Seit jeher nimmt die Frage des Staates und seiner Klassennatur eine zentrale Rolle im Entwickeln sozialistischer Taktik ein. Es liegt in der Natur des Staates, dass zu normalen Zeiten die grosse Masse der Bevölkerung seine Existenz oder seine Berechtigung gar nicht hinterfragt. Die Frage nach dem Charakter des Staates bleibt Heute jedoch auch von vielen„Linken“ unbeachtet. Doch wir leben nicht mehr in normalen Zeiten. Mit einer zweiteiligen Serie zu dem Thema möchten wir die grundlegende Haltung von MarxistInnen zum Staat aufzeigen. Der 2. Teil ist in der aktuellen Ausgabe des Funken zu finden.

Basis und Überbau

Wir Menschen leben und arbeiten in Gemeinschaft. Um die kollektive Arbeitsteilung zur Befriedigung der allgemeinen Bedürfnisse der Menschheit entwickelten sich ganz besondere historische Organisationsformen des Zusammenlebens. In der marxistischen Theorie werden diese beiden Elemente der menschlichen Gesellschaft als Basis und Überbau bezeichnet. Marx definiert die Basis in seinem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie als „Gesamtheit der Produktionsverhältnisse“, also als ökonomische Struktur einer Gesellschaft auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte (Werkzeuge, Maschinen, etc.). Der Überbau entspricht wiederum der Art der Organisierung dieser Produktionsverhältnisse und beinhaltet vor Allem die Eigentumsverhältnisse, die herrschenden Ideen, die Kultur und letztendlich auch den Staat. Obwohl in der marxistischen Methode, im historischen Materialismus, der Überbau aus der Basis entwächst, bedeutet dies nicht, dass hier ein einseitiges Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung besteht. Der Überbau hat die fundamentale Aufgabe, die materielle Basis der Produktion und damit die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse zu kogservieren. Basis und Überbau sind demnach untrennbar miteinander Verbunden und bedingen sich Gegenseitig.

Ursprung des Staates

Der Staat nimmt eine entscheidende Rolle im Verhältnis des Überbaus zur gesellschaftlichen Produktionsweise ein. Dies wird klar, wenn wir uns seinen Ursprung anschauen. Zu einer bestimmten Stufe der sozialen Entwicklung der Menschheit entstand der Staat als Resultat der Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Während in den primitiven Gesellschaften der Jäger und Sammler praktisch die Gesamtheit der angehäuften materiellen Güter (Fleisch, Beeren, Holz, etc.) sofort zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse verbraucht wurde und somit kein bedeutender gesellschaftlicher Überschuss entstehen konnte, änderte sich dies mit der Einführung von Tierhaltung und Ackerbau. Durch diese Änderungen der „Produktionsweise“ konnte ein gewisser Überschuss erwirtschaftet werden und eine gewisse Arbeitsteilung konnte dadurch vorangetrieben werden. Ein Teil der Gesellschaft sah sich dank diesem Überschuss von der unmittelbaren Reproduktionsarbeit (Arbeit zur Befriedigung der Grundbedürfnisse) befreit und begünstigte weiter das Entwickeln primitiver Werkzeuge und neuer Techniken. Diese Gesellschaftsschicht konsumierte einen Teil des Überschusses, der zweite Teil wurden über verschieden Mechanismen, wie etwa der Möglichkeit der Vererbung, zur Grundlage des Privateigentums und der Etablierung sozialer Hierarchien. Dadurch wurden diese Gesellschaftsschichten zur herrschenden Klasse. Was vorher Gemeinschaftseigentum war (Konsumgüter und Werkzeuge) wurde zum Privateigentum und die primitive Gesellschaft verwandelte sich in eine Klassengesellschaft mit Besitzenden und Besitzlosen.

Wenn wir den Ausspruch von Marx im ersten Band des Kapitals nehmen, wonach der Kapitalismus bluttriefend geboren ist, so ist davon auszugehen, dass sich die Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses durch eine Minderheit in dieser frühen Entwicklungsstufe der Menschheit auch auf äusserst brutale Weise vollzog. Dieser Prozess der Enteignung einer Mehrheit durch eine Minderheit der Gemeinschaft ging bestimmt nicht widerstandslos über die Bühne. Für die von der Reproduktionsarbeit befreite Schicht war die Bildung besonderer Formen bewaffneter Menschen zur Beschützung ihrer gesellschaftlichen Position und ihres aus der Arbeit der Gemeinschaft gezogenen Reichtums entscheidend, im Gegensatz zu dem was Engels die „selbsttätigen bewaffneten Organisationen“ nennt, also die bewaffnete Gemeinschaft. In seiner primitivsten Form ist der Staat demnach ein blosses Instrument zum Schutz des Privateigentums der herrschenden Klasse und somit Grundbestandteil jeder Klassengesellschaft. Je nach Entwicklungsstand der Produktivkräfte und ihrer entsprechenden Organisationsform der Produktion sind auch unterschiedliche Eigentumsverhältnisse dominierend. Auf Grundlage dieser kennen wir aus der Geschichte verschiedenste Formen von Klassenherrschaft und von Staaten, von der auf Sklavenhaltung aufbauenden antiken Klassengesellschaft (griechisches und römisches Reich) über den Feudalismus zum Kapitalismus kennen wir unterschiedlichste Herrschaftsformen.

Bürgerliche Revolution und Gesellschaft

Wie wir oben bereits erklärt haben, geht der Ausbildung des Staates ein gradueller Wechsel der objektiven Bedingungen, der Art der Produktion, vor. Es brauchte die neolitische Revolution und somit einen Sprung der Produktivität, sowie einen Kampf zwischen den Klassen, bis sich die Herrschaft einer Klasse über die gesamte Gesellschaft durchsetzen konnte. Dies ist das Muster gesellschaftlicher Veränderung, welches sich auch in der neueren Geschichte finden lässt. Man denke an die Konflikte zwischen Adel und Bourgeoisie, dem Klassenkampf zwischen der niedergehenden und der damals aufstrebenden Klasse, welche letztendlich zu den bürgerlichen Revolutionen in Europa und zur Etablierung bürgerlicher Gesellschaften führte. Die im Feudalismus vorherrschende Leibeigenschaft und das Ständewesen wurden ab dem 17. Jahrhundert zunehmend zu einem Hindernis der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte. Damit eine solche möglich wurde ersetzte die bürgerliche Revolution die persönlichen Beziehungen zwischen Herren und Leibeigenen und Zünften durch den Arbeits- und Gesellschaftsvertrag. Die ArbeiterInnen konnten nun „freiwillig“ entscheiden, wem sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Dieses fiktive Bild der freiwilligen Beziehung zwischen LohnarbeiterIn und Patron ist Teil der Verzerrung und Verschleierung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, ganz davon abgesehen, dass der Verkauf der Arbeitskraft unter dem Kapitalismus ein Zwang, eine Notwendigkeit zum Überleben ist und keineswegs freiwillig. Der Staat nimmt hier wieder eine ganz besondere Rolle ein, indem er das Privateigentum und die individuelle „Freiheit“ über die Gemeinschaft stellt, fördert er aktiv das Bild des egoistischen, atomisierten Menschen und damit auch das Bild, welche diese vom Staat haben. Er wird als autonome Instanz wahrgenommen, welche gegenüber sozialen Ungleichheiten neutral ist. Diese Verschleierungen helfen massgeblich mit, die Herrschaftsbeziehungen zu zementieren. Er ist keineswegs eine Instanz welche es vermag, die Klassen auszusöhnen, er vermag lediglich die Kämpfe zwischen den Klassen zu unterdrücken, zugunsten der besitzenden und ausbeutenden Klasse. Er ist ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ der Unterdrückung der einen Klasse (Proletariat) durch die Andere (Bourgeoisie)

Die Realität dieser Klassenherrschaft und der Rolle des Staates, sowie die Herangehensweise an die Frage durch MarxistInnen, wird in einem Auszug aus dem Parteiprogramm der SPS von 1920 ziemlich deutlich. „So vermag der kapitalistische Staat dem Arbeiter weder ein ausreichendes Existenzminimum noch befriedigendes Obdach, weder sichere Arbeitsgelegenheit noch genügende Fürsorge auf die Tage der Krankheit, der Invalidität und des Alters zu verschaffen, geschweige denn, ihn aus der Lohnsklaverei zu befreien.“ Dieses Zitat trifft Heute den Nagel wieder auf den Kopf. Nachdem über eine gewisse Zeit fortschrittliche Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen erkämpft werden konnten, sieht die Realität nun wieder anders aus. Die quasi-permanenten Angriffe auf die Sozialversicherungen, die Explosion der Anzahl an Working-Poor, etc., sprechen Bände dafür, wessen Interessen der Schweizer Staat vertritt. Hart erkämpfte progressive Reformen werden vom Staat sogleich unter Angriff genommen, wenn sie zu einem Hindernis der Profitinteressen der Kapitalisten werden.

Wie wir weiter oben geschrieben haben bedingen sich Basis und Überbau gegenseitig und wie wir Heute sehen, reflektiert sich die Wirtschaftskrise auch in einer politischen Krise. Das Leben im Kapitalismus wird nicht nur je länger je mehr zu einem persönlichen Abquälen der Lohnabhängigen und zu einem Abzocken durch die Bourgeoisie. Engels schrieb 1884 in seinem Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: „Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird.“ Wir sehen Heute, dass die Existenz von Klassen, die bürgerliche Herrschaft in der Wirtschaft und im Staat, aufgehört hat eine Notwendigkeit zu sein. Sie ist kein positives Hindernis mehr, sondern ein Hindernis welches ab der Misere der grossen Mehrheit der Bevölkerung aufplustert. Doch er schreibt weiter „Sie (die Klassen) werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“ Wir haben aus der Erfahrung von 200 Jahren Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie gelernt, dass die Klassen nicht von selbst fallen, sondern dass es die bewusste Aktion der ArbeiterInnenklasse braucht, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu beenden. In unserer nächsten Ausgabe gehen wir auf die Frage ein, wie die ArbeiterInnenklasse mit der Herrschaft der Bourgeoisie brechen kann und was die Grundlage für das Absterben des Staates ist.

Magnus Meister, Unia Regio-Vorstand Genf