Wir befinden uns heute inmitten einer der tiefsten Krisen, die der Kapitalismus je erlebt hat. Während die 99% für die Krise zur Kasse gebeten werden, häufen die 1% immer schneller und immer noch mehr Reichtum an. Das hohe Ausmass von Skandalen und Korruption im Establishment entfremdet Millionen von der traditionellen Politik. All dies verursacht ein Hinterfragen der kapitalistischen Gesellschaft. Viele suchen nach Alternativen zum existierenden System, und eine wachsende Zahl sucht die Antwort im revolutionären Sozialismus.

Für viele ist klar, gegen was wir kämpfen: Korruption, Krise und Abbaupolitik; aber es kann schwerer sein, auszudrücken oder sogar sich vorzustellen, für was wir kämpfen. Konkret: Wie könnte eine neue Gesellschaft funktionieren? Wie würden unsere individuellen Leben davon betroffen sein? Wie wird der Sozialismus aussehen?

Dieser Artikel ist der erste Teil einer Serie zum Thema „Wie wird der Sozialismus aussehen?“ Teil 2 | Teil 3 | Teil 4

MarxistenInnen sind keine Wahrsager. Wir können die Zukunft nicht mit absoluter Sicherheit voraussagen und deshalb können wir nicht sagen, wie der Sozialismus genau aussehen wird. Zum Beispiel, wenn wir über die Familie unter dem Sozialismus sprechen, sagt Engels „[die Ordnung der Geschlechterverhältnisse im Sozialismus] wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht [lies: Generation] herangewachsen sein wird […]. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen – Punktum.“ Die Gesellschaft wird nicht von den Spekulationen vergangener Generationen gestaltet, sondern durch die Entscheidungen und Taten der Gegenwart.

Nichtsdestotrotz ist es doch möglich einige Schlussfolgerungen zu ziehen, wie der Sozialismus aussehen wird, da MarxistInnen wissenschaftliche SozialistInnen sind, die eine materialistische Analyse an der Entwicklung von Geschichte und Gesellschaft anwenden. In anderen Worten, wir können Hypothesen aufstellen über die Zukunft, basierend auf Anhaltspunkten aus der Vergangenheit und Gegenwart. Dies ist keine exakte Wissenschaft – genau wie ein Arzt nicht sagen kann, wann ein Patient sterben wird oder ein Geologe nicht das Datum des nächsten Erdbebens oder Vulkanausbruchs sagen kann, so kann einE MarxistIn nicht exakt vorhersagen, wann eine Revolution ausbrechen wird oder welche spezifische Form sie annehmen wird. Aber genau wie man durch das betrachten eines Kindes ungefähr sagen kann, was für eine Art Erwachsener er oder sie möglicherweise wird, können wir durch das Betrachten der kapitalistischen Gesellschaft sehen, wie eine mögliche sozialistische Gesellschaft aussehen wird.

Schon jetzt können wir den Keim des Sozialismus im Kapitalismus sehen. Indem wir untersuchen, was für Widersprüche und Hürden der Kapitalismus – ein System des Privatbesitzes und der Produktion für Profit – der Gesellschaft aufbürdet, können wir sehen, was die Möglichkeiten für eine zukünftige, sozialistische Gesellschaft sein könnten; eine Gesellschaft, in welcher diese Hürden entfernt sind und in welcher die Produktion sich nach den Bedürfnissen der Menschen richtet.

Eine Wirtschaft ohne Profit
Wirtschaftliche Entwicklung ist die materielle Voraussetzung für die Entwicklung aller anderen Aspekte der Gesellschaft. Ohne genügende Entwicklung der Produktivkräfte – der Industrie und der Landwirtschaft; der Technologie und der Technik – wird eine Gesellschaft nicht über die materiellen Bedingungen verfügen und die nötigen Mittel um auf den Gebieten der Wissenschaft, Kunst, Kultur, Philosophie etc. voran zu kommen. Dies ist der fundamentale Grundsatz der marxistischen – also der materialistischen – Sicht der Geschichte.

Der Kapitalismus ist aufgrund seiner Widersprüche und der daraus resultierenden Anarchie und Ineffizienz nicht länger imstande, diesen grundlegendsten Aspekt der Gesellschaft zu entwickeln. Milliarden Pfund, Dollar, Euro, Franken etc. sind im Crash von 2008 verloren gegangen. Dieser wurde nicht durch individuelle Gier oder Ideologie verursacht, sondern durch die inhärenten Mechanismen des Kapitalismus selbst. Es folgte Stagnation der wirtschaftlichen Produktivkräfte auf globaler Ebene. Dies hat viele Länder in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung um Jahre oder gar Jahrzehnte zurückgeworfen – in Grossbritannien zum Beispiel bleiben die wirtschaftlichen Investitionen 25% unter den höchsten Werten vor der Krise und das Baugewerbe ist 10% niedriger.

Der Kapitalismus ist unfähig, die Kräfte der wirtschaftlichen Produktion in ihrem ganzen Potential zu entwickeln. Die Kapazitätsverwertung der Produktivkräfte in entwickelten Ländern liegt im Moment bei 70-80% und das sogar nach der Schliessung weiter Teile der Produktion und dem Verlust von Millionen von Stellen. Quer durch die Welt steht die durchschnittliche Kapazitätsverwertung bei 70%. Dies bedeutet, dass wir im Moment die Fähigkeit hätten, den globalen wirtschaftlichen Output um fast 50% zu erhöhen, einfach durch die Nutzung der existierenden Kapazität der Wirtschaft. Trotz der Tatsache, dass Leute auf der ganzen Welt dringend Essen, Unterkunft, Gesundheitsversorgung und andere grundlegende Güter benötigen, wird die Kapazität nicht ausgeschöpft. Tatsächlich sprechen viele bürgerliche Ökonomen heute von Überkapazität – das bedeutet, die Wirtschaft ist fähig, zu viel zu produzieren (aus der Sicht des Marktes) und es müsse noch mehr gekürzt werden, deshalb die Schliessungen und Stellenverluste.

Der Grund für diesen Widerspruch ist der Profit. Unter dem Kapitalismus wird die Wirtschaftskraft der Gesellschaft nur benutzt, um Güter zu produzieren, welche für Profit verkauft werden können; falls dies nicht getan werden kann wird nichts produziert. Die Besitzer der Produktionsmittel würden eher ihre Geschäfte ungenutzt lassen als mit Verlust zu produzieren, sogar wenn die Dinge, die produziert werden würden, verzweifelt gebraucht würden. Die kapitalistische Wirtschaft wird vom Profit und nicht vom Bedarf regiert und aus diesem Grund ist sie höchst ineffizient darin, den Bedarf der Gesellschaft zu decken, entgegen dem was die Verteidiger des Kapitalismus behaupten. Uns wird oft gesagt, dass der Kapitalismus das effizienteste aller Wirtschaftssystem sei – doch wenn das wahr wäre, warum stehen dann Fabriken und Büros ungenutzt und leer, obwohl sie eine Fülle an Gütern und Dienstleistungen produzieren könnten, welche die Gesellschaft braucht?

Wenn der Profit aus der Gleichung entfernt würde, gäbe es keine Grenzen, alle Produktionsmittel in ihrem vollen Umfang zu unserer Verfügung zu benutzen. Diese Idee einer Wirtschaft, die nicht durch Profit getrieben wird, gibt uns einen ersten Eindruck, wie Sozialismus aussehen wird.

Kapitalismus = Armut inmitten von Überfluss
Die globale Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 200 Millionen; aber in Wirklichkeit liegt die Zahl der Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten näher bei einer Milliarde. Diese Leute sind weder ohne Beschäftigung weil sie unfähig sind zu arbeiten, noch weil es keine Arbeit gibt, die getan werden muss, sondern einfach weil es nicht profitabel ist, sie anzustellen.

Währenddessen zeigen Statistiken von 2012, dass 24% der Menschen in Grossbritannien zwei Jobs haben, wovon 90% den zweiten Job brauchen, weil das Einkommen von nur einem Job nicht ausreicht. 2012 gab es einen Anstieg von 37.4% an Menschen, welche Rekrutierungswebsites beigetreten sind um nach einem Zweitjob zu suchen. Mit Inflation, Lohnstopps und Niedriglöhnen ist dies ein Trend, der sich in der Zukunft fortsetzen wird. Es ist ein eklatanter Widerspruch des Kapitalismus, dass manche Menschen gezwungen sind, für zwei Jobs zu arbeiten während Millionen arbeitslos bleiben – eine Absurdität geboren aus der Jagd nach Profit.

Ohne die Hürde des Profits könnte diesen Milliarden arbeitslosen und unterbeschäftigten Menschen ein produktiver Job gegeben werden. Jeder wäre imstande, zu einem höheren Standard in nur einem Job zu arbeiten und genügend Menschen wären übrig, um viele weitere Jobs zu erschaffen. Auf dieser Basis könnten die Produktivkräfte zusätzliche menschliche Arbeit erhalten und der wirtschaftliche Ertrag würde drastisch erhöht.

Es gibt weitere absurde Widersprüche dieser Art unter dem Kapitalismus. 6’500 Menschen allein schlafen auf Londons Strassen, ein Anstieg von 77% seit 2010; andere Formen der Obdachlosigkeit steigen ebenfalls an, Anträge von Haushalten für gesetzliche Obdachlosigkeit stiegen um 26% auf 111’960 in England, plus 38’500 Plätze in Hostels, die von Obdachlosen besetzt werden. Aber zur selben Zeit gibt es laut Regierunsangaben 610’000 leere Wohnungen in England. Warum gibt es eine steigende Epidemie von Obdachlosigkeit neben einer steigenden Zahl leerer Häuser? Häuser werden nur an Menschen verkauft oder vermietet, die es sich leisten können, dafür zu bezahlen, unabhängig davon, ob sie einen Ort zum Leben brauchen. Für die Kapitalisten ist es eine Frage des Profits, nicht des Bedarfs.

Die dadurch verursachte grauenhafte menschliche Verschwendung wird ergänzt durch die materielle Verschwendung durch Orte wie der Bishop’s Avenue in London, der zweitteuersten Strasse in Grossbritannien, wo ein Drittel der Wohnungen leer steht, wobei manche von ihnen baufällig geworden sind, weil sie für 25 Jahre unbewohnt blieben. Diese Häuser werden als Anlagen für Gewinn gehalten, nicht als Heim für Menschen um darin zu leben. Da sind 350 Millionen Pfund an Besitz, die in ein Ödland verwandelt wurden – das Resultat einer Wirtschaft, die auf Profitstreben basiert.

Solch eine Wirtschaft steht auch einer technologischen Entwicklung und den Einsatz von Maschinen im Weg. Maschinen kaufen keine Verbrauchsgüter, und deshalb muss die Bourgeoisie, wenn sie einen Markt für ihre Güter haben wollen, eine bestimmte Anzahl an Menschen als Arbeiter anstellen. Im Kapitalismus führt die Einführung von Maschinen und Technologie dazu, dass Arbeit verlagert wird, was in (technologisch bedingter) Massenarbeitslosigkeit für manche und intensiver Überarbeitung für die Übriggebliebenen resultiert. Ohne Profitzwang könnten Maschinen entwickelt werden, um die gefährlichen und dreckigen Jobs zu erledigen, die niemand anderes machen möchte, was durch die Automatisierung die Zeit vieler weiterer Menschen frei macht, sich mit anderen wirtschaftlich produktiven Tätigkeiten zu beschäftigen, sowie die wöchentliche Arbeitszeit zu reduzieren und dadurch echte Freizeit zu generieren. Die gezwungene Untätigkeit der Arbeitslosigkeit (oder Unterbeschäftigung), welche wir unter dem Kapitalismus sehen, würde ersetzt durch freiwillige Freizeit.

Der Profit steht im Kapitalismus der Verteilung sowie der Produktion im Weg. Die berühmt-berüchtigten „Berge“ und „Seen“ von überschüssigen Nahrungsmitteln, die in der EU produziert werden, erreichten 13’476’812 Tonnen Getreide, Reis, Zucker und Milchprodukte und 3’529’002 Hektoliter Alkohol/Wein in 2007. Während diese überschüssigen Nahrungsmittel sich auftürmen und die Landwirtschaftspolitik der EU benutzt wird, um Bauern dafür zu bezahlen, nicht zu produzieren, sterben jedes Jahr sechs Millionen Kinder an Unterernährung. Es gibt keinen logischen Grund, fruchtbares Land in manchen Ländern nicht zu nutzen um Nahrung zu produzieren um sie an Menschen in kargeren Umgebungen zu verteilen. Der einzige Grund es nicht zu tun ist, weil es nicht profitabel ist und weil die enorme Hürde des Nationalstaats eine echte internationale Lösung verhindert. Unter dem Kapitalismus wird es vorgezogen, Nahrungsmittel zu verschwenden, als jene zu ernähren, die sie am dringendsten benötigen.

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