[dropcap]L[/dropcap]asst uns das Alte abhaken und Platz für etwas Neues schaffen.“ So lautete immer die Botschaft für das neue Jahr. Aber inmitten der knallenden Sektkorken gab es jetzt kein Zeichen von Optimismus bezüglich der Zukunft der herrschenden Klasse und ihrer Strategen.

Im Gegenteil, die Spalten der bürgerlichen Presse sind mit Pessimismus und Vorahnungen gefüllt. Am 28. Dezember veröffentlichte die Financial Times einen Artikel von Gideon Rachman mit dem interessanten Titel: Ramponiert, verschrammt und nervös – die ganze Welt befindet sich in einem Reizzustand. Darin können wir folgendes lesen:
„2015 schien sich ein Gefühl des Unbehagens und der Vorahnung in den wichtigsten Machtzentren der Welt anzusiedeln. Von Peking bis Washington, Berlin bis Brasilia, Moskau bis Tokio waren die Regierungen, Medien und BürgerInnen nervös und kampfbereit. (…) Diese Art weltweiter Unruhe ist ungewöhnlich. In den letzten 30 Jahren und auch davor gab es zumindest eine Weltmacht, die rundum optimistisch war. Am Ende der 1980er erfreuten sich die Japaner immer noch an einem jahrzehntelangen Wirtschaftsaufschwung und kauften weltweit Anlagegüter. In den 1990ern genossen die Amerikaner den Sieg im Kalten Krieg und eine langanhaltende Wirtschaftsexpansion. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts war die EU in einer beschwingten Stimmung, als sie eine Einheitswährung auf den Markt brachte und ihre Mitgliedsstaaten beinahe verdoppelte. Und fast im gesamten letzten Jahrzehnt hat die wachsende politische und wirtschaftliche Macht Chinas weltweit Respekt hervorgerufen. (…)
Im Moment jedoch scheinen alle Grossmächte unsicher – sogar ängstlich – zu sein. Die einzige Ausnahme, der ich in diesem Jahr begegnet bin, war Indien, wo die wirtschaftliche und politische Elite durch den reformistischen Eifer von Premierminister Narendra Modi Auftrieb zu bekommen scheint. (…)

Im Gegensatz dazu schwindet in Japan der Glaube, dass die – als Abenomics bekannten -radikalen Reformen den dortigen Kreislauf von Schulden und Deflation durchbrechen können. Die Unruhe in Japan wird durch wachsende Spannungen mit China verstärkt. Den wichtigsten Eindruck, den ich beim Besuch Chinas Anfang des Jahres mitnahm, ist der, dass es sich hier auch um ein Land handelt, das sich heute weniger stabil fühlt als noch vor einigen Jahren. Die Ära, in der die Regierung problemlos Wachstumsraten von acht Prozent und mehr liefern konnte, ist vorbei. Sorgen über die interne finanzielle Stabilität nehmen zu, wie der Aufruhr an der Shanghaier Börse im Sommer offenbart hat.“

Neue Explosionen im Nahen und Mittleren Osten

Das neue Jahr begann höchst dramatisch. Mit der Hinrichtung von Scheich Nimr al-Nimr, eines bekannten schiitischen Geistlichen und ständigen Kritikers der königlichen Familie Saudi Arabiens. Er war während des arabischen Frühlings an Protesten gegen die Regierung beteiligt, bis er 2012 verhaftet wurde.
Washington betrachtet die Lage mit einer Mischung aus Besorgnis und Hilflosigkeit. Regierungssprecher John Kirby äusserte beruhigende Worte: „Wir werden weiterhin die Verantwortlichen in der gesamten Region drängen, positive Schritte zu unternehmen, um die Spannungen zu beruhigen. Wir glauben, dass diplomatisches Engagement und direkte Gespräche unverzichtbar bleiben.“
Aber während Washington eitel Sonnenschein predigt, giessen die Freunde in Riad literweise Öl ins Feuer und das in einer Region die schon vorher hochexplosiv war. Kirbys Worte erinnern an die Rede eines Vegetariers beim Jahreskongress von Kannibalen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Mann, der diese Rede gehalten hat, der Repräsentant der kannibalistischsten Macht der Welt ist.

Die Flammen, die den gesamten Nahen und Mittleren Osten verschlingen, sind die direkte Folge der kriminellen Invasion des Irak und der fortgesetzten Einmischung des US-Imperialismus in dieser unglücklichen Region. Nachdem die Amerikaner und ihre Verbündeten den Irak destabilisiert und ihn zu einer rauchenden, kriegsgebeutelten Ruine gemacht haben, unterstützten sie reaktionäre Kräfte in Syrien, das jetzt zu einer ernsthaften Bedrohung ihrer Interessen geworden ist. Aber der so genannte „Krieg gegen den Terror“, der angeblich von den USA und seinen Alliierten in den letzten Jahren im Irak geführt wurde, hat genau genommen, zu keinem Ergebnis geführt. Die Behauptung der pathetischen und feigen irakischen Armee, die sich unter der Kontrolle der USA befindet, Ramadi vom IS zurückerobert zu haben, stellte sich als Lüge heraus.

Während ich diese Zeilen schreibe, kontrollieren die Dschihadisten grosse Teile der Stadt (oder was davon übrig geblieben ist) und die Kämpfe toben weiter. Zweifellos wird die irakische Armee letztendlich die Kontrolle über einen Haufen schwelender Ruinen gewinnen. Diese beschämende Farce offenbart die Hohlheit aller prahlerischen Behauptungen seitens des Pentagons, das den Sold der Soldaten bezahlt und ihnen Waffen in die Hände gibt, die sie wegwerfen, sobald sich die erste passende Gelegenheit bietet.

USA, Russland und der Iran

Nachdem die Amerikaner endlich gemerkt haben, welche Gefahr von Kräften ausgeht, die ihrer Kontrolle entflohen sind, suchen sie verzweifelt nach jemanden, der ihnen behilflich sein kann, die Feuer zu löschen, die sie selbst entzündet haben. Aber wer kann das sein? Widerstrebend und murrend, sehen sich die Amerikaner gezwungen, sich an die am wenigsten erwarteten und unliebsamsten aller möglichen Verbündeten zu wenden: An Russland und den Iran.

Es ist noch nicht lange her, als die Amerikaner und ihre NATO-Verbündeten ständig denselben monotonen Choral über die „Isolierung Russlands“ wiederholten. Oh ja! „Russland ist international isoliert”. Das war der Spruch, der tagein, tagaus wiederholt wurde. Aber jetzt ist, wie durch ein Wunder, Russland überhaupt nicht isoliert, sondern wird umworben, gefeiert und mit Lob überschüttet, wenn auch auf eine mürrische, knurrende Art und Weise. „Wir beabsichtigen nicht Russland zu isolieren“, „Wir müssen eine Übereinkunft mit Russland erreichen“, wiederholen sie jetzt regelmässig und hoffen, dass niemand die veränderte Stimmung wahrnimmt.

Das war nicht der einzige todesmutige Salto Washingtons im Jahr 2015. Ein weiterer noch erstaunlicherer Sprung im diplomatischen Zirkus wurde in der Beziehung zum Iran vollzogen. Derselbe Iran, der, genau wie Russland, dazu verdammt war die Rolle eines internationalen Parias zu spielen, der Strafsanktionen unterworfen und kurz davor war, das liebenswürdige Augenmerk der US-Luftwaffe zu erhalten, ist jetzt zu einem Freund der USA geworden. Und wie wir alle wissen, ist ein Freund in der Not ein wirklicher Freund!

Der Grund für diese erstaunliche diplomatische Akrobatik ist nicht schwer zu verstehen. Die einzigen ernsthaften Militäraktionen gegen die Dschihadisten in Syrien waren die von Russland in Zusammenarbeit mit der syrischen Armee von Baschar al-Assad durchgeführten. Und die einzigen ernsthaften Militäraktionen gegen den IS im Irak (abgesehen von denen der Kurden, die nur in ihren eigenen Gebieten kämpfen), werden nicht von der so genannten irakischen Armee und ihren US-Unterstützern durchgeführt, sondern von den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen und Teilen der iranischen Armee.

In der Praxis wurden die Amerikaner gezwungen, diese Fakten anzuerkennen und die Forderung Russlands und des Iran, dass Assad in absehbarer Zukunft an der Macht bleiben muss, zu akzeptieren. Ein Bericht des bekannten amerikanischen Investigativ-Journalisten Seymour Hersh im London Review of Books sagt aus, dass „das US-Militärkommando (American Joint Military Staff) Sicherheitsinformationen aus Deutschland, Russland und Israel an die syrische Armee weitergegeben hat“.

Das passt zu den Stellungnahmen des früheren Direktors des US-Verteidigungsnachrichtendienstes (DIA), Michael Flynn, der demselben Magazin mitteilte, dass sein Dienst eine Anzahl Nachrichten verschickt habe, in denen vor den Auswirkungen eines Sturzes von Assads Regime gewarnt wird. Sein Dienst begann (wahrscheinlich ohne die Zustimmung der Politik) das Regime mit Geheimdienstinformationen zu versorgen, um den Krieg gegen die „gemeinsamen Feinde“ voranzubringen.
Die US-Amerikaner und ihre Verbündeten wurden durch die Umstände gezwungen, ihre lächerliche Vorstellung von einer “gemässigten islamistischen Opposition” in Syrien aufzugeben. Diese „gemässigte Opposition“ besteht, wie jeder weiss, aus dschihadistischen Organisationen wie die Al Nusra Front, die von den Amerikanern unterstützt wurde und die der syrische Ableger der Al Qaida ist. Ein Teil des US-Imperialismus (die CIA) möchte diese Politik fortführen, steht aber in einem direkten Widerspruch zum Strategiewechsel der Regierung in den Beziehungen zu Russland und dem Iran. Mittlerweile bombardieren die Russen weiterhin alle dschihadistischen Kräfte nach Herzenslust und achten in keiner Weise auf das Protestgeheul aus Washington.

Saudis und Türken

Diese Risse in Washington lassen einen Eindruck von Konfusion und Unentschlossenheit entstehen, der in der Person von Präsident Obama personifiziert ist. Es bestehen keine Zweifel, dass der Abschuss eines russischen Flugzeuges durch die Türkei eine beabsichtigte Provokation seitens Erdogans war, mit der Absicht, einen Keil zwischen den USA und Russland zu treiben. Wie wir vorhergesagt haben, ist dieses Manöver komplett gescheitert.
Die Hinrichtung von Nimr al-Nimr, ein Justizmord, der von der königlichen Clique in Saudi Arabien befohlen wurde, hat die gleichen Intentionen. Es war eine bewusste Provokation, um die religiösen Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten anzuheizen und die Regierung in Teheran zu militärischen Aktionen gegen Saudi Arabien zu bewegen, welches dann die Amerikaner um Hilfe bitten würde.

Die direkte Antwort auf diesen Justizmord war die Erstürmung der saudischen Botschaft in Teheran. Saudi Arabien brach sofort seine diplomatischen Beziehungen zum Iran ab. Das alles war sorgfältig geplant. Die Ereignisse sind schrittweise verlaufen, wie die Schritte eines Balletttänzers. Aber dieses Ballett ist der Todestanz. Es war der verzweifelte Akt eines Regimes, das sich in grossen Schwierigkeiten befindet und vor dem Problem steht, vielleicht gestürzt zu werden.
Die saudischen Verbrecher haben sich im Jemen verrechnet, wo sie an einem aussichtslosen Krieg beteiligt sind. Jetzt haben sie den Zorn der Schiiten geschürt, die fast zwanzig Prozent der saudischen Bevölkerung stellen und zu den ärmsten und am meisten unterdrückten Schichten gehören. In saudischen Städten ist es zu Massendemonstrationen gekommen, auf denen Parolen wie „Tod dem Hause Saud!“ zu hören waren. Nachdem sich die herrschende saudische Clique übernommen und den Wind gesät hat, wird sie den Sturm ernten.

Flüchtlingskrise

Der Pseudo-Marxist Hobsbawn wiederholte eine Meinung, die schon früher viel besser von Kautsky vorgebracht worden war, als er behauptete, dass im Zeitalter der Globalisierung nationale Grenzen keine Bedeutung mehr haben würden und Kriege der Vergangenheit angehörten. Stattdessen zeichnet sich das 21. Jahrhundert bisher durch endlose Kriege, Gewalt und nationale Konflikte jeder Art aus. Der Nahe und Mittlere Osten sind dafür nur ein Beispiel.
Das blutige Chaos in Syrien verursacht eine massive Vertreibung von Menschen, wie wir sie seit dem Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr gesehen haben. Tausende und Abertausende frierender, erschöpfter und hungriger Flüchtlinge schlagen mit ihren blossen Händen gegen den Stacheldraht, der auf die Schnelle von den Ordnungskräften des zivilisierten Europas errichtet wurde. Nichts kann die zynische Verlogenheit der europäischen Bourgeoisie besser illustrieren als ihre Reaktion auf die Flüchtlingskrise.

Über viele Jahre hinweg hat man den Menschen in Europa und den USA die Lüge eingetrichtert, jeder imperialistischen Aggression läge die Motivation echter humanitärer Belange zugrunde. Diese „Belange“ haben die grösste humanitäre Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg verursacht. Nachdem die europäischen Regierungen nicht wenig zum Chaos in Syrien beigetragen haben, sind sie jetzt damit beschäftigt, den besten Weg zu finden, um die Tore für die unglücklichen Kriegsopfer zu schliessen.
Auf der anderen Seite des Atlantiks ist die Lage nicht besser. Vor einhundert Jahren gravierte Amerika die folgenden berühmten Sätze als Inschrift auf die Freiheitsstatue:

„Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
Die bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!
Sende sie, die Heimatlosen, vom Sturm Gestossenen zu mir. Hoch halte ich meine Fackel am goldenen Tor.“

Heute klingen diese Worte wie grausame Ironie. Das gleiche Amerika errichtet noch höhere Zäune, um die armen und geknechteten Massen auf der anderen Seite des Rio Grande zu halten. Der führende Bewerber der Republikaner für die Präsidentschaftswahl ruft öffentlich dazu auf, alle Muslime an der Einreise in die USA zu hindern. Dies ist eine authentische Stimme des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, die Stimme der unverhohlenen Reaktion, des Chauvinismus, der Fremdenfeindlichkeit und des kaum verborgenen Rassismus. Statt der revisionistischen Utopie von einer Welt ohne Grenzen, werden überall nationale Barrieren verstärkt. Nicht nur an den Aussengrenzen Europas, sondern auch zwischen Ländern des Schengen-Abkommens werden Grenzkontrollen eingeführt. Das nette, demokratische Schweden führt Kontrollen für Reisende aus dem netten, demokratischen Dänemark ein. Nichts von dem Traum eines vereinten Europas, das auf einer kapitalistischen Grundlage immer unmöglich war, bleibt.

Europa in der Krise

Die Stimmung in Europa ist nüchtern. Das Jahr 2015 hat durch zwei blutige Terroranschläge in Paris zu Beginn und am Ende des Jahres Narben hinterlassen. Die BürgerInnen von München und Brüssel konnten das neue Jahr aus Angst vor terroristischen Anschlägen nicht in gewohnter Weise feiern. In Paris wurde das Feuerwerk abgesagt. Angst und Ungewissheit sind überall gegenwärtig.
Alle seriösen Ökonomen erwarten, dass der Weltwirtschaft eine weitere Rezession bevorsteht, welche in Asien, als Folge der starken Verlangsamung der mächtigen chinesischen Wirtschaft, beginnen kann. Sie könnte aber auch gleichzeitig in Europa ausbrechen. Deutschland, die frühere Lokomotive des europäischen Wirtschaftswachstums, ist ins Stocken geraten und durch die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten und anderen Kriegszonen in eine Krise gestürzt.

Der Euro, der zusammen mit dem Schengen-Abkommen als Grundlage für eine weitere ökonomische Integration angedacht war, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Ein gähnender Abgrund hat sich zwischen Deutschland und den Ländern im Süden Europas aufgetan, während die Flüchtlingskrise einen Keil zwischen Deutschland und den Ländern im Osten getrieben hat. Der lange Qualzustand Griechenlands wird sich fortsetzen, weil nichts, aber auch gar nichts, gelöst worden ist. Der Austritt Griechenlands aus der Eurozone ist nur eine Frage der Zeit.

Das wiederum wird der Grund für noch stärkere Schmerzen und noch stärkeres Leid für die Menschen in Griechenland sein und kann als Zünder dienen, der weitere Länder in Richtung Austritt treibt. Britannien wird ein Referendum abhalten, in dessen Folge das Vereinigte Königreich die EU verlassen könnte. Eine Anti-EU-Stimmung baut sich in Frankreich und anderen Ländern auf. Die Zukunft des Euro, aber auch die der EU selbst steht in Frage.

Politische Gärung

Der Pessimismus der Bourgeoisie ist wohlbegründet. Aber er widerspiegelt nur eine Seite der Medaille. Die Krise des Kapitalismus erzeugt zwangsläufig sein Gegenstück: Die Geburt eines neuen Geistes der Revolte, welcher allein der Menschheit die Hoffnung für die Zukunft bieten kann. Langsam aber sicher erwacht das Bewusstsein der Massen. Und wenn das zarte Grün der wirtschaftlichen Erholung ein Hirngespinst in der Fantasie der Ökonomen ist, so sind die ersten Symptome für die Wiederbelebung einer revolutionären Stimmung real und spürbar.

Es ist ein grundlegender Lehrsatz des dialektischen Materialismus, dass das menschliche Bewusstsein immer hinter den Ereignissen zurückbleibt. Aber früher oder später holt es mit einem Paukenschlag auf. Das genau ist eine Revolution. Und in Britannien werden wir Augenzeugen des Beginns einer Revolution. Über Nacht ist die gesamte Gleichung umgeformt worden. Das allein ist ein Symptom für grundlegende Veränderungen, die in der Gesellschaft stattfinden. Scharfe Drehungen und plötzlicher Wandel sind in dieser gegenwärtigen Lage inbegriffen.

Es ist wahr, dass das Bewusstsein zu einem grossen Teil aus Erinnerungen an die Vergangenheit geformt wird. Es wird eine Zeit brauchen, bis die alten Illusionen bezüglich des Reformismus aus dem Bewusstsein der Massen verbannt sind. Aber unter den Hammerschlägen der Ereignisse wird es plötzliche und scharfe Veränderungen im Bewusstsein geben. Aber wehe denen, die sich auf das Bewusstsein der Vergangenheit stützen, wenn dieses nicht rückrufbar verschwunden ist! MarxistInnen müssen sich auf den lebendigen Prozess und die Perspektiven für den kommenden Zeitraum stützen, der keine Ähnlichkeiten mit den Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, aufweist.

Um einen Weg aus der Krise zu finden, stellen die Massen eine Partei nach der anderen auf die Probe. Die alten Führer und Programme werden analysiert und verworfen. Die Parteien, die gewählt werden, verraten die Hoffnungen der Menschen, weil sie entgegen ihren Wahlversprechen Kürzungen durchführen und finden sich so selbst schnell diskreditiert. Einstige Mainstream-Ideologien werden verachtet. Ehemals beliebte Führer werden gehasst. Scharfe und plötzliche Veränderungen stehen auf der Tagesordnung.

Die Wut auf die politischen Eliten, die Reichen, Mächtigen und Privilegierten wächst. Diese Reaktion auf den Status quo, welche die embryonalen Samen einer revolutionärer Entwicklung enthält, kann auch noch andauern, wenn die Wirtschaft anfängt Zeichen einer Verbesserung aufzuweisen. Die Menschen glauben nicht länger, was die PolitikerInnen sagen oder versprechen. Es kommt zu einer wachsenden Desillusionierung gegenüber dem politischen Establishment und den politischen Parteien im Allgemeinen. Es besteht ein allgemeines und tief sitzendes Gefühl über die wirtschaftliche Misere in der Gesellschaft. Aber es fehlt ein Mittel, das in der Lage ist, diesem Gefühl einen organisierten Ausdruck zu verleihen.

In Frankreich, wo die Sozialistische Partei bei den letzten Wahlen eine deutliche Mehrheit gewann, hat Präsident Francois Hollande den niedrigsten Beliebtheitsgrad aller Präsidenten seit 1958. In Griechenland wurden wir Zeuge des Niedergangs der PASOK und den Aufstieg von SYRIZA. In Spanien erleben wir den Aufstieg von PODEMOS, eine Bewegung, die aus dem Nichts kam und zusammen mit ihren Verbündeten 69 Sitze im spanischen Parlament gewann und zu einer echten Oppositionspartei wurde.

Wir sehen den gleichen Prozess beim jüngsten Referendum in Irland. Über Jahrhunderte war Irland eines der Länder in Europa, in denen der Katholizismus eine enorme Macht hatte. Vor nicht allzu langer Zeit dominierte die katholische Kirche sämtliche Lebensbereiche. Das Ergebnis des Referendums über die Homo-Ehe, bei dem 69% mit Ja stimmten, war ein Schlag gegen die römisch-katholische Kirche. Es war ein enormer Protest gegen deren Macht und Einmischung in das politische und private Leben der Menschen. Das Referendum bedeutet eine fundamentale Veränderung in der irischen Gesellschaft.

In Britannien gewann, allen Unkenrufen zu Trotz, Jeremy Corbyn die Wahlen zum Vorsitzenden der Labour Party. Das kam einem politischen Erdbeben gleich und veränderte die gesamte Lage in Britannien praktisch über Nacht. Diese Entwicklung war nach den Ereignissen in Schottland vorhersehbar, wo sich die Revolte gegen das Establishment im rasanten Wachstum der Scottish Nationalist Party (SNP) widerspiegelte. Es handelte sich hierbei nicht um eine Bewegung nach rechts, sondern nach links. Es war kein Ausdruck von Nationalismus, sondern glühender Hass auf die verweichlichte Elite, die in Westminster regiert. Die Labour Party wird wegen ihrer feigen Politik der Klassenkollaboration als Teil dieses Establishments gesehen.

Jahrzehntelang war die Labour Party unter einer rechten Führung eine wesentliche Stütze des bestehenden Systems. Die herrschende Klasse wird die Änderung dieser Situation nicht ohne einen erbitterten Kampf hinnehmen. Die erste Verteidigungslinie des kapitalistischen Systems ist die Labour-Fraktion im Parlament (PLP) selbst. Die Vertreter der blairistischen Mehrheit in der Fraktion sind direkte und bewusste Agenten der Banker und der Kapitalisten in diesem Kampf. Das erklärt ihre fanatische Entschlossenheit, Jeremy Corbyn um jeden Preis loszuwerden. Der Boden für eine Spaltung der Labour Party ist bereitet und das wird zu einer vollkommen neuen Lage in Britannien führen. Dies alles ist ein Ausdruck tiefer Unzufriedenheit, die in der Gesellschaft besteht und nach einem politischen Ausdruck sucht. In ganz Europa besteht die Angst, dass es sich bei der Austeritätspolitik nicht nur um eine zeitweise Anpassung handelt, sondern um einen permanenten Angriff auf den Lebensstandard. In Ländern wie Griechenland, Portugal und Irland hat diese Politik bereits zu tiefen Einschnitten bei den Nominallöhnen und den Renten geführt, ohne dass das Defizitproblem gelöst wurde. So sind alle Leiden und Entbehrungen der Menschen vergeblich gewesen. Überall sind die Armen ärmer und die Reichen reicher geworden.

Diese Prozesse sind nicht auf Europa beschränkt. Die US-Präsidentenwahlen weisen eine interessante Entwicklung auf. Es ist natürlich unmöglich, den Ausgang wegen der extrem instabilen und kritischen Nahtstelle der US-Politik mit Sicherheit vorherzusagen. Der Medienzirkus hat sich fast ausschliesslich auf die Person des Republikaners Donald Trump konzentriert. Es scheint unwahrscheinlich, dass die herrschende Klasse in den USA ihre Angelegenheiten in die Hände eines Clowns legen würde. Aber das hat sie mindestens zwei Mal in der jüngsten Vergangenheit getan. Da stellt Hilary Clinton sicherlich ein geringeres Risiko vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus dar.

Aber wesentlich bedeutender als Trump oder Clinton war die massive Unterstützung für Bernie Sanders, der offen von Sozialismus spricht. Das Auftreten von Bernie Sanders als Herausforderer für die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten ist ein Symptom für die tiefe Unzufriedenheit und die Gärung in der Gesellschaft. Seine Angriffe gegen die Milliardärsklasse und sein Ruf nach einer „politischen Revolution“ findet bei Millionen Menschen Nachhall und zehntausende kommen zu seinen Auftritten.

Das Wort “Sozialismus” wird heute in den US-Massenmedien wesentlich häufiger verwendet. Eine Umfrage aus dem Jahre 2011 fand heraus, dass 49% der 18 bis 29jährigen ein positives Bild vom Sozialismus und nur 47% ein positives Bild vom Kapitalismus haben. Eine aktuellere Umfrage vom Juni 2014 hatte als Ergebnis, dass 47% aller AmerikanerInnen für einen Sozialisten/eine Sozialistin stimmen würden, bei den unter 30jährigen waren es sogar 69%.
Eine grosse Anzahl Menschen, darunter viele Jugendliche, interessierten sich für Sanders Botschaft. Es ist wahr, dass diese mehr der skandinavischen Sozialdemokratie ähnelt als dem wirklichen Sozialismus. Trotzdem ist dies ein bedeutendes Symptom dafür, dass sich in den USA etwas ändert.
Die Situation in Russland unterscheidet sich von der im restlichen Europa. An der Oberfläche scheint es paradox, dass Putin aus den Krisen in der Ukraine und Syrien gestärkt heraustritt. Die Versuche des Westens, ihn zu isolieren, sind kläglich gescheitert. In Syrien ist er jetzt derjenige, der den Ton angibt. Und selbst wenn die USA auf die Aufrechterhaltung von Sanktionen wegen der Krim und der Ukraine bestehen, können wir mit Sicherheit vorhersagen, dass ihre europäischen Verbündeten diese aufheben werden. Die krisengeschüttelte europäische Wirtschaft braucht den russischen Markt und russisches Gas, genauso wie die europäische Bourgeoisie russische Hilfe benötigt, um das Chaos in Syrien zu beseitigen und die unendliche Flut von Flüchtlingen zu stoppen.

Wenn wir aber die Lage genauer betrachten, wird sich herausstellen, dass Russland nicht so stabil ist, wie es aussieht. Die russische Wirtschaft fällt aufgrund der sinkenden Ölpreise und der westlichen Sanktionen weiter. Die Reallöhne gehen zurück. Die Mittelklasse kann nicht länger schöne Wochenenden in London und Paris verbringen. Sie grollt, unternimmt aber nichts. Die russischen ArbeiterInnen wurden durch die offizielle Propaganda über die Ukraine beeinflusst. Sie waren über die Aktivitäten ukrainischer Faschisten und Ultranationalisten schockiert und Putin machte sich ihre natürlichen Sympathien für die Brüder und Schwestern in der Ost-Ukraine zu Nutzen.

Putin wird wahrscheinlich für weitere Zeit an der Macht bleiben, aber alles ist begrenzt und am Ende wird die Geschichte immer ihre Rechnung präsentieren. Die Wirtschaftskrise hat zu einem starken Rückgang des Lebensstandards vieler ArbeiterInnen, besonders ausserhalb von Petersburg und Moskau, geführt. Die Massen sind geduldig, aber ihre Geduld hat bestimmte Grenzen. Wir sahen den Beweis dafür, als Ende 2015 die FernfahrerInnen streikten. Ein kleines Symptom vielleicht, aber trotzdem ein Symptom, dass früher oder später die Unzufriedenheit der russischen ArbeiterInnen ihren Ausdruck in ernsthaften Protesten findet.

Düstere Aussichten

Im Grunde reflektieren all die genannten Phänomene die Tatsache, dass das kapitalistische System an seine Grenzen gekommen ist. Die Globalisierung, hat sich, nachdem sich selbst erschöpft hat, in ihr Gegenteil verkehrt. War sie einst ein mächtiger Faktor für das Wachstum, so trägt sie jetzt dazu bei, das schlecht fundierte Bauwerk abzureissen. Es ist eine Tatsache, dass die so genannte Wiederbelebung, die überhaupt keine Wiederbelebung ist, einen derart schwachen und kraftlosen Charakter hat, dass jeder politische, wirtschaftliche oder militärische Schock ausreicht, um die Erholung zu einem schlagartigen Stillstand zu bringen.

Die Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft bedroht die gesamte Welt. China importierte Unmengen an Waren aus Ländern wie Brasilien. Jetzt schrumpft die brasilianische Wirtschaft um 4,5 Prozent. Viele andere so genannte BRICS-Länder sind in einer ähnlichen Lage. Die Prognosen der Sprecher des Kapitals über die Zukunft werden immer pessimistischer. Das Wall Street Journal zitiert Adam Parker, Stanley Morgans Aktien-Chefstrategen in den USA: „Wir glauben, dass uns wahrscheinlich ein wechselhaftes Jahr mit niedrigen Renditen bevorsteht und viele andere sind ebenfalls dieser Meinung.“

Hyundai Motors Topmanager sagte, die Aussichten für dieses Jahr seien “nicht viel versprechend“. Der Vorstandsvorsitzende Chung Mong-koo teilte dem Aufsichtsrat mit, dass das Wachstum des Autoproduzenten im Ausland 2015 durch die schwache Weltwirtschaft, die wirtschaftliche Verlangsamung auf dem zweitgrössten Automarkt China und dem Nachfragerückgang in den Schwellenländern eingeschränkt wurde. „Wenn man die wichtigsten Indikatoren berücksichtigt, sind die Aussicht für den Automarkt im nächsten Jahr auch nicht glänzend“, fügte er hinzu. Weitere Beispiele können nach Belieben ergänzt werden.

Im am Anfang erwähnten Artikel schliesst Gideon Rachman die pessimistischsten Schlüsse:
„Durch die weltwirtschaftliche Eintrübung fühlt sich das politische System wie ein Patient, der nach einer schweren Krankheit, die mit der Finanzkrise von 2008 begann, für seine Genesung kämpft. Wenn es keine weiteren schlimmen Rückschläge gibt, könnte die Genesung allmählich voranschreiten und die schlimmsten politischen Symptome könnten abklingen. Der Patient ist jedoch verwundbar. Ein weiterer schwerer Schock, wie ein bedeutender Terroranschlag oder ein ernsthafter wirtschaftlicher Abschwung, könnte zu enormen Schwierigkeiten führen.“

Hier spricht die Stimme eines Strategen des Kapitals. Diese schauen sorgenvoll in die Zukunft. Und von ihrem Klassenstandpunkt aus gesehen, liegen sie nicht falsch. Das Jahr 2016 wird weitere Turbulenzen, Wirtschaftskrisen und Angriffe auf den Lebensstandard, weitere Ungleichheit und Ungerechtigkeiten, weiteres Blutvergiessen und Chaos hervorrufen.
Das neue Jahr wird das alte wiederholen, aber mit einer noch grösseren Intensität. Die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und Asien werden den gleichen Tsunami menschlichen Elends erzeugen und weiterhin nach Europa strömen, wo er auf eine Barriere aus Stacheldraht und Unmenschlichkeit trifft.

Der Terrorismus, der sich weltweit wie eine Seuche ausbreitet, ist selbst ein Symptom für das Wesen des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Weitere Terroranschläge sind unvermeidbar. Die Terroristen können nicht durch Polizeimassnahmen aufgehalten werden. Es gibt auf dieser Welt nicht genug PolizistInnen, die in der Lage sind, mit einer grossen Anzahl von entschlossenen und fanatischen Individuen, die beabsichtigen unbewaffnete und wehrlose ZivilistInnen zu töten, fertig zu werden.
Als Lenin schrieb, dass der Kapitalismus ein Schrecken ohne Ende ist, sprach er die Wahrheit. Es ist genauso nutzlos sich über diese Schrecken zu beschweren wie über die Schmerzen bei der Geburt eines Kindes. Es ist die Aufgabe der MarxistInnen nicht über die unvermeidlichen Folgen des kapitalistischen Verfalls zu stöhnen. Das überlassen wir den Priestern und PazifistInnen.

Es ist unsere Aufgabe unermüdlich zu arbeiten und den ArbeiterInnen und der Jugend die Gründe für diese Schrecken aufzuzeigen und zu erklären, wie das Problem ein für alle Mal beseitigt werden kann. Das kann nur durch eine radikale Umwandlung der Gesellschaft erreicht werden. Drastische Probleme benötigen drastische Lösungen. Nur die sozialistische Revolution kann die Probleme lösen, vor denen die Menschen stehen. Das ist der einzige Grund, für den es sich heute zu kämpfen lohnt.

London, 4. January 2016