Massenbewegungen werden zahlreicher, als Protest gegen Wahlkandidaten, gegen Regierungen oder ihre Gesetze. Auch in der Linken wird behauptet, die Ära der Parteien sei beendet. Am Beispiel der SchülerInnenbewegung erklären wir, warum die Selbstorganisation auf revolutionärer Basis so relevant ist wie eh und je.

Der #KeLoscht-Demonstrationstag vom 5. April dieses Jahres war die grösste SchülerInnenmobilisierung seit dem Irakkrieg. Diese erfolgreiche Aktion ist keine isolierte: Seit etwa vier Jahren bilden sich an verschiedenen Schulen Gruppen und Komitees, die sich über Sparmassnahmen empören und sich dagegen wehren wollen. Kurz: Ein breiteres politisches Bewusstsein ist erwacht.

Bild: Vollversammlung bei Rektoratsbesetzung an der Uni Genf, November 2016. © CUAE

Die Art der Selbstorganisation dieser Widerstandsbewegungen hat verschiedene Formen angenommen. Nachdem der #KeLoscht-Tag nun der Vergangenheit angehört, ist es an der Zeit, die Erfahrungen auszuwerten.

Erfolge und Misserfolge

Das Hauptziel, die Rücknahme aller Sparmassnahmen im Bildungsbereich, wurde in keinem Kanton erreicht. Die Schuld dafür liegt weniger bei den kämpfenden SchülerInnen, als bei den wirtschaftlichen Bedingungen, unter welchen Sparpolitik aktuell durchsetzt wird.

Die grössten Erfolge der Bewegung sind klar die Mobilisierung und die Projekte zur Selbstorganisation, die an Schulen und darüber hinaus entstanden sind. Diese haben nicht nur gezeigt, dass es möglich ist, sich gegen die antisoziale Politik der Bürgerlichen zu wehren, sondern dass das vorherrschende politische Bewusstsein bei einem Teil der heutigen Jugend bereits weit fortgeschritten ist.

Es gibt in der Schweiz keinerlei Tradition von kämpferischen SchülerInnen-Gewerkschaften. Die JUSO ist die einzige nationale Organisation, die auf nationaler Ebene die politischen Interessen dieser Schicht artikulieren könnte. Die lokalen SchülerInnenvertretungen („SO“) sind nur lose koordiniert und wurden bisher nie zu politischen Fragen gedrängt.

Weil Bündnisse und Kollektive, die organisierend auftreten erst im Entstehen sind oder nur improvisiert zustande kommen, werden sie regelmässig mit Fragen konfrontiert:

Offene Fragen

In Zürich wird die Mobilisierung von SchülerInnen-Kollektiven organisiert, die ihren Kampf klar „politisch“ wollen. Ihre „Unabhängigkeit“ ist ihnen wichtig. Als die offiziellen SO zur nationalen Demo mobilisierten – unter einem völlig undemokratisch aufgestellten Programm –, standen die Kollektive vor dem Dilemma: Mitmarschieren? Mitmobilisieren? eigene Aktionen? Wer soll das entscheiden? Dies sind Fragen zur Wahl der Organisationsform und der politischen Ausrichtung der Bewegung. Beides hängt zusammen. Wollen wir diese Fragen beantworten, müssen wir uns im klaren sein, in welchem Kontext sich unser Kampf heute abspielt.

Die Krise des Kapitalismus

Wieso häufen sich SchülerInnenbewegungen? Wieso waren die letzten Demos im Herbst 2016 und Frühling 2017 so gross?

Die Finanzkrise von 2008 hat eine weltweite Wirtschaftskrise eingeläutet. Der Grund dafür sind Widersprüche im Kapitalismus, diese hier zu erläutern, würde den Rahmen sprängen.

Ausdruck der Krise sind Massenbewegungen, wie 2011 die Occupy Wall Street in den USA, die Proteste der GriechInnen gegen Rettungspakete im 2015/16 oder Tausende FranzösInnen, die 2016 gegen die Arbeitsmarktreform demonstrierten. Diese Bewegungen ereignen sich vor dem Hintergrund der weltweiten Krise; das gilt auch für  „unsere“ Bewegung. MarxistInnen nennen die allgemeine Situation, in der sich spezifische Phänomene abspielen, die „objektive Bedingungen“. Die SchülerInnenbewegungen stellen das „Besondere“ (die spezifischen Phänomene) dar.

Es ist kein Zufall, dass die erste Antwort auf Austeritätspolitik von der Jugend kommt. Europaweit sehen wir, dass die jüngere Generation als erste auf eine schlagfertige Reaktion auf die steigende Ungerechtigkeit pocht.

Betrachten wir die „objektiven Bedingungen“, dürfen wir nicht vergessen, dass sich die aktuelle Krise laufend verschärft. Ein baldiges Ende der Sparmassnahmen ist nicht in Sicht. Klar ist, dass Austerität und der Kampf dagegen politische Fragen sind.

Ein politischer Ausdruck

Die SchülerInnenbewegungen sind ein klarer Ausdruck der Entwicklung des Bewusstseins eines Teils der Jugend. Dieses Bewusstsein verändert sich als Reaktion auf die Folgen der Krise.

Das Bewusstsein entwickelt sich jedoch nicht geradlinig, sondern sprunghaft: Die Jugend mag das Gefühl hegen, dass etwas schlecht läuft, dass das System nicht mehr richtig funktioniert. Ihr Unmut kann ausbrechen, wenn die formulierten Forderungen einer Bewegung den Zusammenhang zwischen der persönlichen Situation und objektiven Bedingungen aufzeigen.

Der Mobilisierungserfolg einer Demo und die Schlagkräftigkeit des Protestes zeigen sich darin, dass zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Forderungen gestellt werden, in denen die Lohnabhängigen und die Jugend zusammen finden und für die sie sich engagieren wollen.

Dank der Mobilisierung und ihrer Message gelangt eine grössere Zahl von Leuten zum Verständnis, dass man sich nur durch gemeinsamen Widerstand gegen Abbau wehren kann.

Hier wird ersichtlich, dass die Übereinstimmung von „subjektivem Faktor“ (der Gruppe an Personen, welche die Demo organisiert) und „objektivem Faktor“ (den Problemen der Leute) ein wichtiges Element ist. Nur so kann sich das Potential des Protestes ganz entfalten.

Demokratische Bewegung

Die Schlagkraft einer Bewegung hängt direkt davon ab, wie viele Personen sich für die gewählten Forderungen engagieren wollen. Deshalb ist die Entscheidungsfindung (betreffend Forderungen) innerhalb der Bewegung einer der wichtigsten Aspekte. Trotzdem wird dieses Thema oft als eine rein praktische Frage angegangen, über die nicht länger nachgedacht wird. Das sollten wir aber tun, denn die Frage nach interner Demokratie ist auch die Frage nach dem Wettstreit der Ideen und nach der Position, die bereits organisierte politische Kräfte innerhalb der Bewegung einnehmen dürfen.

Um zu garantieren, dass die Ansichten von allen Teilnehmenden angehört werden, müssen die Diskussionen über Ziel und Plan der Bewegung in demokratischen Versammlungen geführt werden. Am besten geeignet sind im Vornherein angekündigte Vollversammlungen einer Schule oder eines Studienganges, wo die Forderungen einer Bewegung und eine gemeinsame Praxis beschlossen werden.

Vollversammlungen sind immer wieder aufgekommen, wenn sich Leute spontan entschlossen haben, gemeinsam zu kämpfen. Weltweite Beispiele sind die „Asambleas Populares“ in Mexiko, die Fakultätsversammlungen gegen das Loi-Travail in Frankreich oder Streikversammlungen in Betrieben. Die Vollversammlung hat sich als die beste, weil demokratischste Form der kollektiven Meinungsfindung erwiesen. Alle Meinungen und Vorschläge, von organisierten wie unorganisierten Personen, werden dort diskutiert. Über die verschiedenen Vorschläge wird demokratisch abgestimmt.

So wird garantiert, dass jene Ideen, die von einer Mehrheit der engagierten Personen vertreten werden, zu den Ideen der ganzen Bewegung werden. Dazu kommt, dass es Dank der Diskussion nachvollziehbar wird, wieso man sich für die jeweilige Forderung oder Aktionsform entschieden hat und nicht für ein andere.

Nur so kann sich die Bewegung absichern, dass Entscheidungen nicht einfach von der am besten organisierten Gruppe getroffen werden (sprich einer Partei oder Gewerkschaft) oder von selbsternannten Kleingruppen angeführt wird, deren Vorstellungen nicht denen der ganzen Bewegung entsprechen. Was zählt ist, dass ein Vorschlag die Mehrheit der Anwesenden überzeugen konnte. Die Richtigkeit der Entscheide wird im Folgenden in der Praxis getestet.

Ein Beispiel aus der Uni Genf: Im Kampf gegen die Studiengebührenerhöhung (Herbst 2016) schlug der Rektor in den Verhandlungen immer wieder neue faule Kompromisse vor. Die

Kantonsschulplenum stimmt über Streik ab. Herbst 2015

VertreterInnen der Bewegung konnten nicht erpresst werden, denn sie mussten sich nach den Forderungen richten, welche die studentische Vollversammlung verabschiedet hatte. Nur eine erneute Versammlung konnte einen neuen Kompromiss gutheissen.

Diese Organisationsform gab der Bewegung eine grössere Schlagkraft. Der Rektor sah sich nicht den individuellen StudentInnen-Vertretern gegenüber, sondern den durch sie repräsentierten Interessen eines Grossteils der Studierenden. So sah er sich gezwungen, die Erhöhung zurückzunehmen.

Verantwortung übernehmen

Da nicht ständig Vollversammlungen einberufen werden können, kann in der Zwischenzeit eine gewählte Vertretung Aufgaben übernehmen. Dieses Problem stellt sich spätestens bei der ersten Medienanfrage: Wer spricht? Welche Meinung wird vertreten?

Eine solche Vertretung muss von der Vollversammlung gewählt und ihre Aufgaben klar definiert werden.meistens sind das Umsetzung der Beschlüsse und Medienarbeit. Nimmt sie ihre Aufgaben nicht wie beschlossen wahr, kann sie abgewählt werden. Das ist „Rechenschaftspflicht“. Sie gewährleistet die Kontrolle durch die Basis.

Diese beiden Elemente, demokratisch verabschiedete Forderungen und Vorgehen sowie eine gewählte Vertretung, geben der Bewegung Schlagkraft und Effizienz.

Eine funktionierende, regelmässige Vollversammlung ist nicht nur ein gutes Mittel, um Grabenkämpfe zwischen Fraktionen und Gruppierungen auszugleichen. Ehrliche politische Diskussionen und gemeinsame Entscheide sind der Katalysator, der aus den einzelnen Elementen der Bewegung eine mächtige geeinte Kraft formieren kann.

Wellenreiten oder Aufbau

Als Revolutionäre muss unsere Aktivität beim Aufbau eines möglichst schlagkräftigen Widerstands beginnen, darf aber da nicht aufhören. Nur ein Kampf, der sich seiner Position in den Widersprüchen des Systems bewusst ist, kann seine Wirkung zielgerichtet einsetzen. Deshalb ist eine korrekte Analyse der wirtschaftlichen Situation nötig.

So passiert es uns auch nicht, isolierte Massenbewegungen zu vergöttern. Das heisst nicht, dass wir sie geringschätzen. Als aktueller Ausdruck eines Bewusstseinsprungs behalten sie ihre Wichtigkeit.

Ein grundlegender Wesenszug von Bewegungen ist gerade ihr Kommen und Gehen. Die Aktivität von so vielen Menschen in einer Bewegung kann kein Dauerzustand sein, denn sie kostet viel Energie und Zeit.

Trotzdem dürfen sich Revolutionäre bei diesen Ereignissen nicht mit „Unterstützung und Solidaritätsarbeit“ begnügen. In der Frage der Organisation und der internen Demokratie leisten wir einen wichtigen Beitrag, indem wir die Erfahrungen und Traditionen aus den vergangenen Kämpfen (wie eben die der Vollversammlungen) hineintragen und mithelfen, sie auf die spezifische Bewegung anzupassen. Innerhalb der Bewegung und ihrer Strukturen vertreten wir klar eine politische Position, die aus der oben erklärten Analyse der aktuellen Situation die nötigen Konsequenzen zieht und setzen wir uns dafür ein, dass diese Ansichten im Innern der Bewegung offen diskutiert werden.

Dass sich Revolutionäre über die Bewegungen und die einzelnen Schulen hinaus organisieren müssen, ist nicht nur eine organisatorische Frage (Beenden der Schule, Wahl des Bildungsweges etc.), es ist schlussendlich eine Frage der politischen Basis. Im Zuge der Radikalisierungswellen, die in der nächsten Periode auch die Schweiz heimsuchen werden, wird die Zahl der AktivistInnen, die realisieren, dass eine konsequentere Organisationsform– über die Grenzen der Schulen, Betriebe und Massenorganisationen hinaus – nötig ist, unweigerlich zunehmen. Als marxistische Strömung versuchen wir, dieser Schicht an AktivistInnen eine politische Basis zu liefern und laden sie ein, sich bei uns zu engagieren.

Edmée M.
JUSO BL

Caspar Oertli
JUSO ZH