Die Notwendigkeit dieses Buches erklärt sich heute in doppelter Weise. Zum einen sehen wir, dass sich die objektiven Bedingungen der Frauen weltweit verschlechtern und diese mit zunehmender Dringlichkeit nach Antworten verlangen. Zum anderen bieten weder die feministischen Führungen noch die Frauenrechtler in den Arbeiterorganisationen einen Ausweg aus dieser Misere. Wir sind überzeugt, dass der Marxismus genau diese Antworten liefern kann. Er bietet nicht nur eine Erklärung der Frauenunterdrückung, sondern zeigt auch den Weg zu ihrer Überwindung.

Die Mär vom graduellen Fortschreiten der Frauenbefreiung – insbesondere ohne das bewusste Eingreifen durch revolutionäre Massenkämpfe – widerlegt sich von Jahr zu Jahr. Nicht nur haben die Verbesserungen der Sozialsysteme und die langen Jahrzehnte der Nachkriegszeit den Frauen nur in den hoch entwickelten Ländern einige Vorzüge gebracht (durch die Überausbeutung ganzer Erdteile) – diese Errungenschaften werden heute zunehmend angegriffen: Die Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme werden, wo vorhanden, von der herrschenden Klasse systematisch angegriffen und zerschlagen und das mehrheitlich weibliche Personal zunehmend in prekäre Arbeitsbedingungen gedrückt. Arbeitslosigkeit, Armut und Analphabetismus nehmen weltweit zu – insbesondere beim weiblichen Geschlecht. Und damit einhergehend sehen wir das Aufkommen zunehmend barbarischer menschlicher Beziehungen: Gewalt, Femizide (Frauenmorde), Menschenhandel und Prostitution. Lenin sagte, der Kapitalismus bedeute Schrecken ohne Ende. Die tiefste Krise des globalen Kapitalismus seit seinem Bestehen zeigt uns dies in aller Deutlichkeit. Charles Fourier, der grosse utopische Sozialist, erklärte einst: 

«Die Veränderung einer geschichtlichen Epoche lässt sich immer aus dem Verhältnis des Fortschritts der Frauen zur Freiheit bestimmen, weil hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwächeren zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint. Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Mass der allgemeinen Emanzipation.» 

zitiert nach MEW, Die Heilige Familie

Der Kapitalismus, einst Quelle unglaublicher Fortschritte in Produktion, Technologie und Wissenschaft, zeigt heute alle Erscheinungen eines Systems, das sich überlebt hat. Das zeigt sich nicht nur im Taumeln zwischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen in einem Land nach dem anderen oder in der Krise der Menschheit in Beziehung zur Natur – es zeigt sich ebenso in der Krise der vorherrschenden Ideen, also in der Krise der Ideen der herrschenden Klasse. Vor über einem Jahrhundert spielte die Bourgeoisie noch eine fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte und verteidigte fortschrittliche Ideen, die sich von Monarchie und Kirche ab- und dem wissenschaftlichen Fortschritt zuwandten. Heute hingegen produziert sie nur noch pessimistische und rückwärtsgewandte Ideen. Die ideologischen Kräfte investiert sie einzig, um ihre eigene parasitäre Stellung zu garantieren. Dabei greift die Bourgeoisie auf die rückständigsten Institutionen, wie die katholische Kirche, die Königshäuser usw. und überkommene Ideen zurück, um sich so bei den konservativen Schichten der Gesellschaft Rückhalt zu verschaffen. In einer «demokratischen» Nation nach der anderen haben wir diesen Backlash gesehen: In Polen, Italien, den USA usw. wird das erkämpfte Recht der Frau auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper angegriffen. Auch in der Schweiz geht die SVP (Volkspartei) – die Hauptpartei des Schweizer Kapitals – mit der Verschleierungs- und der Abtreibungsinitiative in die Offensive gegen Frauen und insbesondere Migrantinnen. Hinzu kommen die «Frauen zurück an den Herd»-Debatte und die wiederholten Angriffe auf das Frauenrentenalter als Einfallstor für die allgemeine Rentensenkung. 

Die Frauenbefreiung ist kein automatischer und linearer Fortschrittsprozess, im Gegenteil: Er hängt entscheidend mit dem Zustand des Kapitalismus und den Bedürfnissen der herrschenden Klasse, aber auch dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und der Kampffähigkeit der Frauen und der Arbeiterklasse als Ganzes zusammen. Doch auch das ist kein starres Verhältnis. In der Nachkriegszeit haben sich die Frauenbewegung und die traditionellen Arbeiterorganisationen mehr und mehr dem kapitalistischen Rahmen angepasst und ihre Strukturen institutionalisiert: Das prägte das Bewusstsein von Millionen von Frauen und schürte Illusionen in den ewig währenden Fortschritt. Die heutige Epoche bedeutet Hammerschläge auf das Bewusstsein: Die organische Krise des Kapitalismus geht einher mit Angriffen auf die Errungenschaften der ganzen Arbeiterklasse und zwingt immer neue Schichten in den Kampf. Die Frauen haben dabei besonders viel zu verlieren. Ausserdem sind die Jahrzehnte der Verbesserungen der Stellung der Frau in den fortgeschrittenen Ländern nicht spurlos am Bewusstsein der Frauen vorübergegangen. Das ist eine explosive Mischung. 

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Jugend und Frauen als Speerspitze!

In den letzten Jahren haben wir bereits inspirierende Massenbewegungen gesehen. Im Jahr 2017 bekam die #MeToo-Bewegung internationalen Aufschwung, nachdem die Eskapaden der Reichen und Mächtigen in den Vereinigten Staaten weltweit Empörung und Wut auslösten. Weinstein, Epstein zusammen mit Mitwissern und -tätern bis zum britischen Königshaus standen repräsentativ für die barbarischen Zustände in einem System, in dem eine kleine Schicht von Reichen die soziale Misere von Mädchen und jungen Frauen schamlos für ihre Zwecke nutzt. Hinter verschlossenen Türen betreiben sie Vergewaltigungen, Zwangsprostitution, Pädophilie und Kinderhandel und kaufen sich mit Korruption bis in die Justiz und Polizei frei. Die Maxime der Bewegung lautete: Wenn das System diese Täter schützt, müssen wir, die Massen, sie selbst zur Verantwortung ziehen!

Insbesondere eine neue Generation von Frauen und Mädchen radikalisiert sich zunehmend gegen alle Verhältnisse, die sie unterdrücken: In Verteidigung ihrer körperlichen Selbstbestimmung, für das Recht auf Arbeit, für höhere Löhne und gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Alltag, gegen die einengenden Familienverhältnisse und gegen die Unterwerfung unter den Mann. In Indien beispielsweise ist es zum Massenphänomen geworden, dass sich Frauen in den Grossstädten nicht verheiraten wollen. Frauen wehren sich weltweit gegen das Zwangskorsett der Ehe und der Gesellschaft als Ganzes. In Spanien wurde der Frauenstreik 2018 zum Massenereignis: Sechs Millionen Frauen (aber auch Männer) beteiligten sich an den Demonstrationen, ein Teil davon bestreikte ihre Betriebe. Zentrale Forderungen waren die Lohngleichheit und Respekt, sowie gegen die Doppelbelastung von Haus- und Lohnarbeit. Die Bewegung ging aber weit über diese Forderungen hinaus. Sie stellte ganz grundsätzlich die herrschenden Moralvorstellungen und Werte der Klassengesellschaft in Frage und richtete sich gegen den Sexismus und männlichen Chauvinismus, den Frauen auf tagtäglicher Basis erleiden und die als «normal» akzeptiert werden. Keinen Monat später goss die «Manada-Affäre» zusätzlich Öl ins Feuer: Ein mildes Strafurteil nach einer brutalen Gang-Vergewaltigung löste eine wochenlange Protestbewegung mit Hunderttausenden auf den Strassen aus. Der noch vom Franco-Faschismus übernommene Staatsapparat, zusammen mit Monarchie und katholischer Kirche, sind die Stützpfeiler von Rückständigkeit, institutionalisiertem Sexismus und Rassismus, Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch, gegen die sich die Wut der spanischen Jugend und Arbeiterklasse immer wieder richtet. 

Spanien 2018: historischer Frauenstreik (Bild: Fair use)

Das sind keine Einzelbeispiele. In Lateinamerika weitete sich die «Ni Una Menos»- Bewegung («Nicht eine weniger»), die 2015 in Argentinien als Antwort auf den Femizid an der 14-Jährigen Chiara Paez begann, über den ganzen Kontinent aus und erhält bis heute immer wieder Aufschwung. Millionen von Frauen, Mädchen (und auch Männer) kämpfen gegen Femizide, Gewalt an Frauen, Korruption und Polizeirepression, für soziale Forderungen und das Recht auf Abtreibung. Teilweise nahmen diese Frauenbewegungen aufständischen Charakter an. In Chile sahen wir als Teil der allgemeinen Massenmobilisierungen und der radikalen Schülerstreiks auch historische Frauenstreik-Demonstrationen, die am 8. März 2020 dreieinhalb Millionen Menschen umfassten und deren Hauptslogan «Piñera raus!» sich direkt gegen die Regierung richtete. Auch die Massenbewegung in Polen 2020 gegen die Verschärfung des Abtreibungsverbots richtete sich zunehmends gegen die Regierung und die katholische Kirche, auf die sich das repressive Regime stützt.

Die Frauenstreiks und Protestbewegungen breiteten sich wie ein Lauffeuer auf unzählige Länder aus und halten seit Jahren an. In der Schweiz sahen wir am Frauenstreik 2019 die grösste Mobilisierung seit Jahrzehnten mit einer halben Million Jugendlichen und Frauen landesweit auf den Strassen und seither regelmässigen Massendemonstrationen. Selbst die weltweite Corona-Pandemie konnte diese Bewegungen nur zeitweilig ausbremsen. Letztes Jahr sahen wir Massenproteste in Grossbritannien gegen die Ermordung von Sarah Everard durch einen Polizisten, Frauendemonstrationen in Indien und der Türkei und aktuell das Wiederaufflammen der #MeToo-Bewegung in Ägypten

Grossbritannien 2020: Massenproteste gegen die Ermordung von Sarah Everard und Polizeigewalt

Dabei geht es nicht nur um Frauenthemen. In der «Black Lives Matter»- Bewegung in den Vereinigten Staaten kämpften Millionen von jungen Frauen und Männern gegen Rassismus und Polizeirepression und in den Klimastreiks forderten Schülerinnen und Schüler weltweit «System Change Not Climate Change!». Und das sind nur die Bewegungen mit internationalen Charakter. In einem Land nach dem anderen sehen wir Massenbewegungen gegen nationale Unterdrückung, den sinkenden Lebensstandard, die Korruption und Eskapaden der herrschenden Klasse und die staatliche Repression. Die organische Krise des globalen Kapitalismus bedeutet, dass ökonomische, soziale und politische Krisen einander ablösen und ineinander übergehen. Die Arbeiterklasse in jedem Land wird in zunehmendem Masse in den Kampf gezwungen zur Verteidigung ihres Lebensstandards. Die revolutionären Bewegungen seit 2019 in Ecuador, Chile, im Libanon, Sudan, Myanmar und Kasachstan sind nur ein Vorgeschmack auf die kommenden Kämpfe in einem Land nach dem anderen. Wir sind in eine Epoche  von Revolutionen und Konterrevolutionen eingetreten. Dabei bewegen sich nicht alle Schichten der Arbeiterklasse gleichzeitig. Bereits jetzt sehen wir: Die Jugend und Frauen der Arbeiterklasse gehören zu den Vorreitern dieses Prozesses – sie werden zunehmend zur Speerspitze revolutionärer Bewegungen! 

Die Einmischung der Massen ist das entscheidende Merkmal einer Revolution, wie der russische Revolutionär Trotzki in seinem Meisterwerk Geschichte der Russischen Revolution erklärt:

«Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut oder schlecht, wollen wir dem Urteil der Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den objektiven Gang der Entwicklung gegeben sind. Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.» 

Trotzki, Vorwort zur Geschichte der Russischen Revolution, 1930.
Marxismus vs. Feminismus

Trotz zunehmender Radikalisierung und zahllosen Mobilisierungen sehen wir kaum Fortschritte für die Sache der Frau, geschweige denn eine Revolutionierung ihrer Verhältnisse. Woran liegt das? Immer breitere Schichten der Massen wollen die Verhältnisse ändern und suchen nach Antworten. Doch die Führung dieser Bewegungen lag in den Händen kleinbürgerlicher und bürgerlicher FeministInnen. Ihre Ideen bieten keinen Weg vorwärts, um mit diesem System der Unterdrückung zu brechen. Hinter dem Verbalradikalismus verstecken sich zutiefst reformistische Ideen, die die Bewegungen in die sicheren Bahnen des Systems lenken. Während die Gewerkschaften die Frauenfrage meist auf Brotfragen reduzieren und davon ausgehend behaupten, man könne die Frau im kapitalistischen Rahmen befreien, machen die Feministinnen sie zu einem Kulturkampf der Geschlechter. Die Schlussfolgerungen daraus sind immer reaktionär

Als Marxisten setzen wir uns energisch für die Befreiung der Frau ein und kämpfen gegen Ungleichheit und alle Erscheinungsformen von Unterdrückung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Aber wir tun dies immer von einem Klassenstandpunkt aus. Die Frauenunterdrückung ist untrennbar mit der Klassengesellschaft und mit dem Kapitalismus verbunden. Die Macht in der Gesellschaft liegt bei den Besitzern der Produktionsmittel. Solange die wirtschaftliche Macht der Gesellschaft unangetastet bleibt, wird sich nichts Grundlegendes ändern. Solange der Kapitalismus existiert, und solange es Klassen gibt, wird es Ungleichheit und Unterdrückung geben. Der einzige wirkliche Weg zur Befreiung der Frauen ist die sozialistische Weltrevolution. 

Bild: Socialist Appeal

Die Arbeiterklasse, das heisst die lohnabhängige Mehrheit der Bevölkerung, ist auf Grund ihrer Stellung in der kapitalistischen Produktion als Erschafferin des gesamten Reichtums die einzige Kraft, die zu diesem notwendigen Schritt fähig ist: den Kapitalisten das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu entreissen und damit ihre Macht zu brechen und sie durch eine demokratische Planwirtschaft unter der Führung und Kontrolle der Arbeiterklasse zu ersetzen. 

Das erfordert die grösste Einheit von Frauen und Männern der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Kapitalismus. Der Kampf für die Befreiung der Frau ist in unserer marxistischen Auffassung ein wesentlicher Teil des Klassenkampfes. Aber umgekehrt betonen wir auch, dass der Kampf für die Befreiung der Frau nur als Teil des allgemeinen Kampfes der Arbeiterklasse für den Sozialismus erfolgreich sein kann. 

Trotz dem Verbalradikalismus gewisser Feministinnen, können diese Ideen den Kapitalismus nicht sprengen und so die Ursache von Unterdrückung und Ausbeutung nicht beseitigen. In den Augen der meisten Menschen wird der Begriff «Feminismus» schlicht mit dem Anspruch gleichgesetzt, die Situation der Frauen in der Gesellschaft zu verbessern und auf die Befreiung der Frau hinzuarbeiten. Wir teilen diesen Anspruch voll und ganz und stehen an vorderster Front dieses Kampfes. Allerdings sind wir der Auffassung, dass die feministischen Theorien – über all ihre Unterschiede hinweg – diesem Anspruch gerade nicht gerecht werden können, ja mehr noch, ihm letztlich schaden. Der Grund dafür ist eine einseitige und beschränkte Herangehensweise an die Frauenfrage: die Frauenfrage wird reduziert auf einen Kampf zwischen den Geschlechtern, der unabhängig von der Klassenfrage betrachtet wird. Die fundamentale Trennlinie wird zwischen Frauen und Männern gezogen, statt zwischen der herrschenden Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse. Aber während Frauen zweifellos von den Männern unterdrückt werden, haben sowohl Frauen und Männer der Arbeiterklasse ein Interesse daran, den Kapitalismus zu stürzen und alle Formen der Unterdrückung zu überwinden. Die herrschende Klasse der Kapitalisten dagegen, steht ganz unabhängig von ihrem Geschlecht für die Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft. 

Die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen ist deshalb für die Bewegung der Frauenbefreiung ebenso hinderlich wie umgekehrt die Spaltung der Arbeiterklasse entlang der Geschlechter. So muss der Kampf zwingend innerhalb des Kapitalismus verharren. Die schädliche Auswirkungen dieser Ideen auf die Kampfkraft haben wir in den Frauenbewegung gesehen: Im Frauenstreik 2018 in Spanien hat die feministische Führung die männlichen Kollegen aufgefordert, nicht in den Streik zu treten, da das der «Sichtbarkeit der streikenden Frauen schade und damit die Frauenbewegung untergrabe». Tatsächlich geschieht genau das Gegenteil: Die Männer werden so zu Streikbrechern und untergraben damit den Streik als Kampfmittel, da dieser zum Ziel hat, die Produktion lahmzulegen und damit die Herrschenden dort zu treffen, wo es sie schmerzt: bei den Profiten der Kapitalisten. Dieselbe Strategie wiederholte sich im Frauenstreik in der Schweiz und anderen Ländern. 

Diese Ideen führen schlussendlich zur Spaltung, Atomisierung und Passivität der Arbeiterklasse und lenken die Bewegung in die sicheren Bahnen bürgerlicher Politik. Viele der heutigen Führungen sowohl der feministischen Bewegungen als auch der Gewerkschaften haben auch kein Interesse mehr am Sturz des Kapitalismus. Sie haben als Akademikerinnen oder in der Politik Karriere gemacht und sich mit ihren Pöstchen und einem guten Salair in diesem System eingerichtet. Sie sind zum Bremsklotz für die Befreiung der Frau geworden. 

Wir Marxistinnen und Marxisten haben es uns zur Lebensaufgabe gemacht, die Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden und alle Bedingungen zu studieren, die dafür notwendig sind. Den aktuellen Führungen stellen wir die Aufgabe gegenüber, eine revolutionäre Führung aufzubauen, die die Frauenbewegungen mit einem revolutionären Programm und Kampfmethoden für die wirkliche Befreiung der Frau bewaffnen kann! 

Die objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution

Die sozialistische Revolution wird oft als etwas Utopisches dargestellt. Es geht hier allerdings nicht um Wunschträume. Wie Goethe einst sagte: «Alles was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht.» Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft haben nicht schon immer existiert und die Geschichte der Zivilisation ist von grossen Umwälzungen geprägt. Das statische Denken ist unwissenschaftlich und reflektiert nur den tiefen Pessimismus gewisser Gesellschaftsschichten. Die tatsächliche Frage ist, was die Veränderungen in den Geschichte antreibt. Damit beschäftigt sich der Marxismus.

Karl Marx hat als erster erkannt, dass der Motor allen gesellschaftlichen Fortschritts die Entwicklung der Produktivkräfte ist, das heisst die Fähigkeit einer Gesellschaft, die notwendigen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung bereitzustellen. Diese materialistische, das heisst konsequent wissenschaftliche Herangehensweise an die Geschichte der menschlichen Gesellschaft, fasst Marx im Vorwort zu seinem Werk Zur Kritik der politischen Ökonomie zusammen: 

 «In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.» 

zitiert nach MEW, Band 13, 1971.

Marx erkannte in seiner Untersuchung der kapitalistischen Produktionsweise, dass die Bedingungen für die Überwindung des Kapitalismus vom System selbst geschaffen wurden. Worin bestehen diese Bedingungen? 

Der Kapitalismus entwickelte die Produktivkräfte in halsbrecherischer Geschwindigkeit. Der technische Fortschritt und die globale Arbeitsteilung schufen einen nie dagewesenen gesellschaftlichen Reichtum. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit kann mehr als genug produziert werden, damit jeder bekommen kann, was er braucht. Der Kapitalismus selbst hat damit die materielle Grundlage geschaffen für die Überwindung der Klassengesellschaft, von Ungleichheit und allen Formen der Unterdrückung – auch der Frauenunterdrückung. Er hat die Grundlage geschaffen für eine neue, höhere Gesellschaft, die die volle und freie Entfaltung des Potenzials aller Menschen ermöglicht. An die Stelle der anarchischen Produktion für den Markt, die den Profitinteressen einer Minderheit von Besitzern bedient, tritt die rationale Planung aller natürlicher Ressourcen unter demokratischer Kontrolle aller Produzenten; der Sozialismus.

Doch die gleichen Produktionsverhältnisse des Kapitalismus – das Privateigentum an Produktionsmittel und die damit verbundene Produktion für Profit –, die dieses riesige Potenzial für die Menschheit geschaffen haben, verhindern, dass dieses Potenzial verwirklicht werden kann. Der Widerspruch besteht eben gerade darin, dass die Produktion im höchsten Grade gesellschaftlich organisiert ist, während das gesellschaftliche Mehrprodukt privat von den Kapitalisten angeeignet wird. Der Kapitalismus ist heute zu einer gigantischen Fessel für die weitere Entwicklung der Menschheit geworden. Er kann sich nur aufrechterhalten, indem er immer breitere Schichten der Weltbevölkerung ins Elend stürzt. Der Kapitalismus steckt in einer organischen Krise, die sich in der nächsten Periode nur weiter zuspitzen wird.

Der Kapitalismus legte nicht nur die materielle Basis für eine höhere Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung; er schuf auch seinen eigenen «Totengräber». Der Kapitalismus beruht in der Hauptsache auf der Ausbeutung der Lohnarbeit für Profit. Dabei schuf er eine Arbeiterklasse, die heute in jedem Land die Mehrheit der Gesellschaft darstellt. Diese Klasse produziert den gesamten gesellschaftlichen Reichtum und diese Stellung in der Produktion macht sie zum revolutionären Subjekt, die die Produktionsmittel übernehmen und das Privateigentum in Kollektives umwandeln kann. Durch seine eigenen Gesetzmässigkeiten treibt der Kapitalismus die Arbeiterklasse immer wieder dazu, sich gegen dieses ausbeuterische System zu wehren und den Kampf für eine neue Gesellschaft aufzunehmen. Das ist die Periode, in die wir eingetreten sind: «eine Epoche sozialer Revolution».

Chile 2020: historische Mobilisierung am Frauenkampftag (Bild: Coordinator 8M)

Dies sind die objektiven Bedingungen der sozialistischen Revolution. Die Revolution ist nicht eine Frage unserer Wünsche oder Ideen. Sie ist ein objektiver Prozess, das heisst, er vollzieht auf der Grundlage der Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus, ob wir das wollen oder nicht. Aber die objektiven Bedingungen sind nur eine Seite in der Gleichung. Ob die Revolutionen siegreich sind, hängt ab vom Vorhandensein des subjektiven Faktors.

Die gesamte Geschichte des Klassenkampfes im Kapitalismus zeigt, dass revolutionäre Massenbewegungen alleine nicht reichen für eine siegreiche Revolution. Die Arbeiterklasse muss bewusst an die Aufgabe gehen, die Macht im Staat und über die Produktionsmittel zu übernehmen. Die Arbeiterklasse braucht ein eigenes Programm und eine eigene Partei, die diesen Aufgaben einen bewussten Ausdruck gibt und die immer grössere Schichten für diese Aufgaben organisiert. Das sind die subjektiven Bedingungen der der sozialistischen Revolution: Die revolutionäre Führung der Arbeiterklasse. 

Die Russischen Revolution von 1917 hat bis heute das einzige Beispiel einer erfolgreichen sozialistische Revolution geliefert, eben weil Lenin und die Bolschewiki eine Führung im Voraus aufbauten, die die Machtübernahme der Arbeiterklasse vorbereiteten. Trotzki fasst diese Aufgabe in der Kopenhagener Rede wie folgt zusammen:

«Das aktive Eingreifen der Massen in die Ereignisse bildet ja auch das unerlässlichste Element der Revolution. Aber selbst die stürmischste Aktivität kann im Stadium der Demonstration verbleiben, ohne sich auf die Höhe der Revolution zu erheben. Der Aufstand der Massen muss zur Niederwerfung der Herrschaft einer Klasse und zur Aufrichtung der Herrschaft einer anderen führen. Dann erst haben wir eine vollendete Revolution. Der Massenaufstand ist kein isoliertes Unternehmen, das man nach Belieben heraufbeschwören kann. Er stellt ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung der Revolution dar, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozess in der Entwicklung der Gesellschaft. Sind aber die Bedingungen des Aufstandes vorhanden, darf man nicht passiv, mit aufgerissenem Munde abwarten: auch in menschlichen Dingen gibt es, wie Shakespeare sagt, Flut und Ebbe.

Um das überlebte Regime hinwegzufegen, muss die fortschrittliche Klasse verstehen, dass ihre Stunde geschlagen hat und sich die Eroberung der Macht zur Aufgabe stellen. Hier erschliesst sich das Feld der bewussten revolutionären Aktion, wo sich Voraussicht und Berechnung mit Willen und Wagemut verbinden. Mit anderen Worten: hier erschliesst sich das Aktionsfeld der Partei.

Die revolutionäre Partei vereinigt in sich die Auslese der fortschrittlichen Klasse. Ohne eine Partei, die fähig ist, sich in der Umgebung zu orientieren, Gang und Rhythmus der Ereignisse abzuschätzen und rechtzeitig das Vertrauen der Massen zu erobern, ist der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich. Das ist die Wechselbeziehung der objektiven und der subjektiven Faktoren der Revolution und des Aufstandes.» 

Trotzki, Kopenhagener Rede

Die objektiven Bedingungen für die Revolution reifen in jedem Land heran. Die subjektiven Bedingungen jedoch hinken diesem Prozess hinterher. Als Teil der Internationalen Marxistischen Tendenz (IMT) sehen wir das als unsere wichtigste Aufgabe: Die bewusstesten Schichten der Arbeiterklasse – insbesondere die Jugend und proletarische Frauen – im Marxismus zu schulen und für die kommende sozialistische Revolution zu organisieren. Denn «ohne revolutionäre Theorie kann er auch keine revolutionäre Bewegung geben» (Lenin, Was tun).

Marxismus und Frauenbefreiung

Dieses Buch dient als Einstieg in die marxistische Analyse der Frauenunterdrückung und einer Auswertung der historischen Kämpfe zu ihrer Befreiung. Die Textsammlung besteht hauptsächlich aus Übersetzungen von theoretischen Artikeln verschiedener Sektionen der Internationalen Marxistischen Tendenz

Den Einstieg bildet ein Statement unserer italienischen Sektion Sinistra Classe Rivoluzione zu den aktuellen Bewegung gegen die Gewalt an Frauen. Anhand der italienischen Frauenbewegung, deren revolutionären Flügel sie aufbauen, erklären sie, dass die Bewegung ihre eigenen Ziele nur mit Klassenkampfmethoden und einem revolutionären Programm erreichen kann. Die Methode des Marxismus dient hier eben direkt als Werkzeug zur praktischen Umwälzung der Verhältnisse. 

Der zweite Artikel befasst sich mit dem Ursprung der Frauenunterdrückung. Gestützt auf den Klassiker von Friedrich Engels «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats» zeichnet Sarah Sattelberger die Entwicklung der Menschheit von «urkommunistischen» Gemeinschaften hin zur Entstehung der Klassen nach, die in direktem Zusammenhang mit der Entstehung der Frauenunterdrückung steht. Diese historische Analyse ist unbedingt notwendig, um  zu verstehen, dass die Überwindung der Frauenunterdrückung einhergehen muss mit der Überwindung der Klassengesellschaft als Ganzes. Die Frauenbefreiung ist also mit der Befreiung der Menschheit von der Klassenherrschaft untrennbar verbunden.

«Marxismus und die Befreiung der Frau» stellt das Herzstück dieses Buches dar. Ana Muñoz und Alan Woods untersuchen darin die ersten Schritte, die der Marxismus im Kampf für die Rechte der Frau unternommen hat, die Bedeutung der ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution für die Befreiung der Frau, die Lebensbedingungen von Frauen im Kapitalismus, sowohl in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern als auch in der sogenannten Dritten Welt; und schliesslich geben sie Antwort auf die Frage, wie die Frauenunterdrückung endgültig beseitigt werden kann.

«Vom Reisfeld ins Callcenter – Marxismus vs. Feminismus» von Sonia Previato gibt einen geschichtlichen Abriss der Kämpfe für die Frauenbefreiung; von den Anfängen der Frauenbewegung und der Abgrenzung der revolutionären von der bürgerlichen Herangehensweise an die Frauenfrage, über die Erfahrungen der proletarischen Frauen in der italienischen Arbeiterbewegung und dem Partisanenkrieg gegen den Faschismus, zu den «feministischen» Bewegungen der Nachkriegsperiode. Diese Erfahrungen zeigen, dass sich das Selbstbewusstsein und die Macht der Frauen in den kollektiven Massenkämpfen der vereinten Arbeiterklasse am stärksten entwickelt hat. Das zeigt, warum die marxistische Methode, den Kampf für die Frauenbefreiung als Teil des Klassenkampfes zu führen, der effektivste und einzige Weg vorwärts ist. 

Der Marxismus hat eine stolze Tradition der revolutionären Arbeit unter den Frauenmassen der Arbeiterklasse. Das wichtigste Beispiel dieser Arbeit liefern die Arbeit der Kommunistischen Internationale und der jungen Sowjetmacht bis zum Tode Lenins. Im Appendix drucken wir darum die «Thesen über die Methoden und Formen der Arbeit der Kommunistischen Parteien unter den Frauen» ab, die am Weltkongress 1921 verabschiedet wurden und den Kommunistischen Parteien der verschiedenen Länder als Auftrag und Anleitung dienten. 

Die Revolutionärin Clara Zetkin (Bild: Karl Pinkau)

Ebenso drucken wir eine Rede von Clara Zetkin von 1896 ab. Zetkin war Initiantin des internationalen Frauenkampftages, Herausgeberin der sozialistischen Zeitschrift «Gleichheit» und führte die revolutionäre Arbeit unter Frauen sowohl theoretisch wie praktisch in der Kommunistischen Internationale an. Sie erzog die weiblichen Arbeitermassen darin, dass ihre Befreiung nur einhergehen kann mit der Befreiung von der Klassengesellschaft – ebenso erzog sie die vor allem männliche Arbeiterbewegung, sich aktiv für das Programm der Frauenbefreiung einzusetzen und so den Kampf zu vereinen gegen den Kapitalismus.

Das letzte Wort überlasse ich der Revolutionärin:

«Die Frauenagitation ist schwer, ist mühsam, erfordert grosse Hingabe und grosse Opfer, aber diese Opfer werden belohnt werden und müssen gebracht werden. Denn wie das Proletariat seine Befreiung nur erlangen kann, wenn es zusammen kämpft ohne Unterschied der Nationalität, ohne Unterschied des Berufes, so kann es seine Befreiung auch nur erlangen, wenn es zusammensteht ohne Unterschied des Geschlechts. Die Einbeziehung der grossen Masse der proletarischen Frauen in den Befreiungskampf des Proletariats ist eine der Vorbedingungen für den Sieg der sozialistischen Idee, für den Ausbau der sozialistischen Gesellschaft.» 

Clara Zetkin: Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen

Olivia Eschmann

Bern, Mai 2022

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