sie von jenem der ArbeiterInnenschaft.

Zeigen nun die Rechten mit dem Finger nach Links, und die Linken mit dem Finger nach Rechts und rufen: „Der da macht Klassenkampf“, verfallen beide Seite dem gleichen Fehler, der gleichen Ideologie. Bourgeoise und Reformisten verkennen, dass der Klassenkampf nicht aus dem gesunden Menschenverstand wurzelt, nicht eine Frage des blossen Willens ist. Der Wille wird vielmehr durch den Klassenkampf wachgerüttelt. Er ist die Konsequenz der historischen Entwicklung aller Klassengesellschaften, er ist materiell verwurzelt in den Produktionsverhältnissen, ohne sie nicht totzukriegen.

Was meint die reformistische Linke, wenn sie von Klassenkampf spricht?

Die immer heftigeren Drohgebärden, das immer lautere Gebrüll und die immer heftigeren Angriffe von rechts haben natürlich eine kolossale Wirkung auf die Linke und die Lohnabhängigen. Fassungslos und kopfschüttelnd betrachtet man die unglaublichen Angriffe von rechts, sei es die betrügerische Einführung der Unternehmenssteuerreform II, seien es die zunehmend prekärer werdenden Kürzungen in den kantonalen Haushalten.

Obwohl man jahrzehntelang nach der Maxime der Sozialpartnerschaft handelte, obwohl man versuchte, den Bürgerlichen keine Steilvorlage zu liefern, sieht sich die Linke nun mit harten Angriffen konfrontiert. Das Militär übt öffentlich, wie man gegen Demonstranten mit roten Fahnen vorgeht. Die jahrzehntelange Verneinung des Klassenkampfes hat trotzdem dazu geführt, dass man sich nun den Angriffen der Rechten ausgesetzt sieht. So wittert man „Klassenkampf von oben“.

Die derzeitige Führung der Linken will den Klassenkampf nicht führen. Über die Jahrzehnte haben sich in SP und Gewerkschaften stabile Strukturen gebildet, welche vom bürgerlichen Staat gestützt werden. Parlamente und Gewerkschaftsbürokratien, Exekutivämter, paritätische Fonds und Kommissionen sorgen für ein sicheres Einkommen. Man bedient sich der Mittel der Bürgerlichen und des bürgerlichen Staates, und dieser fordert dafür natürlich etwas ein. Griffe man zu Klassenkampfrhetorik, sähe man sich härtester Kritik ausgesetzt. Es hiesse, der demokratische Konsens würde aufgekündigt, die Sozialpartnerschaft gefährdet, etc. Die Angst vor dem Verlust bürgerlicher Geldtöpfe löst nachvollziehbare Existenzängste aus, und führt zur „Mässigung“ der Rhetorik. Auf dieser Grundlage entsteht der Reformismus: Man sucht nach „cleveren“, nach „pragmatischen“ Lösungen im kapitalistischen Rahmen. Man will die Fragestellungen, die der Kapitalismus aufwirft, möglichst konfliktlos und leise lösen. So ist die SP von der Vertreterin der ArbeiterInnenschaft im Parlament zur Vertreterin von Parlament und Behörden in der ArbeiterInnenschaft geworden. Man denke an Teile der Stadtzürcher SP, die lautstark vor einem „zu linken“ Stadtrat warnten. Man denke an die Winterthurer SP, deren Gemeinderatsfraktion Mehrheiten an Mitgliederversammlungen mobilisiert, um die JA-Parole für Luxuswohnungen zu fassen. Man denke an die Bundes-SP, die sich im Dezember 2012 gegen das Referendum zur Asylgesetzrevision stellte. So trägt man den Klassenkampf im Sinne der Bürgerlichen in die eigene Basis hinein. Die derzeitige Offensivsituation kommt den Damen und Herren, welche die bisherige Situation beibehalten wollen, höchst ungelegen. Sie wollen den Klassenkampf nicht, sie haben Angst vor ihm. Doch die Welt hat sich weitergedreht. War es früher schlicht falsch, Klassengegensätze zu ignorieren oder zu überbrücken, so ist es heute gefährlich. Die herrschende Klasse ist dabei, die Arbeitenden weltweit in die Armut und Barbarei zu stürzen. Widerstand wird immer mehr zu einer Frage des nackten Überlebens.

Wir alle sind Zeitzeugen einer tiefen Polarisierung, wie sie nur alle paar Jahrzehnte stattfindet. Wie Eisenspäne an Magnetfeldlinien richtet sich die Gesellschaft an den Klassengrenzen aus. Doch SP und WOZ, FDP und NZZ wollen eine Welt ohne lästigen Klassenkampf. Er nützt ihnen nicht, er ist störend, er könnte ihnen und ihren Interessen gefährlich werden. Doch die Realität endet nicht da, wo die Damen und Herren nicht hinzuschauen wagen. Indem sie den Klassenkampf nicht wollen, zementieren sie ihn nur. Will man konsequent keinen Klassenkampf, so muss man ihn beenden.