Die Wahlen in Griechenland haben den erhofften linken Wahlsieg gebracht. Welchen Weg wird die Linke gehen? Martin Wieland behauptet, dass es Alexis Tsipras frei stehen würde, einen Prozess in Richtung Überwindung des Kapitalismus einzuleiten. Damit tut sich auch die Frage auf, wie gross die menschliche Handlungsfreiheit ist?

Jeder Mensch ist ständig damit konfrontiert zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu wählen. Dies gilt im Alltag, aber natürlich auch in der Politik. Die Freiheit zwischen verschiedenen Optionen auswählen zu können, gehört zur Essenz der Politik in einer Demokratie. Warum sollten wir sonst über Programme und Massnahmen streiten? Warum sollte es Abstimmungen geben? Warum sollten wir uns überhaupt Gedanken über die Zukunft unserer Gesellschaft machen, wenn alles von vornherein determiniert ist?

Doch wie weit geht diese Freiheit? Es hat ja niemand eine göttliche Vollmacht, um alles zu veranlassen, wie es ihm beliebt. Wo bestehen aus marxistischer Sicht die Grenzen der menschlichen Freiheit? Karl Marx lieferte auf diese Frage eine richtungsweisende Antwort: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Dieses Zitat von Marx aus dem 1. Kapitel seines Buches „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ führt zu einem zentralen Punkt seiner Philosophie.

Blinde Naturgesetze

Schon in seinen Frühschriften, den erst posthum veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, beschäftigte sich Marx mit dem Problem der sogenannten Vergegenständlichung. Der Mensch schafft durch seine Arbeit Produkte, die ohne seine ureigene Anstrengung, ohne seinen freien Entschluss und vorrausschauende Planung niemals entstanden wären. Doch diese Produkte führen ein Eigenleben (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Heft 1). Sie schaffen durch ihre schiere Existenz neue Voraussetzungen für menschliches Handeln. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Die Produktion von Smartphones war der bewusste Entschluss ihrer Erfinder und Konstrukteure. Doch lag die grosse Veränderung im alltäglichen Verhalten von Millionen komplett in ihrem bewussten Wollen?

Die Macht der Arbeitsprodukte über den Menschen ist aber noch unendlich viel weitreichender und unüberschaubarer, als es dieses Beispiel erahnen lässt. Es ist vor allem die Arbeitsteilung, mitsamt ihren Mechanismen, wie die Produkte in der Gesellschaft verteilt werden und welche gesellschaftliche Klasse die Verfügungsgewalt über den Überschuss an Produkten hat, die für die Komplexität unserer Verhältnisse sorgt. Diese vielschichtige Arbeitsteilung, die im Kapitalismus ihren Höhepunkt erlangt, schafft den ganz speziellen geschichtlichen Rahmen, mit seinen ganz spezifischen Grenzen für das freie menschliche Handeln. Die Philosophinnen und Philosophen der Frankfurter Schule führten für dieses Phänomen das Wort „Verdinglichung“ ein. Sie meinten damit nichts anderes als Marx mit seinem Begriff der „Entfremdung“. Die ArbeiterInnenklasse stellt weltweit zig Milliarden von Produkten her, und das Tag für Tag. Das heisst sie steckt tagtäglich ihre Energie in die Produktion von Gegenständen, die ihrer Verfügungsgewalt komplett entzogen sind. Selbst die Güter für den persönlichen Gebrauch können die ArbeiterInnen nur beziehen, insofern die Kapitaleigner gewillt sind, sie ihnen in Form des Lohnes auszuzahlen. Aber auch die Kapitalistinnen und Kapitalisten sind letztlich der Produktion, deren Überschuss sie sich privat aneignen, entfremdet. Die KapitalistInnenklasse steht ratlos vor dem Chaos ihres eigenen Wirtschaftssystems. Sind nicht der gesamte Verlauf des 20. Jahrhunderts mit seinen Wirtschaftskrisen und den beiden Weltkriegen oder die jüngsten Katastrophen im Nahen Osten beredte Beispiele dafür, dass sie die Geister, die sie rief, eigentlich niemals bändigen konnte?

In einer Klassengesellschaft erscheinen also die gesellschaftlichen Produktivkräfte „als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, – was darin seinen Grund hat, dass die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind“. Und daher: „Die soziale Macht, d.h. die vervielfältigte Produktivkraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen – weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist – nicht als ihre eigne vereinte Macht, sondern als eine fremde, ausser ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können…“ (Marx, Die Deutsche Ideologie)

In jeder Klassengesellschaft haben die Menschen den Eindruck, dass „blinde Naturgesetze“ ihr Dasein bestimmen. Die „Dinge und Verhältnisse“ und nicht „der Wille der Beteiligten“ (Friedrich Engels) scheinen entscheidend zu sein.

Trotzdem betonte Friedrich Engels: „Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel.“ (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“)

Für Marx und Engels war die letzten Endes entscheidende Determinante des gesellschaftlichen Geschehens die ökonomische. Sie stellt eine Art geschichtliche „Notwendigkeit“ dar. Diese Notwendigkeit aber kann sich nur behaupten, wenn sie sich erst den gesellschaftlichen „Überbau“ — in Gestalt des Staates, Rechtes usw. — dienstbar macht, wenn bestimmte gesellschaftliche Klassen, politische Parteien usw. als ihre (bewussten oder unbewussten) Wortführer oder „Träger“ auftreten. Daher die gewaltige Bedeutung der sozialen und politischen Kämpfe sowie der sie leitenden Parteien und „Ideologen“. Wenn die geschichtliche Notwendigkeit sich automatisch Bahn brechen könnte, dann wären die politischen Kämpfe und die „grossen Persönlichkeiten“ für den Ausgang der Geschichte entbehrlich.

Sein und Bewusstsein

Das Bewusstsein ist also eine wichtige Kategorie im Marxismus. Im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ drückte Marx die Sachlage folgendermassen aus: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

Die Ideen und die Handlungen der Menschen werden durch soziale Beziehungen bedingt. Deren Entwicklung hängt nicht vom subjektiven Willen der Menschen ab, sondern ist das Ergebnis bestimmter Prozesse, die in letzter Instanz die Erfordernisse der Entwicklung der Produktivkräfte widerspiegeln. Die Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren ergibt ein komplexes Netz, das oft nur sehr schwer zu durchschauen ist. Das Studium dieser sozialen Beziehungen ist die Grundlage der marxistischen Geschichtswissenschaft.

Daraus ergibt sich auch, dass Marx der erste Theoretiker war, der verstand, dass der Sozialismus nicht nur eine gute Idee war, sondern dass der Sozialismus aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte, die in ständigem Widerspruch zu den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und dem bürgerlichen Nationalstaat geraten, eine historische Notwendigkeit darstellt. Dieser Widerspruch liegt der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus zugrunde. Daraus ergibt sich auch, dass eine Politik, die den Lebensbedürfnissen der griechischen Bevölkerung den Vorrang geben will, den Kapitalismus wird überwinden müssen.

Exkurs zur Freiheit

An dieser Stelle wollen wir erneut die Frage aufwerfen, wie es nun um die menschliche Freiheit bestellt ist. Eine Definition der Freiheit könnte lauten: Sie ist das Bewusstsein über die Möglichkeiten der materiellen Entwicklung und deren materiellen Beeinflussung. Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. die Geschichte des Kapitalismus zeigt ein gewaltiges Arsenal der Möglichkeiten des Menschen auf, der Materie seinen Willen aufzuzwingen. In vielen Bereichen wurde somit die Herrschaft des Unbewussten durchbrochen und das Licht des Bewusstseins, die menschliche Vernunft, begann die Zusammenhänge zu begreifen und zu beeinflussen. Doch sie kratzte bisher nur an der Oberfläche. Ungeachtet ihrer gewaltigen Eroberungen im Bereich der menschlichen Produktion hat es die bürgerliche Klasse bisher nicht geschafft, sich über ihren eigene Herkunfts- und Reproduktionsbedingungen vorurteilslos Rechenschaft zu geben. Es ist dies geradezu eine aus der historischen Erfahrung abgeleitete, grundlegende Erkenntnis von Marx, dass bisher keine herrschende Klasse freiwillig ihren Herrschaftsanspruch aufgab, selbst wenn mit der Fortdauer ihrer Herrschaft die Lebensbedingungen der Gesellschaft als Ganzes untergraben werden. Das gesellschaftliche Sein bestimmt eben das Bewusstsein. Das Bewusstsein von der Notwendigkeit der sozialen Umwälzung der Gesellschaft kann nur gegen den Willen der herrschenden Klasse zum Durchbruch kommen, und zwar durch eine Klasse, die durch keine materiellen Interessen an den jetzigen Zustand der Gesellschaft gebunden ist.

Auch zum jetzigen Zeitpunkt wären die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu berufen. Doch sind sie in der jüngsten Geschichte bisher nicht immer damit gescheitert? Diese Niederlagen brachten einen pessimistischen Grundzug in den sogenannten westlichen Marxismus bzw. die kritische Theorie der Frankfurter Schule und wiegen bis heute ganz besonders schwer auf dem Linksreformismus, dessen wichtigster Vertreter derzeit SYRIZA ist. Man sprach angesichts von Katastrophen wie Holocaust und Hiroshima von der „Dialektik der Vernunft“. Die menschliche Vernunft bringe im Laufe ihrer Entwicklung wieder neue Mystifikationen. Die Vernunft habe selbst wieder Schattenseiten, die ihr nicht bewusst wären. Der Mensch könne zwar die Welt aus den Angeln heben, doch sich selbst bleibe er auf ewig ein Rätsel. Die kritische Theorie rührte mit diesen Worten an einem wahren Problem, ohne es aber klar zu nennen. Denn nicht die menschliche (Selbst)Erkenntnisfähigkeit scheiterte auf der gesamten Linie, sondern die bürgerliche Gesellschaft, die sich spätestens ab dem 1. Weltkrieg gegen jegliche grundlegende Vernunft und menschlichen Selbsterkenntnis stellte.

Rolle der Persönlichkeit

Die Frage der menschlichen Handlungsfreiheit ist natürlich untrennbar mit der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte verbunden. Der Marxismus misst entgegen all den Vorwürfen, er würde einem ökonomischem Determinismus das Wort reden, dem Individuum eine sehr grosse Rolle bei. Der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb in seinem „Tagebuch im Exil“: „Wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, dass Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung übernommen hätte. Wären aber sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend gewesen, so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben.“

Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Lenin zu Beginn der Revolution in der Bolschewistischen Partei in der Minderheit war und die Mehrheit um Stalin und Kamenew eine sozialistische Revolution unter den konkreten Bedingungen ablehnte.

War also die Anwesenheit einer Person zum richtigen Zeitpunkt eine unerlässliche Voraussetzung für ein so bedeutendes historisches Ereignis wie die Oktoberrevolution? Hätte Lenin der sprichwörtliche Ziegelstein am Kopf getroffen, wäre dann die Revolution ausgeblieben? Hier besteht die Gefahr, dass wir eine langfristige Entwicklungstendenz mit einem einmaligen historischen Ereignis verwechseln. Ein historisches Ereignis (wie z.B. der Oktoberaufstand 1917) kann sehr wohl durch die Beseitigung oder die Unfähigkeit führender Persönlichkeiten zunichte gemacht werden; eine historische Tendenz aber nur, wenn die vom Wollen und Wissen der Beteiligten unabhängigen objektiven Verhältnisse einen anderen historischen Ausweg, eine Alternativlösung gestatten. Ob eine solche Lösung möglich und von Dauer ist, hängt letzten Endes nicht vom Willen der Führer, sondern von der Gesamtheit der ökonomischen und sozialen Bedingungen des betreffenden Landes ab, — also davon, ob die allgemeinen Entwicklungstendenzen stark und tief genug sind, um sich trotz aller Hindernisse durchzusetzen.

Wie war es nun möglich, dass Lenin eine derart zentrale Rolle in der Russischen Revolution zukam? Sein persönlicher Antrieb zum politischen Engagement war zweifellos (unter anderem) der Tod seines älteren Bruders, der aufgrund seiner revolutionären Tätigkeit vom Zarenregime hingerichtet wurde. Lenin wandte sich jedoch nicht, wie sein Bruder, dem revolutionären individuellen Terror zu, sondern eignete sich den revolutionären Marxismus an. Eine Triebfeder seiner Entwicklung war das Verlangen nach einem umfassenden Verständnisses der Entfaltung des Kapitalismus in Russland. Dadurch gelangte er im weiteren Verlauf der Jahre bis 1917 zu der Einsicht, dass das Bürgertum in Russland nicht mehr fähig war, selbst die bürgerliche Revolution gegen das Feudalsystem anzuführen, sondern dass an seine Stelle die ArbeiterInnenbewegung treten müsse. Ausserdem war Lenin überzeugt, dass die ArbeiterInnen nur die politische Macht erobern könnten, wenn ihnen als Werkzeug eine Partei zur Verfügung steht, die die Anerkennung aller am weitest fortgeschrittenen ArbeiterInnen geniesst und jegliche Zusammenarbeit mit dem Bürgertum ablehnt. All diese Überzeugungen formten in Lenin einen aussergewöhnlich starken Willen, das angestrebte Ziel einer in den Fabriken verankerten revolutionären Kaderpartei, trotz aller Rückschläge, zu erreichen. Hier behaupten wir, dass ohne dieses starken Willens eines einzelnen Menschen, der zugleich die Ziele und Wünsche der ArbeiterInnen im revolutionären Russland ausdrückte, der Sieg der revolutionären ArbeiterInnendemokratie in Russland im Jahre 1917 nicht möglich gewesen wäre. Diese Einschätzung teilt auch der Historiker Alexander Rabinowitch, der als Ergebnis seiner Auswertung der sowjetischen Archive über die Zeit unmittelbar nach der politischen Machteroberung durch die Sowjetdemokratie über Lenin schreibt: „Gewiss wurde die Oktoberrevolution in Petrograd vom Volk getragen, doch die politischen Ereignisse, die sich vom 25. Oktober bis 4. November 1917 in dieser Stadt abspielten, sind ein Beleg für die bisweilen entscheidende Rolle des Individuums in der Geschichte.“ Lenin nahm seine historische Rolle ein, weil er das Vertrauen der russischen MarxistInnen und später der Mehrheit der ArbeiterInnenklasse gewonnen hatte, indem er am besten die Aufgaben der Russischen Revolution verkörpert hat. Trotzki hat selbst einmal gesagt, dass die Bedingungen der russischen Revolution Lenin geformt haben.

Wie soll all dies in Hinblick auf das hier angesprochene Problem der menschlichen Freiheit interpretiert werden? Lenin konnte unter anderem deswegen diese Rolle spielen, weil er die konkreten Möglichkeiten der politischen Entwicklung am klarsten erkannte und am bewusstesten anstrebte. Er (und Trotzki) standen anknüpfend an Marx und Engels für einen Marxismus, der nichts mit Geschichtsfatalismus zu tun hat. Sie waren aufgrund einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus zu dem bewussten Schluss gekommen, dass die ArbeiterInnenklasse diese Gesellschaftsordnung auf revolutionärem Weg überwinden muss. Ihr ganzes politisches Wirken haben sie auf dieses Ziel ausgerichtet.

Wofür steht Tsipras?

In Griechenland sind die objektiven Bedingungen dermassen, dass eine sozialistische Revolution eine absolute Notwendigkeit darstellt. Die Krise des Kapitalismus ist von einem solchen Ausmass, die soziale Katastrophe derart profund, dass nur ein Bruch mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Profitlogik einen Ausweg aus der Misere weisen kann.

Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis suchen aber bewusst nach einem Weg im Rahmen des Kapitalismus. Dies fusst auf der Analyse, dass der europäische Kapitalismus zuerst einmal stabilisiert werden muss, um Zeit zu gewinnen, die es aus ihrer Sicht braucht, in der Zukunft eine fortschrittliche Alternative entwickeln zu können. Ihr Konzept ist Ausdruck dessen, wie weit der Linksreformismus in Europa politisch zurückgewichen ist und sich vom Marxismus entfernt hat. Diese Theorie bedeutet, dass die Führung von SYRIZA einen Bruch mit dem Kapitalismus derzeit nicht in Erwägung zieht. Dazu kommt der unvorstellbare Druck seitens der Gläubiger, die aus ökonomischen und politischen Gründen keine wirklichen Zugeständnisse machen können. Der entscheidende Faktor, wie sich dieser Konflikt weiter entwickelt, ist die Rolle der griechischen Massen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht als eigenständige soziale Kraft die Bühne der Geschichte betreten haben. Das kann sich bald schon ändern. SYRIZA hat aber nun auch die historische Verantwortung, diesen Bewegungen und Kämpfen, die nun wieder verstärkt aufflammen werden, eine politische Perspektive und Programmatik zu geben.

In Griechenland entwickelt sich derzeit eine revolutionäre Situation. Das heisst aber nicht, dass es zu einer erfolgreichen sozialistischen Revolution kommen muss. In solchen historischen Knotenpunkten fällt dem subjektiven Faktor (und der Rolle der Persönlichkeit) eine grosse Rolle zu. Trotzki beschrieb dies in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ folgendermassen: „Eine revolutionäre Situation lässt sich nicht willkürlich konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober — November die Macht nicht genommen, sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhasst gewordene Auseinandergehen von Wort und Tat gefunden und sich von der Partei, die ihre Hoffnungen betrogen, im Laufe von zwei — drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten. (…) Russland hätte sich wieder dem Zyklus kapitalistischer Staaten als halb imperialistisches, halb koloniales Land angegliedert. Die proletarische Umwälzung wäre in eine unbestimmte Ferne gerückt.“

In Griechenland stehen wir erst ganz am Beginn eines solchen Prozesses, aber die Linke wird nicht ewig Zeit haben. Die Herausbildung einer Führung, die die Revolution zum Sieg führen kann, steht heute auf der Tagesordnung.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse können nun aus all dem Angeführten für das Problem der menschlichen Freiheit gezogen werden?

  1. Politische Aktivität setzt menschliche Entscheidungsfreiheit voraus. Wer behauptet, dass es keine Alternative gibt, endet bei der Verteidigung des Status quo.
  2. Menschliche Freiheit braucht aber vor allem Einsicht in die grosse Abhängigkeit des Menschen von materiellen Bedingungen. Während Darwins und Freuds Erkenntnisse breiteste Anerkennung finden, besteht der grosse blinde Fleck der herrschenden Meinung in der fehlenden Einsicht in die Funktionsweisen des Kapitalismus. Hierin besteht die zentrale Bedeutung des Marxismus. Die historische Rolle der revolutionären ArbeiterInnenbewegung liegt in der Aufdeckung der soziologischen Bedingtheit des Menschen von der Wirtschaft. Sie will dem Menschen ein Bewusstsein über die unbewussten Prozesse in der Wirtschaft verschaffen, um es ihm zu ermöglichen, die Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen.
  3. Der Vergleich zwischen Lenin und dem Rest der Führung der Bolschewiki in der Russischen Revolution zeigt neben vielen anderen historischen Beispielen: Die Rolle einer einzelnen Persönlichkeit kann enorm sein, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
  4. Daraus folgt für die ArbeiterInnenbewegung, dass für sie eine demokratische und wissenschaftliche Kultur in den eigenen Reihen essentiell ist, in der ein Wettstreit der Ideen möglich ist. Es ist geradezu das Kardinalzeichen einer gesunden Kultur im Sinne der ArbeiterInnenbewegung, wenn die freie, ausführliche Diskussion garantiert ist.

Kommen wir abschliessend noch einmal zu Griechenland und zur Rolle von Tsipras. Auf ihm und der griechischen Linken lastet eine enorme geschichtliche Last. Die materiellen Bedingungen machen aus Sicht der ArbeiterInnenklasse die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu einer absoluten Notwendigkeit. Die materiellen Bedingungen dafür wären voll gegeben, wobei eine Revolution in Griechenland umgehend eine internationalistische Perspektive bräuchte, um überleben zu können. Tsipras stünde es frei, seine Partei auf den Weg hin zu einer Debatte und zu einem politischen Prozess zu führen, der eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf die Tagesordnung stellt. Es ist unwahrscheinlich, dass Tsipras aus sich heraus einen solchen Kurs einschlagen wird, aber der Druck der Ereignisse und vor allem der Druck der griechischen Massen könnten ihn dazu zwingen. Für ihn gelten die historischen Worte von Karl Liebknecht vor dem Kriegsgericht: „Gegen die Verantwortung für die Tat steht die Verantwortung für die Tatenlosigkeit.“

Der Autor ist Vertrauensperson am AKH Linz und studiert Philosophie