„Die Linke braucht eine neue Erzählung“ – dieser Gedanke beschäftigt viele Linke in Österreich und weltweit bei dem Versuch, eine neue Alternative zu den herrschenden bürgerlichen Parteien aufzubauen. Was steckt hinter dem Konzept eines „neuen Narrativs“? Und kann es dabei helfen, der Arbeiterklasse und Jugend einen Weg nach vorne aufzuzeigen? Yola Kipcak erklärt, warum Wortspiele kein Ersatz für den Klassenkampf sind.„Die Linke braucht eine neue Erzählung“ – dieser Gedanke beschäftigt viele Linke in Österreich und weltweit bei dem Versuch, eine neue Alternative zu den herrschenden bürgerlichen Parteien aufzubauen. Was steckt hinter dem Konzept eines „neuen Narrativs“? Und kann es dabei helfen, der Arbeiterklasse und Jugend einen Weg nach vorne aufzuzeigen? Yola Kipcak erklärt, warum Wortspiele kein Ersatz für den Klassenkampf sind.

IdoM 1 Cover
  • Der Artikel ist Teil der 1. Ausgabe des Theoriemagazins In Verteidigung des Marxismus, das alle drei Monate erscheint. Hier kannst du dir die Ausgabe bestellen oder ein Abo nehmen!

Die Idee, dass die Linke eine verbesserte „Erzählung“ benötigt und der damit zusammenhängende Begriff einer Art „Linkspopulismus“ beschäftigen linke Parteien und Organisationen in ganz Europa und darüber hinaus. Jörg Schindler, Bundesgeschäftsführer der deutschen Linkspartei, schrieb etwa: Um „uns an die Spitze der Klimabewegung zu stellen, wo wir hingehören, brauchen wir eine überzeugende LINKE Erzählung.“[1]

Auch Katja Kipping, Vorsitzende von DIE LINKE, erklärt:

„Ich glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung, um deutlich zu machen, es gibt Alternativen. Und wir müssen alternative Erklärungsmuster starkmachen und der Erzählung von Merkel […] eine andere Erzählung entgegensetzen.“[2]

Und bei einer 2019 organisierten Diskussion von Transform Europe – einem Projekt der Europäischen Linkspartei, zu der SYRIZA, Die LINKE, Rifondazione Comunista, Bloco de Esquerda und ähnliche gehören – bei der auch die Junge Linke, die KPÖ, der Wandel und andere vertreten waren, „zog sich das Stichwort der ‚linken Erzählung‘ […] wie ein roter Faden durch die zweistündige Diskussion.“[3] Das sind nur einige Beispiele, die bezeugen, wie tief sich diese Vorstellung in der Linken in einer Reihe von Ländern verankert hat.

Das Konzept der linken Erzählung geistert zwar schon seit einigen Jahrzehnten an den Universitäten herum, erlangte jedoch Popularität, als neue linke Parteien wie SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien einen plötzlichen Aufschwung erlebten und zu Referenzpunkten für grosse Teile der Linken international wurden. Wichtige ProponentInnen dieser Parteien verwiesen in ihren Reden vor einigen Jahren auf dieses Konzept. Und dieses Konzept hat auch seine „TheoretikerInnen“. Eine ihrer bekanntesten Ideengeberinnen ist die belgische Politikwissenschafterin Chantal Mouffe.

Gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Partner Ernesto Laclau versuchte Mouffe, einen erzählungsbasierten „Linkspopulismus“ theoretisch zu fassen. In der Danksagung ihres zuletzt erschienenen Buchs „Für einen linken Populismus“ nennt Mouffe unter anderem Íñigo Errejón (Podemos) und Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise) und deren Beiträge und persönliche Gespräche.

Was steckt hinter der „Erzählung“?

Die ideologische Grundlage für Mouffes Theorie, nach der wir einen neuen „linken Populismus“ basierend auf einer „neuen linken Erzählung“ aufbauen müssen, besagt, dass die Realität aus Erzählungen, d.h. aus Geschichten gemacht wird. Wenn PolitikerInnen es schafften, die Erfahrung von Menschen in packende Geschichten und „Rahmenerzählungen“ zu giessen, dann beeinflusse dies das Handeln der Menschen und schaffe die Realität.

Das heisst, dass hiernach die Realität nicht aus objektiven, materiellen Tatsachen besteht, die unsere Ideen erschaffen, sondern umgekehrt, dass die Ideen die Welt modellieren. So ist der Kapitalismus nicht ein Wirtschaftssystem, das die Arbeiterklasse und die Kapitalistenklasse hervorgebracht hat, sondern eine Erzählung, eine Konstruktion. Mouffe nennt ihren Ansatz „antiessentialistisch“ – das heisst, es gibt keine objektive, reale Welt (Essenz) hinter unseren Konzepten – und sie geht davon aus, 

„dass Gesellschaften […] durch hegemoniale Praktiken diskursiv konstruiert werden.“ Eine Gesellschaftsordnung (wie der Kapitalismus) „ist niemals die Manifestation einer tieferen Objektivität.“[4]

Daraus fliesst, dass es auch keine Klassen in der Gesellschaft geben soll. Die Arbeiterklasse sei nur eine von vielen Identitäten, die von Erzählungen, von Diskursen und Sprache, geschaffen wird: 

„Kollektive politische Subjekte entstehen erst durch Repräsentation; vorher existieren sie gar nicht.“[5]

Das Ziel einer linken Erzählung, eines Linkspopulismus, muss aus dieser Sicht daher sein, eine kollektive Identität zu konstruieren, indem man den Leuten erzählt, dass sie gemeinsame Interessen haben, und dass „die Eliten“ ihre Gegner sind. Es ist „eine Diskursstrategie, die eine politische Frontlinie aufbaut […] und zu einer Mobilisierung der ‚Benachteiligten‘ gegen ‚die an der Macht‘ aufruft.“[6]

In dem neuerschienenen Buch „Tiefrot und radikal bunt – für eine neue linke Erzählung“ von Julia Fritzsche wird erklärt, eine solche Erzählung müsse „vor allem am Alltag der Menschen anknüpfen, sie ‚abholen‘, also den Eindruck erwecken, sie beziehe sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erfahrungen tatsächlich gemacht wurden.“[7] (eigene Hervorhebung)

Wenn VerfechterInnen der linken Erzählung über gesellschaftliche Veränderungen sprechen, ist daher kein Wunder, dass sie fast nie von praktischen Handlungen, von Klassenkampf oder -aktionen reden (und wenn, dann tun sie dies nur als Nachsatz, als prinzipiell wünschenswerte Ergänzung), sondern Phrasen wie „artikulieren“, „wir müssen darüber sprechen“, „darstellen“, „aufzeigen“ usw. verwenden.

In diesem Kontext ist ein Exponent dieser Ideen von der österreichischen Sozialdemokratie, Max Lercher, zu verstehen, als er über eine Parteineugründung der SPÖ sagte:

„Was hatte ein tschechischer Industriearbeiter schon mit einem steirischen Bergarbeiter gemeinsam? Was eine Wiener Sozialreformerin mit einem ungarischen Radikalsozialisten? … Wir sind ja alle verschiedene Menschen und sehen vieles anders. Das ist gut und richtig so. In Hainfeld [dem Gründungsort der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1888] konnte man sich aber auf einige zentrale gemeinsame Ideen einigen, hinter die sich alle stellen konnten. Und man gründete eine Partei, die diese Ideen durchsetzen sollte.“[8]

„Zur neuen Arbeiterklasse gehören jene, die aufgrund des Systems nicht gerecht am Wohlstand partizipieren. Dazu gehören auch Klein- und Mittelbetriebe. Da lässt sich eine neue Konfliktlinie definieren.“[9]

Zunächst ist hier bemerkenswert, dass für Lercher die Grundlage der Einheit nicht in gemeinsamen Klasseninteressen liegt, sondern in Ideen. Und zweitens sind für ihn die Konfliktlinien in der Gesellschaft nicht objektiv gegebene Tatsachen, sondern können „definiert“ werden, sodass plötzlich „klein- und mittelgrosse“ Kapitalisten auch Teil der Arbeiterklasse sind!

Aus marxistischer Sicht haben ein tschechischer und ein steirischer Arbeiter sehr viel gemeinsam – sie beide nämlich verrichten Lohnarbeit, werden vom KapitalistInnen ausgebeutet, und sind daher objektiv Teil der Arbeiterklasse. Geht man aber umgekehrt davon aus, dass erst eine packende, emotionale Geschichte die Identitäten von Menschen konstruiert, heisst das in weiterer Folge auch, dass der Kapitalismus selbst nicht durch Klassenkampf gegen die KapitalistInnen bekämpft werden kann, sondern dadurch, dass man eine neue Geschichte schreibt, die dann in den Köpfen der Menschen mächtig (hegemonial) wird.

Wie Mouffe schreibt:

„Jede Ordnung kann daher durch antihegemoniale Praktiken infrage gestellt werden, die versuchen, sie zu re-artikulieren.“[10] (eigene Hervorhebung)

Und Fritzsche pflichtet ihr bei:

„Erzählen wird nicht der schnellste Ausweg aus der bedrängenden Gegenwart sein. […] Eine neue linke Erzählung wird Risse und Lücken haben, langfristig aber gelingt nur mit ihr der Ausweg aus der bedrängenden Gegenwart.“[11]

In Wahrheit bedeutet dies jedoch, dass eine Revolution – ein Bruch mit dem herrschenden System – abgelehnt wird. Als ProponentInnen der linken Erzählung stehen Lercher & Co., ob bewusst oder nicht, auf einem dezidiert unmarxistischen Standpunkt. Chantal Mouffe selbst ist eine sehr bewusste Anti-Marxistin und sagt, man müsse sich „vom Mythos des Kommunismus verabschieden“, da er in der Praxis aufgrund seines angeblichen Klassenreduktionismus bereits gescheitert sei, d.h. weil er alle Kämpfe auf den Klassenkampf reduziere. Mouffe und ihre Gleichgesinnten hingegen betrachten die Arbeiterbewegung als nur eine von vielen Bewegungen, etwa der Frauen-, Umwelt- oder LGBT-Bewegung. Sie schreibt: „Antagonismen, Konflikte und eine gewisse Undurchlässigkeit wird es in einer Gesellschaft immer geben.“[12]

Damit meint sie nichts anderes, als dass Ungleichheit und Unterdrückung sowieso unausweichlich seien und daher nie vollständig überwunden werden könnten. Auf dieser pessimistischen Basis schlägt sie dann ihre „antihegemoniale Praxis“ als Gegenkonzept zum Kommunismus vor, wobei sie gleichzeitig zugibt, dass das sowieso „niemals zu einer völlig befreiten Gesellschaft führen wird und man das emanzipatorische Projekt nicht mehr als gleichbedeutend mit der Eliminierung des Staates verstehen kann.“[13] In ihrem theoretischen Nachwort schreibt sie selbst, ihr Ansatz stehe „der Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits von Spaltungen und Machtkämpfen entgegen.“[14]

Zusammengefasst heisst das, dass Mouffe hinter ihrer komplexen und radikal klingenden Sprache die Revolution ablehnt und den Reformismus befürwortet. Indem sie den Kampf um Frauenbefreiung oder LGBT-Rechte dem Klassenkampf gegenüberstellt landet sie direkt bei einem Ansatz der Klassenkollaboration, sprich bei der Vereinigung mit Teilen der Kapitalisten- und Mittelklasse im Kampf für einen „gerechteren“ Kapitalismus.

Chantal Mouffe bei einem gemeinsamen Vortrag mit der damaligen Linke-Vorsitzenden Katja Kipping zum „Linken Populismus“, Berlin 2018 (Foto: Rosa Luxemburg-Stiftung, flickr)

Wenn man sehr mutig ist, solle man zwar den Kapitalismus ‚ansprechen‘, ihn zu beseitigen liegt den linken ErzählerInnen jedoch fern. „Intelligente Kapitalismuskritik ist angebracht, wir müssen diesen Konflikt aufnehmen“, meint Lercher etwa und quasi im gleichen Atemzug:

„Es braucht einen teilstaatlichen, einen marktkonformen und einen gemeinnützigen Arbeitsmarkt.”[15]

Diese verwirrte Mischung aus Kapitalismus mit halbherzigen Kontrollmechanismen kommt dem Versuch gleich, einen Tiger zum Vegetarier zu erziehen. Es ist utopischer, als jede sozialistische Idee einer verstaatlichen Planwirtschaft unter der Kontrolle der Arbeiterklasse.

Hier zeigt sich bereits deutlich, wie die philosophische Grundlage des Idealismus zur Rechtfertigung führt, dass man den Kapitalismus nicht antasten kann. Darum ist es für MarxistInnen auch so wichtig, auf einer festen philosophischen Basis zu stehen: Sie hilft dabei, reformistische Halbheiten zu enttarnen und ihnen eine revolutionäre Antwort entgegenzustellen.

„Zum Staat werden“

Die Hauptorientierung der „linken ErzählerInnen“ liegt nicht auf Klassenkampf und Sturz des Kapitalismus, sondern auf demokratischen Forderungen.

„Wir müssen mehr Demokratie wagen“, schreibt Max Lercher in seinem Text „Wozu braucht’s die Sozialdemokratie heute noch?“.

Die ehemalige Vorsitzende der Sozialistischen Jugend Österreich, Julia Herr, meint:

„Die Sozialdemokratie hat in den 1970er-Jahren dafür gekämpft, das Wirtschaftssystem zu demokratisieren und den Wohlstand, der erarbeitet wird, fair zu verteilen. Da haben wir einfach irgendwann den Mumm verloren.“[16]

Soziale Fragen müssten „in einem radikalen, hier noch zu klärenden Sinn als Demokratiefragen […] gestellt werden“, es gehe um den Kampf um „wahre“ Demokratie, meint auch Rosa-Luxemburg-Stiftungsbeirat und Ideologieproduzent des LINKE-nahen „Instituts Solidarische Moderne“, Thomas Seibert.

„Das Problem mit modernen demokratischen Gesellschaften“, erklärt auch Mouffe, sei, „dass ihre konstitutiven Prinzipien ‚Freiheit und Gleichheit für alle‘ nicht in die Praxis umgesetzt wurden […] Die von uns verfochtene ‚radikale und plurale Demokratie‘ lässt sich daher als eine Radikalisierung der bestehenden demokratischen Institutionen beschreiben […]“[17]

Die Perspektive, die hier präsentiert wird, ist eine des Status quo! Der existente Überbau der „demokratischen“ Institutionen, die sich immer wieder als im Sinne der herrschenden Klasse manipuliert erwiesen haben, soll nicht abgeschafft, sondern „verbessert“ werden. Gleichzeitig wird aber der wahre Grund für die Ungleichheit und die Ausbeutung – nämlich der Kapitalismus – nicht einmal als solcher anerkannt.

Hier zeigt sich die zentrale Spaltungslinie in den unterschiedlichen Auffassungen vom Staat und seinen sogenannten demokratischen Institutionen. Für RevolutionärInnen ist ein Verständnis über die Natur des Staates von grosser Bedeutung – es ist eine Überlebensfrage für revolutionäre Bewegungen. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man den Staat durch eine Revolution abschaffen will, oder ob man glaubt, der Staat kann im Sinne der Unterdrückten verändert und umgemodelt werden. Letztere Ansicht führt unausweichlich zur Kollaboration mit dem existenten Staat, und somit auch mit jener Klasse, deren Interessen er vertritt.

Vergleichen wir also die marxistische Staatsauffassung mit jener der Verfechter der „linken Erzählung“. Mouffe und die anderen linken ErzählerInnen verstehen den Staat als

„[…] Kristallisation der Machtverhältnisse und als umkämpftes Terrain. […] Als Plattform für agonistische Interventionen begriffen, können diese öffentlichen Räume das Terrain für wichtige demokratische Fortschritte darstellen. Deshalb sollte sich eine hegemoniale Strategie mit den verschiedenen Staatsapparaten auseinandersetzen, um sie umzugestalten und den Staat so zu einem Vehikel für den Ausdruck einer Vielzahl demokratischer Forderungen zu machen. […] In gewissem Sinne kann man sowohl die revolutionäre wie auch die hegemoniale Form von Politik als ‚radikal‘ bezeichnen, implizieren doch beide eine Art Bruch mit der bestehenden hegemonialen Ordnung. Allerdings ist dieser Bruch unterschiedlicher Natur, und daher ist es unangemessen, beide – wie es so häufig geschieht – unter der Überschrift ‚linksextrem‘ in ein und dieselbe Kategorie einzuordnen. Anders als so oft behauptet wird, ist die linkspopulistische Strategie kein Avatar für die ‚extreme Linke‘, sondern eine unterschiedliche Methode, den Bruch mit dem Neoliberalismus und die Restituierung und Radikalisierung der Demokratie anzustreben.“[18]

Wie wir sehen, unterscheidet Mouffe klar zwischen einem „revolutionären“ und ihrem eigenen Ansatz, den sie „hegemonial“ nennt. Für sie ist der Staat ein Netzwerk aus Institutionen und „Funktionen“, die nicht Ausdruck von gleichen Interessen sind. Daher gibt es für sie Handlungsspielraum, um zu manövrieren, diese Institutionen und Funktionen mittels des Linkspopulismus zu beeinflussen, zu transformieren und zu verschieben.

Für MarxistInnen auf der anderen Seite ist der Staat kein neutrales Terrain des Kampfes, sondern ein Instrument der herrschenden Klasse, das zerschlagen und durch einen Arbeiterstaat ersetzt werden muss. Haben wir erstmal die alte, kapitalistische Ordnung unterdrückt und den Boden für eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft bereitet, wird dieser Arbeiterstaat gemeinsam mit den Klassen in der Gesellschaft absterben. Diese Ansicht wird von postmodernen TheoretikerInnen wie Mouffe lächerlich gemacht und als „zu vereinfacht“ dargestellt. Doch wenn man die historische Entstehung des Staates und den Zweck, für den er entstanden ist, analysiert, können wir mit absoluter Sicherheit sagen, dass unsere Definition das tatsächliche Wesen des Staates korrekt erfasst.

Marx und Engels erklärten, wie der Staat in der Geschichte gemeinsam mit den Klassen entstanden ist. Die Klassengesellschaft entstand, als die Menschheit ausreichend Produktivkräfte entwickelt hatte, sodass über das unmittelbar zum Überleben Benötigte hinaus mehr produziert werden konnte. Erstmals in der Geschichte musste eine kleine Schicht in der Gesellschaft nicht mehr wie früher arbeiten. Doch die Produktion war noch nicht fortgeschritten genug, dass die ganze Gesellschaft dieses Privileg geniessen hätte können. Das schuf die Bedingungen für Gesellschaftsklassen. Es entwickelte sich eine herrschende Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und ausgebeutete Klassen, die den Reichtum erschaffen, den sich die herrschende Klasse aneignet.

Diese antagonistischen Klasseninteressen müssen jedoch verwaltet werden. Die Unterdrückten müssen daran glauben, dass die gegenwärtige Ordnung unantastbar ist, und dass jeder, der es wagt, sie zu hinterfragen, bestraft wird. Gleichzeitig müssen auch die Unterdrücker selbst davon abgehalten werden, sich gegenseitig durch ständige Kriege untereinander zu zerstören. Der Staat entstand zu genau diesem Zweck. Engels erklärt:

„Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung“ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangen, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“[19]

In letzter Instanz ist der Staat also ein unterdrückerisches Organ, bestehend aus besonderen Formationen bewaffneter Menschen (dem Militär und der Polizei), Gefängnissen, Gerichten und so weiter, das sich scheinbar über die Gesellschaft stellt aber im Grunde das Wirtschaftssystem verteidigt, aus dem er erwachsen ist. Mit dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse und dem Kapitalismus als die herrschende Produktionsweise im Weltmassstab schuf sich die Bourgeoisie auch ihren eigenen Staat.

Die „liberale Demokratie“, die Mouffe verteidigt, ist das Produkt von Revolutionen, die im Interesse der Bourgeoisie selbst ausgefochten wurden. Zu glauben, wie sie und die anderen linken ErzählerInnen es tun, dass diese Form des Staates die ultimative, beste und letzte Institution ist, die es je geben wird und die daher nicht angetastet werden kann, entspringt einem völlig ahistorischen Blickwinkel. Es bedeutet auch, dass man damit das Instrument der gegenwärtig herrschenden Klasse – der Kapitalisten – verteidigt.

Natürlich ist die Tatsache, dass der Staat ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse ist, nicht immer klar ersichtlich. Sein wahrer Charakter wird von den KapitalistInnen ständig verschleiert. Es wäre für die KapitalistInnen unmöglich, ganz zu schweigen von ineffizient, allein durch Gewalt und Repression zu herrschen. Die Unterdrückten bilden die Mehrheit der Gesellschaft. Würde die Mehrheit der Gesellschaft sich dieser Tatsache bewusst, blickte die kapitalistische Gesellschaft ihrem eigenen Untergang ins Gesicht.

In normalen Zeiten versucht die herrschende Klasse, sofern sie es sich leisten kann, den Schein der Gerechtigkeit, der „Chancengleichheit“ etc. zu wahren. Die KapitalistInnen ziehen daher im Allgemeinen Staaten mit freien Wahlen, einer gewissen Pressefreiheit, einem Mehrparteiensystem usw. vor. Solche Staaten bieten einen gewissen Handlungsspielraum. Doch unter keinen Umständen wird die herrschende Klasse zulassen, dass ihre fundamentale Rolle als Eigentümer der Produktionsmittel herausgefordert wird. Der Staat existiert, um genau das sicherzustellen.

Es ist kein Wunder, dass das einzige Recht in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen, das nicht ständig missachtet und gebrochen, sondern im Gegenteil sorgsam mit der ganzen Gesetzesmacht behütet wird, der Artikel 17 ist, der jedem „das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben“ zuschreibt und festlegt, dass „niemand willkürlich seines Eigentums beraubt werden“ darf. In letzter Instanz ist genau das der Zweck des Staats, seiner Gesetze und des ganzen Justizsystems. Das ist auch der Grund, weshalb MarxistInnen erklären, dass der bürgerliche Staat durch eine Revolution zerschlagen werden muss, denn er ist fundamental mit der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft als Klasse verknüpft.

Aus marxistischer Sicht ist klar, dass die Demokratie ein politisches Regime ist, ein politischer Überbau, der auf der Basis des kapitalistischen Systems steht. Der Kapitalismus kann unterschiedliche Regime hervorbringen: bürgerlich-demokratische genauso wie Diktaturen. Sie alle sind jedoch Varianten eines kapitalistischen Staats, der über tausend Fäden mit der Kapitalistenklasse verknüpft ist. Nicht ohne Grund schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest:

„Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.”

Natürlich hat die Form des Regimes, die Ausformung des Staatsapparats, einen Einfluss darauf, wie viel Freiheit und Rechte die Menschen haben. Daher hat der Kampf für demokratische Forderungen, wie zum Beispiel das allgemeine und gleiche Wahlrecht, auch so eine wichtige Rolle in der Geschichte der revolutionären Bewegungen gespielt. MarxistInnen stellen und unterstützen konsequent demokratische Forderungen, die die Mehrheit der Gesellschaft gegen die herrschende Klasse mobilisieren können und die Einheit der Unterdrückten und Ausgebeuteten stärken, was wiederum günstige Bedingungen für die Entwicklung des Klassenkampfes schafft.

MarxistInnen schauen auch nicht auf demokratische Wahlen herab oder ignorieren diese. Wahlen dienen als ein wichtiger Indikator für die Stimmung in der Gesellschaft. Die Teilnahme an Wahlen kann als ein Mittel im Klassenkampf dienen. Doch die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus – die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die KapitalistInnen, die ständigen Krisen und Kriege – existieren unter allen Arten der bürgerlichen Regime, wie demokratisch sie auch sein mögen, weiter. Genau deshalb können „Freiheit und Gleichheit für alle“ eben nicht innerhalb des Kapitalismus verwirklicht werden.

RevolutionärInnen können Wahlen und parlamentarische Repräsentation nützen, um revolutionäre politische Ideen einem Massenpublikum zu präsentieren. Wahlen können auch dazu genutzt werden, die Heuchelei der Kapitalistenklasse und ihrer Institutionen zu entlarven. Wenn beispielsweise RevolutionärInnen im Parlament verlangen würden, dass wirkliche Gleichheit und soziale Gerechtigkeit durchgesetzt werden sollen, indem man die Grossindustrie und die Banken enteignet – d.h. indem man das Eigentum an den Produktionsmitteln der KapitalistInnen herausfordert – so würde das gesamte Establishment sein Gewicht in die Waagschale werfen, um diese Forderung abzuwehren.

Wenn notwendig, werden sie – wie wir unten noch zeigen werden – die „Demokratie“ und Mehrheitsverhältnisse im Parlament übergehen und ihr ganzes Gerede von Freiheit vergessen, um den Kapitalismus zu retten. Würden RevolutionärInnen an diesem Punkt einfach stehenbleiben, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen „was soll man machen, wir haben eben den Kampf um die Hegemonie innerhalb des Staats noch nicht gewonnen“, so wären sie keine RevolutionärInnen, sondern ReformistInnen. Doch das ist genau, was die „linken ErzählerInnen“ vorschlagen. Indem sie die Grenzen des Wirtschaftssystems (des Kapitalismus) und seines politischen Überbaus (der bürgerlichen Demokratie) anerkennen, können sie über diesen Punkt nicht hinausgehen.

RevolutionärInnen, auf der anderen Seite, sehen die Aktivität der Massen als Schlüsselelement, um genau diese Grenzen zu überwinden und die Gesellschaft zu verändern. Parlamente und Wahlen sind nichts als ein nützliches Element, um die Aktivität der Massen zu stärken und zu schüren. Lenin wies darauf hin, dass die Erfahrung „zahlreicher, wenn nicht aller Revolutionen“ zeigt, „dass es zu Revolutionszeiten besonders nützlich ist, die Massenaktion ausserhalb des reaktionären Parlaments mit einer Opposition, die mit der Revolution sympathisiert (oder noch besser: die Revolution direkt unterstützt), innerhalb dieses Parlaments zu verbinden.“ Doch gleichzeitig erklärte, er:

„[D]ie Aktion der Massen z.B. ein grosser Streik – ist immer und keineswegs nur während der Revolution oder in einer revolutionären Situation wichtiger als die parlamentarische Aktion.“[20] (Hervorhebung im Original)

Bild (von links nach rechts): Trotzki, Lenin und Kamenew 1919.

Die Herangehensweise der MarxistInnen an den Staat kann daher folgendermassen zusammengefasst werden: Der Staat ist ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse. Er muss zerschlagen und durch einen Arbeiterstaat ersetzt werden. Nach einer erfolgreichen, sozialistischen Revolution werden mit der Zeit alle Formen des Staats gemeinsam mit den Klassen verschwinden. Doch das bedeutet nicht, dass wir demokratische Rechte und Freiheiten im Hier und Jetzt für überflüssig halten. Im Gegenteil kämpfen wir für diese Freiheiten und nützen sie. Doch gleichzeitig schüren wir keinerlei Illusionen, dass die Demokratie die zugrundeliegenden Ursachen für Unterdrückung, Armut und Ungleichheit beseitigen kann. Das kann nur durch den Sturz des Kapitalismus erreicht werden.

Die TheoretikerInnen der „linken Erzählung“ lehnen die marxistische Staatstheorie ab und fokussieren ihre Hauptargumente stattdessen auf die Frage der Demokratie. Laut ihnen sei es

„evident, dass zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie kein zwangsläufiger Zusammenhang besteht. Unglücklicherweise hat der Marxismus zu dieser Verwirrung beigetragen, indem er die liberale Demokratie als den Überbau des Kapitalismus dargestellt hat.“[21]

Tatsächlich liegt die Verwirrung jedoch ganz auf der Seite der SprachphilosophInnen. Für sie sind Staaten nämlich nur „diskursive“ Konstruktionen, Institutionen, die man mit „neuen Erzählungen“ verändern könne. Es handle sich beim Staat um ein „umkämpftes Terrain“. Und damit man das angeblich neutrale, klassenunabhängige „Terrain“ neu erzählen kann, muss man Teil davon werden. Das Ziel sei es,

„eine Mehrheit des Volkes hinter sich zu scharen, um an die Macht zu kommen und eine progressive Hegemonie aufzubauen. Für ihre konkrete Umsetzung gibt es ebenso wenig ein Patentrezept wie für das Endziel.“[22]

Sprich: Wählt uns, und wir tun dann, was wir wollen!

„Das Ziel ist nicht, den Staat zu erobern“, sondern „Staat zu werden“[23], schreibt Mouffe.

Und hier wird abermals deutlich, warum diese Theorie so viel Anklang bei ReformistInnen findet. Denn schliesslich ist Teil des Staatsapparates zu werden – am besten mit so wenig Verbindlichkeit von unten wie möglich – die Existenzgrundlage und das Um und Auf des Reformismus. Als Teil des „umkämpften Terrains“ Staatsapparat soll es dann möglich sein, in Diskussionen auf Augenhöhe mit den KapitalistInnen Verbesserungen für die Wählerschaft durchzusetzen.

„Die Sozialdemokratie muss [das] Kapital in die Schranken weisen und die Märkte zähmen”, O-Ton Max Lercher, und: „Mir schwebt ein Sozialstaat vor, der schützt, Wohlstand gerecht verteilt und Handlungsspielräume [?] lässt.“[24]

Doch Obacht! In Konfrontation mit dem Klassenfeind (den man nicht so nennt) sei es jedoch wichtig, „dass auftauchende Konflikte nicht die Form eines ‚Antagonismus‘ annehmen (eines Kampfes zwischen Feinden)“, dass der „Gegner nicht als Feind wahrgenommen wird, den es zu vernichten gilt, sondern als Kontrahent, dessen Existenz als legitim anerkannt wird.“[25]

Das ist Universitätssprache für Sozialpartnerschaft und Ausgleich von Klasseninteressen. Wäre es möglich, innerhalb des Kapitalismus durch „geduldige friedliche Arbeit an einem anderen Paradigma“ (Fritzsche), stetige Reformen und Verbesserungen zu erzielen, so hätte eine Mehrheit der Arbeiterklasse auch mit Sicherheit nichts dagegen.

Das Problem ist jedoch, dass der Kapitalismus aufgrund seiner eigenen Widersprüche regelmässig in Krisen gerät. Die Spardiktatur der „bösen“ Neoliberalen ist nicht einer plötzlichen Lust auf grösseres menschliches Leid entsprungen, sondern aus den Zwängen des kapitalistischen Systems, in dem mehr Profite (und diese sichern schliesslich das Überleben eines Kapitalisten) nur durch harte Angriffe auf die Arbeiterklasse möglich sind.

Die Sozialdemokratie hat nicht, wie Julia Herr es beschreibt, „einfach irgendwann den Mumm verloren“, sondern der Reformismus ist an die Grenzen des Kapitalismus gestossen. Es gibt heute schlicht keinen Spielraum mehr für anhaltende, bedeutsame Reformen im Kapitalismus.

Die Verantwortung der Führung

Die Grenzen des Reformismus hatten die griechischen Massen bereits schmerzhaft erfahren. Als Reaktion auf die Krise, die das Land ab 2012 besonders hart traf, und die darauffolgenden Sparmassnahmen, führten sie über Jahre erbitterte Kämpfe. Zunächst über Platzbesetzungen. Schliesslich wurde die Arbeiterklasse aktiv und zahllose grosse Streiks und Generalstreiks fanden statt. Als sich – nicht zuletzt aufgrund der hemmenden Rolle der Gewerkschaftsführungen – nichts verbesserte, drückte die griechische Arbeiterklasse ihre Ablehnung in den Wahlen aus, indem sie die Linkspartei SYRIZA an die Macht wählte.

Binnen kürzester Zeit ordnete sich der SYRIZA-Chef Tsipras jedoch dem Spardiktat der EU und des IWF unter. Damit betrog er offen das Ergebnis des Referendums von Juli 2015, in dem 61 Prozent „Nein“ stimmten und somit die Bedingungen der Troika für ein „Rettungspaket“ mit überwältigender Mehrheit ablehnten. Eine Zerstörung der Lebensgrundlage für die griechischen Massen war die Folge. Der Kapitalismus und seine VertreterInnen in der EU setzten die für sie notwendigen Massnahmen gegen den Willen der griechischen Bevölkerung durch.

Die griechische Linkspartei SYRIZA betrog die Erwartungen der Masen, indem sie sich dem EU-Spardiktat beugte.

Was haben die „LinkspopulistInnen“ zu dieser Niederlage zu sagen?

„Der Kampf von SYRIZA ging verloren, weil erst ein relevanter Widerstand in den Kernländern der Eurozone der Idee SYRIZAS zum Durchbruch verhelfen und die ökonomisch-politische Krise Griechenlands zur Krise der ganzen EU hätte machen können.“[26]

Und:

„Leider konnte Syriza ihre Anti-Austeritätspolitik wegen der harten Reaktion der Europäischen Union, die die Partei mit einem ‚Finanzstaatsstreich‘ zur Akzeptanz des Diktats der Troika zwang, nicht verwirklichen.“[27]

Die „harte Reaktion“ der EU war aber keine grosse Überraschung. Doch Tsipras verbrachte Monate damit, den Papst und wichtige RegierungsvertreterInnen Europas zu treffen, um sie „diskursiv“ für seine Sache zu gewinnen. Als er scheiterte, sie zu „überzeugen“, kapitulierte er vor der Troika und betrog die Erwartungen der Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die für SYRIZAs Anti-Sparprogramm mobilisiert hatten. Die griechischen GenossInnen der IMT (zu der auch der „Funke“ gehört), die damals Teil des Zentralkomitees von SYRIZA waren, schrieben direkt nach der Regierungsbildung 2015:

„Keine Illusionen in Verhandlungen mit dem europäischen Kapital und seinen Institutionen! Unsere Gegenüber vertreten die Interessen des griechischen und des ausländischen Kapitals! Unser einziger wahrer Bündnispartner ist die europäische Arbeiterklasse! SYRIZA sollte zu europaweiten Massenmobilisierungen aufrufen, um Europa in eine riesige ‚Puerta del Sol‘ [Anspielung auf die Indignados-Bewegung 2011-12 in Spanien] zu verwandeln!“[28]

Sie schlugen eine Reihe von Massnahmen in Griechenland vor, wie die Streichung der Staatsschulden und die Verstaatlichung der Banken – Massnahmen, die die reale Frage im Konflikt auf den Punkt brachten: Entweder Bruch mit dem Kapitalismus oder Unterordnung unter die Troika.

Die Darstellungsweise, dass „leider“ alle möglichen Faktoren Schuld an der Niederlage von SYRIZA tragen, ausser die Führung von SYRIZA selbst, ist bezeichnend für den Reformismus. Die Führung einer Bewegung ist in einer zugespitzten Situation entscheidend, denn sie verfügt über die Autorität und das Gehör, die richtigen, vorwärtsweisenden Vorschläge einzubringen und zu organisieren. Es ist also absolut notwendig, bei Niederlagen von Massenbewegungen die Rolle der Führung genau zu untersuchen: Hatten sie die richtigen Ideen? Warum haben sie sich nicht getraut, den entscheidenden Schritt zu tun? Blendet man diese Fragen aus, bietet man schlechten FührerInnen eine Rückendeckung und verschleiert ihre Rolle in Niederlagen. Letztendlich wird die Schuld den kämpfenden Massen zugeschoben.

So schreibt Fritzsche beispielsweise über Massenbewegungen wie die „Gelbwesten“ in Frankreich, „Occupy“, aber sogar über den Arabischen Frühling, dass sie scheiterten,

„[…] weil potenziell Interessierte sie doch irgendwie zu akademisch fanden, oder Zelte zwar nett und niedlich, den Kapitalismus aber irgendwie besser. Weil die Beteiligten selbst die Plätze aufgaben, um wieder regelmässig Geld zu verdienen, oder weil sie Orte besetzt hatten, wo sie niemanden störten. Und schliesslich auch, weil Polizei und Militär sie dort, wo sie störten, von den Plätzen schubsten, sie verletzten, verhafteten.“[29]

Das ist purer Zynismus. Die Massen in Ländern wie Ägypten oder Tunesien riskierten ihr Leben, überwanden sektiererische Spaltungen und waren bereit, alles für die Freiheit zu geben. Es sei auch angemerkt, dass die Gelbwestenbewegung nicht nur ihr ursprüngliches Ziel – die Abschaffung von Macrons regressiver Treibstoffsteuer – erreichte: durch sie lernten die ArbeiterInnen und Jugendlichen tausendmal mehr über die Rolle des Staates und die bürgerliche „Demokratie“, als durch alle Werke der „linken Erzählung“ zusammengenommen. Diese Argumentation ist auch ausgesprochen günstig für PolitikerInnen, die sich lieber nicht auf Konfrontationskurs mit dem Kapital einlassen wollen und ihre Tatenlosigkeit mit „fehlender gesellschaftlicher Hegemonie“ begründen können.

Revolutionäre Ideen – revolutionäre Praxis

Das Konzept der linken Erzählung veranschaulicht, welcher Zusammenhang zwischen Philosophie und politischer Praxis besteht. Als radikal anmutende „Geschichte“ dient es in Wahrheit als Deckmantel für reformistische und dem Kapitalismus in keiner Weise gefährliche Politik. Da es davon ausgeht, dass es keine Realität ausserhalb des Geschichtenerzählens gibt, führt die „linke Erzählung“ zu einer Politik, bei der man viel reden, aber nichts tun muss.

Die ProponentInnen der linken Erzählungen wollen die Probleme der Ausgebeuteten und Unterdrückten „aussprechen“ und damit Wählerstimmen generieren, haben aber kaum bis keine konkreten Vorschläge. Dort, wo es Vorschläge gibt, beschränken sie sich auf demokratische Forderungen oder Wünsche nach einem Sozialstaat. Solche Forderungen sind nicht notwendigerweise falsch, doch sie erkennen nicht an, dass man für ihre Umsetzung Klassenkampf gegen die KapitalistInnen führen muss. Wenn die zahm vorgebrachten Forderungen dann an der Realität scheitern – Stichwort SYRIZA – wird die Schuld bei der „hegemonialen Macht“ der Neoliberalen oder bei den Massen selbst gesucht.

Ob VerfechterInnen der linken Erzählung die philosophische Grundlage bewusst verteidigen (wie es Mouffe tut), oder das Konzept als für ihre eigenen Handlungen nützlich ansehen und aufgreifen, spielt dabei nur eine zweitrangige Rolle. Die Aufgabe von RevolutionärInnen ist es jedoch, solche Ideen und die damit einhergehende Praxis aufzudecken und ihnen tatsächliche Lösungen für die Misere das Kapitalismus entgegenzustellen. Das ist der Grund, warum MarxistInnen der philosophischen Grundlage so viel Bedeutung beimessen. 

Denn letztlich sind Ideen Ausdruck und Handlungsanleitung von gesellschaftlichen Klasseninteressen: Helfen die Ideen der herrschenden Klasse, streuen sie linken AktivistInnen und kämpfenden ArbeiterInnen Sand in die Augen? Oder helfen sie uns, die Gesellschaft zu verändern?

Gehen wir ohne Scheuklappen auf die Realität zu, kämpfen wir für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung – für einen revolutionären Sturz des Kapitalismus!

Yola Kipcak, der Funke Österreich


[1] Jörg Schindler (9. Juli 2019): Warum der Klimawandel ein linkes Thema ist, online: https://www.die-linke.de/detail/warum-der-klimawandel-ein-linkes-thema-ist/ (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021).
[2] Katja Kipping und Bernd Riexinger (21. September 2012): „Wir brauchen einen linken Populismus“ Interview von Ingo Stützle und Jan Ole Arps, in: Analyse & Kritik, online: https://archiv.akweb.de/ak_s/ak575/31.htm (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021).
[3] Fabian Sommavilla (24. Oktober 2019): Österreichs Linke denken (wieder einmal) über eine Parteigründung nach, in: Der Standard, online: https://www.derstandard.at/story/2000110222810/oesterreichs-linke-denken-wieder-einmal-ueber-eine-parteigruendung-nach (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021).
[4] Chantal Mouffe (2018): Für einen linken Populismus. Suhrkamp Verlag, Berlin, S. 17; 101.
[5] Ebd. S. 69.
[6] Ebd. S. 20.
[7] Julia Fritsche (2019): Tiefrot und radikal bunt: Für eine neue linke Erzählung. Edition Nautilus, Hamburg, S. 20. 
[8] Max Lercher (6. Oktober 2019): Was meine ich mit Neugründung der SPÖ, online: https://www.facebook.com/max.lercher/posts/2453854181401458/ (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021). 
[9] Max Lercher (10. Oktober 2019): Wir müssen ein System zerschlagen, Interview von Florian Gasser, in: Die Zeit, online: https://www.zeit.de/2019/42/max-lercher-spoe-sozialdemokratie-neugruendung (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021).
[10] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 101.
[11] Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt, S. 177f. 
[12] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 13. 
[13] Ebd. 
[14] Ebd. S. 100. 
[15] Lercher: Wir müssen ein System zerschlagen, online. 
[16] Josef Cap und Julia Herr (25. September 2019): Julia Herr und Josef Cap über die Defizite der Sozialdemokratie, Interview von Rosemarie Schwaiger, in: Profil, online: https://www.profil.at/oesterreich/julia-herr-josef-cap-gespraech-sozialdemokratie-11146436 (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021). 
[17] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 51f. 
[18] Ebd. S. 59f. 
[19] Friedrich Engels (1884/2021): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Verein Gesellschaft und Politik, Wien, S.234. 
[20] W. I. Lenin (1920/1959): Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: LW Bd. 31. Dietz Verlag, Berlin, S. 46f. 
[21] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 61. 
[22] Ebd. S. 63. 
[23] Ebd. S. 60. 
[24] Krone, 17. Oktober 2019. 
[25] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 104. 
[26] Thomas Seibert (2015): Erste Notizen zum Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland, online: https://kommunisten.de/rubriken/meinungen/6010-thomas-seibert-erste-notizen-zum-plan-a-einer-neuen-linken-nicht-nur-in-deutschland (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021). 
[27] Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 31. 
[28] Kommunistische Strömung in SYRIZA (9. Februar 2015): Die Bürgerlichen haben Angst vor SYRIZA – Es ist Zeit, vorwärts zu gehen!, online: https://derfunke.at/aktuelles/international/europa/10167-die-buergerlichen-haben-angst-vor-syriza-es-ist-zeit-vorwaerts-zu-gehen (zuletzt aufgerufen: 21.6.2021). 
[29] Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt, S. 25.