Am 8. November 1975 meuterte die Besatzung des sowjetischen Zerstörers Storoschewoi im Hafen Rigas, der Anführer dieser Meuterei war ein junger politischer Offizier namens Waleri Sablin. Über dieses Ereignis wurden Massen an Fehlinformationen und Verleumdungen veröffentlicht und deshalb sollten wir Marxisten uns daran machen, mehr über dieses Ereignis in Erfahrung zu bringen und die Erinnerung an die Taten Waleri Sablins am Leben zu halten.

„Vertraue der Tatsache, dass die Geschichte Ereignisse ehrlich beurteilt und du dich niemals für die Taten deines Vaters schämen musst. Sei niemals einer dieser Menschen, die kritisieren, doch keine Taten weilen lassen. Solche Menschen sind Heuchler – schwache, wertlose Menschen, die nicht die Stärke haben, ihre Überzeugungen durch ihre Taten zu versöhnen. Ich wünsche dir Mut, mein Sohn. Sei fest in der Überzeugung, dass das Leben wundervoll ist. Sei positiv und glaube, dass die Revolution immer siegen wird.“

Diese inspirierenden Worte schrieb Waleri Michailowitsch Sablin kurz vor seiner Exekution in einem Brief an seinen Sohn. Sie zeigen uns einen Mann, der voller revolutionärem Optimismus und Überzeugung war, und selbst im Angesicht des Todes aufmunternde und zum Tatendrang anregende Worte fand. Wir sollten mehr über diesen Menschen lernen, der trotz seiner atemberaubenden und wichtigen Geschichte, leider in Vergessenheit geraten ist.

Wer war Waleri Sablin?

Waleri Sablin war der Sohn eines Marineoffiziers. Um diese Tradition fortzusetzen, ging er in die Frunsee-Marine-Akademie in Leningrad, in welcher er schon mit 16 Jahren aufgenommen wurde. Die Marine und das Meer waren Waleris Leidenschaft, doch mehr noch war er überzeugter Kommunist und Kind der Oktoberrevolution. Seine kommunistischen Überzeugungen stellte er immer an erster Stelle.

Waleri verabscheute Heuchelei in jeder Form. Sein Bruder Boris Sablin sagte über ihn, dass er nicht in der Lage gewesen wäre zu lügen. Von früh an zeichnete er sich als herausragende Persönlichkeit aus. Waleri wurde zum Kopf der Kommunistischen Jugendorganisation gewählt und sein Spitzname in der Schule war „Bewusstsein der Klasse“. Seine ersten politischen Schritte machte der junge Sablin mit 20 Jahren. Er schrieb einen Brief an Nikita Chruschtschow, in welchem er die soziale Ungleichheit des sowjetischen „Sozialismus“ kritisierte. Diese mutige Tat hätte seine Karriere gänzlich zerstören können, doch glücklicherweise verzögerte sie nur seinen Abschluss. Man kann annehmen, dass die Konsequenzen deshalb so mild ausfielen, da Waleri ein Musterschüler und Ausnahmetalent war. Er beendete seine Zeit auf der Militärakademie mit Ehrung und schon nach fünf Jahren wurde ihm das Kommando über einen Zerstörer angeboten. Das war eine beeindruckende Leistung für einen gerade mal 30-jährigen Offizier. Doch er lehnte es ab.

Waleri Sablins Weg führte ihn weiter an die Militärpolitische Lenin-Akademie in Moskau. Hier wurde ihm die Freiheit gegeben, die Werke von Marx, Engels und Lenin ausgiebig zu studieren. Am stärksten prägte ihn wohl Lenins „Staat und Revolution“, dessen Inhalt im harten Kontrast zur bürokratisch-totalitären Realität der Sowjetunion stand. Sein Bruder vermutete, dass Waleri der Militärpolitischen Lenin-Akademie beitrat, um die Natur des Stalinismus zu verstehen und einen Weg zu finden, dessen Sturz herbeizuführen.

Sablin verstand also schon früh, dass die Sowjetunion nicht der von ihm ersehnte Kommunismus war. Überall um ihn herum sah er Privilegien, Ungleichheit und Korruption. Er wollte verstehen, wie diese Gesellschaft das Kind der Oktoberrevolution sein konnte, welche sich zum Ziel setzte, all diese widerlichen Plagen zu zerstören? Sablin hatte nie Zugang zu den Werken Trotzkis, sie waren selbst auf dieser Elite-Akademie noch verboten. Er wusste nur, dass Trotzki Seite an Seite mit Lenin die Oktoberrevolution anführte. Waleri konnte also nie Trotzkis umfangreichen Analysen zur bürokratischen Degeneration der jungen Sowjetunion lesen und trotzdem hat er wohl den bürokratischen Apparat als den Grund für diese Degeneration ausmachen können.

1973 wurde Sablin teil der Besatzung der Storoschewoi, einer Fregatte, die zur Baltischen Flotte gehörte. Es war eines der modernsten Kriegsschiffe der sowjetischen Flotte. Sablin war der politische Offizier – nach dem Kapitän der ranghöchste Offizier – der Storoschewoi und damit der direkte Vertreter des sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienstes KGB. Zu seinen Aufgaben gehörten politische Seminare, Aufrechterhaltung der Moral und vor allem die Wahrung der Parteilinie. Es wird sich zeigen, dass er die letzte dieser Aufgaben sehr bewusst nicht erfüllen würde.

Marxistische Bildung als Waffe gegen die Bürokratie

Sablins Studien an der Militärpolitischen Lenin-Akademie waren wohl deshalb erfolgreich, da er in den wenigen Aufzeichnungen, die wir über ihn haben, ein tiefes Verständnis des Marxismus darbot. Er erkannte die Heuchelei der Bürokratie, welche sich als Erben Lenins aufspielte: „Ich richte ihre Aufmerksamkeit auf die Worte Lenins in ‚Staat und Revolution‘, wo er bemerkte, dass nach dem Tod eines großen Revolutionärs stets Versuche unternommen werden, sie zu Ikonen zu erklären – sie heilig zu sprechen und ihre berühmten Namen zur Klassenunterdrückung zu verwenden“. Weiter schreibt Sablin: „Der Versuch der sowjetischen Elite, einen Personenkult in einer sozialistischen Gesellschaft zu etablieren, ist die Konsequenz schlechter Führung. Es widerspricht der Marxistisch-Leninistischen Lehre über die Rolle des Individuums in der Geschichte“.

Sablin sah durch den Schleier der Propaganda und teilte sein Wissen mit der Crew der Storoschewoi. Er unterrichtete die Mannschaft in der revolutionären Tradition der Marine, der Oktoberrevolution 1917 und der Revolution von 1905. Seine Seminare unterschieden sich deshalb stark von den langweiligen Indoktrinationsversuchen anderer politischer Offiziere, die meist von den Matrosen oder Soldaten mit einer Einstellung der Gleichgültigkeit entgegengenommen wurden. Waleris Reden waren lebendig und mitreißend, die Mannschaft war ehrlich interessiert an seinen Worten, so konnte er die Matrosen auch auf seine Seite ziehen und in ihnen revolutionäre Ideen nähren. Der Marinehistoriker Nikolai Andrejewitsch Tscherkaschin schrieb „Sablin führte bolschewistische revolutionäre Traditionen fort, er war durchdrungen von diesen Traditionen. Er war das Fleisch und Blut der Partei. Seine Kalkulation war simpel. Er blieb den revolutionären Traditionen des Schlachtschiff Potemkin treu“.

Um seine Pläne zu verwirklichen, brauchte Sablin Verbündete. Er wählte den jungen Alexander (Sascha) Schejn, der ihm in seinen Seminaren zur Seite stehen sollte und deshalb viel Kontakt mit Waleri hatte. Schejn hatte keine Sympathie für die gewöhnlichen, die Parteilinie propagierenden, Kurse. „Diese politischen Kurse waren ein Spott, die Leute gingen dort nur hin, um eine Pause zu haben. Wir realisierten, dass es komplett unehrlich und nur ein Theater war“.

Jahre nach den Ereignissen von 1975 erinnerte sich Schejn an ein Gespräch mit Sablin: „Ich sagte Sablin: Was nützt all diese Kosmetik? Wen sollen wir mit dieser sinnlosen Rhetorik verteidigen, wenn der Krieg kommt?“. Dieser Zynismus war nicht ungewöhnlich für diese Zeit in der Sowjetunion. Ungewöhnlich war allerdings, dass Schejn sich traute diese Dinge zu Sablin, seinem politischen Offizier, zu sagen. Normalerweise wäre der politische Offizier eine gefürchtete Figur, ein KGB-Agent, der das ganzes Leben eines Menschen ruinieren konnte, wenn man „falsche Gedanken“, d.h. für die Sowjetbürokratie gefährliche Gedanken, zur falschen Zeit geäußert hätte. Doch die Matrosen fanden bald heraus, dass Waleri anders war. Er war menschlicher und ehrlicher, er war einer von ihnen. Seine enge Beziehung zu seiner Mannschaft missfiel seinen Vorgesetzten, er wurde dazu angehalten seine Methoden zu ändern. Doch darüber setzte er sich hinweg, denn er hatte seine eigenen Pläne. Sablins Seminare hatten einen bestimmten Zweck: Sie sollten die Köpfe der Mannschaft mit revolutionärer Theorie und ihre Herzen mit revolutionärem Tatendrang füllen und sie so auf eine Meuterei vorbereiten.

Die Storoschewoi kam am 8. November 1975 im Hafen von Riga an, wo sie an einer Militärzeremonie zur Feier des 58. Jahrestags der Oktoberrevolution teilnehmen sollte. Sablin entschied sich dazu, diesen symbolischen Tag zu nutzen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Er rief seinen Genossen Alexander Schejn zu sich und überrumpelte ihn mit einer unverhofften Frage: „Wärst du dazu bereit für den KGB zu arbeiten?“. Schejn war über allen Maßen enttäuscht und wütend, dass dieser Mann, der ihm so viel beibrachte, dann doch nur eine Marionette der Bürokratie sein sollte. Das war zu viel für ihn und er stürmte angewidert aus dem Raum heraus. „Nein, warte, Sascha, beruhige dich, sei nicht wütend, ich habe dich nur getestet, setz dich, wir müssen uns ernsthaft unterhalten.“ Mit diesen Worten begann Sablin den Plan, auf den er sich so lange vorbereitet hatte, in die Tat umzusetzen.

Waleri erklärte, dass die Bürokratie die Oktoberrevolution und das sowjetische Volk verraten hatte, und dass die Gangster in der Führungsebene der Kommunistischen Partei nicht dieselben Ideale vertraten für die Lenin und die Bolschewisten 1917 kämpften. Deshalb brauchte es laut Sablin eine neue Oktoberrevolution, um die Bürokratie zu stürzen und ein politisches System der Rätedemokratie im Sinne Lenins aufzubauen. Um diesen Plan in die Realität umzusetzen, wollte er innerhalb von drei Tagen die Kontrolle auf der Storoschewoi übernehmen und nach Leningrad gelangen. Von dort aus würden sie sich – so sein Plan – über das Radio an die gesamte sowjetische Bevölkerung richten und in ihrer Proklamation die Arbeiterklasse dazu aufrufen, die Verbrecher im Kreml zu stürzen und den alten Staatsapparat gänzlich zu zerschlagen.

„Und schlussendlich die Schlüsselfrage jeder Revolution – die Frage der Macht. Zuallererst schlagen wir vor, dass der momentane Staatsapparat durch und durch gesäubert werden muss, die Maschinerie zerstört und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden muss. Er ist vollkommen infiziert durch Vetternwirtschaft, Bestechung, Karrierismus und Arroganz. Als nächstes muss auch das Wahlsystem gehen, welches die Menschen zu nichts anderem als einer gesichtslosen Masse reduziert hat. Und zuletzt müssen alle Bedingungen, welche diese omnipotenten und unverantwortlichen Staatsinstitutionen geboren haben, entfernt werden.“

Anatoli Putorny, der Kapitän der Storoschewoi, wurde am 8. November darüber informiert, dass einige Matrosen an Bord Alkohol tranken. Putorny wollte diesen Regelverstoß persönlich aus der Welt schaffen und ging unter Deck, wo er von Sablin eingeschlossen wurde. Ab sofort gab es kein zurück mehr. Der junge Revolutionär rief die gesamte Mannschaft zu sich und zeigte ihnen den zu dieser Situation perfekt passenden Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin und erklärte seinen Plan. Die Offiziere waren gespalten, acht unterstützten die Rebellen Sablin und Schejn und acht verwehrten ihnen ihre Unterstützung. Unter den regulären Besatzungsmitgliedern war die Sache jedoch eindeutig, sie versammelten sich geschlossen hinter ihrem ungewöhnlichen politischen Offizier und seinen treuen Genossen. Waleri Sablin und Alexander Schejn hatten es geschafft, die Storoschewoi war nun unter ihrer Kontrolle.

Der Weg nach Leningrad

Bevor sie den Hafen Rigas verließen, war die Atmosphäre an Bord angespannt, es herrschte bedrückende Stille. Diese Männer waren nun Revolutionäre, die sich gegen Moskau gewandt hatten. Die Mannschaft musste unerträgliche Unsicherheit und Angst gefühlt haben. Doch als der Alarm, der die Abfahrt der Storoschewoi ankündigte, erklang, änderte sich die Stimmung. Oleg Maksimenko, einer der Funker, berichtete von diesem Moment: „Das Schiff nahm Geschwindigkeit auf und dieses Gefühl der Unsicherheit wurde überwältigend. Dort war ein Gefühl der Freiheit. Eine Art Zufriedenheit, als ob mein Herz in die Luft steigen würde.“

Kurz bevor sie Riga verlassen konnten, bewegte sich ein anderes Schiff auf sie zu. Die Storoschewoi kehrte scharf nach rechts, doch das andere Schiff kam weiter auf sie zu, bis es dann nach links drehte und die Storoschewoi endlich Riga verlassen konnte. Ursprünglich wollte Waleri Sablin seine Proklamation an das sowjetische Volk dann übertragen, sobald sie in Leningrad angekommen waren. Doch er änderte seine Meinung und befahl bereits, nachdem sie Riga verlassen hatten, seine Rede über das Tannoy-System des Schiffes auf einer Frequenz zu übertragen, die von gewöhnlichen Bürgern empfangen werden konnte. Seine Rede war voller revolutionärer Rhetorik und Entschlossenheit. Tiefe Ehrlichkeit lag in den Worten Sablins: „Ich richte mich an diejenigen, die sich unsere revolutionäre Vergangenheit zu Herzen nehmen, an die, die kritisch, aber nicht zynisch über unsere Gegenwart und Zukunft denken. Unsere Taten sind rein politischer Natur. Die wahren Verräter am Mutterland werden jene sein, die versuchen uns aufzuhalten. Falls unser Land angegriffen wird, werden wir es loyal verteidigen, doch jetzt haben wir ein anderes Ziel – wir erheben die Stimme der Wahrheit.“

Doch leider hatte der Funker nicht den Mut die Rede offen zu übertragen, so konnte sie nur von Sablins Vorgesetzten in der Marine empfangen werden. Diese Rede, die das Potential hatte, eine Revolution auszulösen und den ersten Arbeiterstaat der Geschichte zurück in die Hände der Arbeiterklasse zu legen, erreichte nie die Ohren eben jener Arbeiterklasse.

Breschnew wurde mitten in der Nacht geweckt, er sollte auf die Situation reagieren, das gesamte Politbüro war in Panik. Der Kapitän der baltischen Flotte wurde kontaktiert und ihm wurde befohlen, seine Schiffe zu mobilisieren. Seine Befehle wurden von Breschnew persönlich diktiert. Die Flotte sollte die Storoschewoi finden und aufhalten oder versenken.

Dreizehn schwer bewaffnete Schiffe rückten aus und fanden bei Tagesanbruch des 9. Novembers ihr Ziel. Der Kommandant der Flotte befahl den Rebellen anzuhalten und drohte, das Feuer zu eröffnen, sollten sie sich weigern. Der Kommandant war sich allerdings unsicher, ob die Storoschewoi wirklich auf den Weg nach Leningrad war oder nach Schweden wollte, um zum Westen überzulaufen. Der Schiffsweg von Riga nach Leningrad führt nach Westen, Richtung Gotland, dann gen Nordwesten Richtung Stockholm. Erst von dort kann man sich nach Osten wenden und direkt auf Leningrad zufahren. Daher war es unmöglich zu wissen, was die Intentionen der Rebellen waren.

Zum Sonnenaufgang wurde eine Nachricht des KGB auf die Storoschewoi übertragen. In der Hoffnung sie könnten die Besatzung entzweien, verkündeten der KGB, dass die Besatzung straflos ausgehen würde, wenn das Kriegsschiff halten und der Kommandant übergeben würde. Doch die revolutionäre Entschlossenheit überwog die Angst vor Repression und die Storoschewoi fuhr weiter. Die Revolutionäre schickten sogar eine Antwort: „Genossen! Wir sind keine Verräter des Mutterlandes. Wir werden das Schiff nicht verlassen“. Die Kommandanten der Verfolger waren mit der Situation überfordert, sie zögerten und die Storoschewoi verfolgte weiter ihr Ziel bis plötzlich ein Geschwader sowjetischer Kriegsflugzeuge auftauchte.

Den Piloten wurde befohlen die Storoschewoi mit Raketen zu versenken, sie flogen über die Storoschewoi hinweg doch griffen nicht an. Die Piloten waren nicht bereit auf ihre Landsleute zu schießen. Zu diesem Zeitpunkt brach Panik in der Führungsriege der Sowjetbürokratie aus, allem Anschein nach breitete sich die Meuterei aus. Der sowjetische Verteidigungsminister Andrei Antonowitsch Gretschko war in Rage und befahl die sofortige Umsetzung der Befehle.

Eine zweite Gruppe Jagdflugzeuge wurde auf die Storoschewoi gehetzt. Diesmal waren andere Piloten an Bord. Ihnen wurde eine Reihe schamloser Lügen über die Meuterei erzählt, um sicher zu gehen, dass sich die vorigen Ereignisse nicht wiederholen würden. Zuerst nahmen die Piloten die Storoschewoi unter Beschuss. An Bord des Schiffs war man gänzlich überrumpelt von diesem verräterischen Akt und ging von einer NATO-Attacke aus. Nach den Schüssen fielen auch schon die ersten Bomben und unglücklicherweise traf eine das Schiff, der Rumpf brach und das Schiff fing an sich im Kreis zu drehen.

Die schon überstrapazierten Nerven einiger Besatzungsmitglieder brachen und sie ließen Kapitän Putorny frei. Dieser rannte zur Kommandobrücke des Schiffs und schoss Sablin, in einem letzten niederträchtigen Versuch seine Karriere mit einer „Heldentat“ zu retten, ins Bein. Putorny übernahm die Kontrolle über das Schiff und nach wenigen Stunden wimmelte es an Bord nur so vor mit Sturmgewehren bewaffneten Luftlandetruppen. Das KGB brauchte nicht lange, um selbst auf den Plan zu treten. Einige in Anzügen gekleidete Männer tauchten auf und fingen an, Anweisungen zu geben und diese waren natürlich im klassischen Stil des KGB überaus drakonisch.

Die Matrosen erhielten den Befehl sich von sieben Uhr in der früh bis sechs Uhr abends an die Wand zu stellen, und denjenigen, die es gewagt hätten, sich zu bewegen, hätten die Wachen in die Beine geschossen. Die Meuterei war niedergeschlagen, Leningrad lag in weiter Ferne und Sablins ambitionierte Pläne waren vereitelt. Wie die reaktionären Regierungen des Westens hatte auch die Sowjetbürokratie einen Aufstand durch den Einsatz brutaler Gewalt niedergeschlagen.

Das wahre Gesicht des Stalinismus

„Die sogenannte Avantgarde des Proletariats, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten 50 Jahren verantwortlich war, hat ein System produziert, in dem die Menschen in einer stagnierten Atmosphäre der blinden Gehorsamkeit gegenüber den Autoritäten gefangen sind. Es ist eine Atmosphäre der politischen Tyrannei und Zensur, in der die Angst davor, die Partei oder andere Regierungsinstitutionen zu kritisieren, gedeiht, da jedermanns Schicksal daran gebunden ist. Ich muss mich an Marx‘ Worte erinnern, als er sagte: ‚der moralische Staat nimmt an, dass sein Volk ein Sinn für Zivilcourage/bürgerliche Tugend hat, selbst wenn es dagegen protestiert‘. Lenin dachte, dass jede Gruppe von Bürgern, welche eine bestimmte Anzahl an Mitgliedern oder eine bestimmte Anzahl von Unterschriften gesammelt hat, ihre eigene Zeitung publizieren könnte und er hat zweimal darüber geschrieben, dass unser Volk schon viel gelitten hat und weiterhin unter der politischen Unterdrückung leide.“

Waleri Sablin, Alexander Schejn und 14 andere Rebellen wurden zum Verhör nach Moskau geschickt. Im Kreml war man entschlossen die Urheber dieser Rebellion zu finden. Breschnews Schergen separierten die Männer und nutzten die gleichen Methoden der stalinistischen Säuberungen, um die Mannschaft auseinander zu reißen. Ihnen wurde gesagt, dass sie alles was sie über die Geschehnisse auf der Storoschewoi wussten aufschreiben sollten, sollte es auch Monate dauern. Für vier lange Monate wurden diese jungen Proletarier – die meisten nicht einmal über 30 – ohne Kontakt zur Außenwelt in kompletter Isolation gehalten. Dann wurden sie vor Gericht gezerrt.

Der Prozess war darauf ausgelegt, sie einzuschüchtern. Einer von Sablins Unterstützern berichtete später, dass es bei Gericht nur so wimmelte von Admirälen und Generälen. Die jungen Matrosen waren keine ausgebildeten Revolutionäre, sie hatten Angst, die meisten plädierten auf Ahnungslosigkeit. Sie glaubten, dass ihnen so vergeben würde für ihren heldenhaften Kampf im Namen der Arbeiterklasse. Doch Vergebung ist kein Mittel der Bürokratien im Umgang mit denjenigen, die ihren Status gefährden. Sablin und Schejn wurden als Rädelsführer der Meuterei ausgemacht und ihnen deshalb mit besonders zermürbenden Verhörmethoden zugesetzt. Nachdem der Bürokratie Gewissheit darüber hatte, dass hinter dieser Aktion keine im Geheimen handelnde revolutionäre marxistische Organisation stand, und ihre schlimmste Befürchtung damit nicht real war, wurden die Strafen verteilt.

Ein Scheinprozess wurde aufgeführt, bei dem Sablin ein weiteres Mal seine strenge Entschlossenheit und revolutionäre Hingebung bewies. Er bettelte nicht um Vergebung, sondern Stand mit Stolz zu seinen Taten. Als Schejn in den Saal gebracht wurde, trafen sich die Blicke der beiden Kampfgefährten. Schejn erzählte Jahre später, dass Sablins Blick eine Frage zu stellen schien: „Kämpfst du noch oder hast du schon aufgegeben?“ Schejn hätte, wie wir heute wissen, diese Frage mit einem stolzen „ja ich kämpfe noch“ beantworten können. Das Urteil stand von Anfang an fest, Sablin wurde verurteilt, das Mutterland verraten zu haben.

Hier zeigte sich das wahre Gesicht des Stalinismus, eine hässliche konterrevolutionäre Fratze, die wir in der Geschichte immer wieder erblicken mussten. Der Stalinismus hat immer wieder revolutionäre Bewegungen untergraben. Die stalinistische Bürokratie war nie daran interessiert, Revolutionen, wie z.B. in Deutschland, Spanien, Frankreich und vielen anderen Ländern, die den weltweiten Prozess der sozialistischen Revolution vorangetrieben hätten, zum Erfolg zu verhelfen. Der Bürokratie war es stets nur daran gelegen, ihre Privilegien und politische Macht zu sichern und auszubauen. Wie die Bourgeoisie in den kapitalistischen Ländern, war auch die stalinistische Bürokratie dazu bereit, zu den widerlichsten Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse zu greifen, um ihre Macht zu verteidigen.

Im Normalfall hätte Sablin 15 Jahre Gefängnisstrafe erhalten müssen, so war es für „Verbrechen“ seiner Art üblich, doch die Bürokratie wollte den Urheber des Aufstandes auf besondere Weise sühnen. Sie sah einen Revolutionär wie Sablin als Todfeind an, denn er wagte es, die Macht und Privilegien der Bürokratie zu gefährden, und genauso behandelten sie ihn. Leonid Breschnew ordnete persönlich die Exekution Waleri Sablins durch ein Erschießungskommando an. Als das Urteil vorgelesen wurde, sank Sablin zusammen, so dass eine Wache ihn auffangen musste. Schejn wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Sablin, dieser Held der Arbeiterklasse, wurde einige Wochen nach dem „Prozess“ exekutiert. Was aus seinem Leichnam wurde ist bis heute unbekannt. Seine Verwandten und Genossen erhielten keinen Ort zum Trauern, nicht einmal diesen kleinen Funken Würde wollten die Bürokraten den Hinterbliebenen zugestehen.

Die Erinnerung bewahren und von Entstellungen reinigen

Den Unterdrückern reicht es nie eine Revolution einfach niederzuschlagen, sie müssen auch die Erinnerung beschmutzen und vergessen machen. Die Verleumdung, dass Sablin zum Westen überlaufen wollte, kam den Stalinisten gerade recht. Einen pro-kommunistischen Aufstand gegen die Bürokratie durfte es aus Sicht des Stalinismus nicht geben, denn das hätte die Hoffnung der Arbeiterklasse der Sowjetunion und weltweit entfacht, dass die stalinistische Bürokratie durch eine politische Revolution von unten gestürzt und durch eine echte revolutionäre Arbeiterdemokratie, wie sie in den Anfangsjahren der Russischen Revolution bestanden hatte, ersetzt hätte werden können. Das wäre die einzige Möglichkeit gewesen, die politischen und sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution wieder herzustellen, die Planwirtschaft zu retten, Arbeiterkontrolle und demokratische Planung einzuführen und vor allem die sozialistische Weltrevolution voranzubringen.

Aber auch der kapitalistische Westen wusste Sablins Mut für die eigene antikommunistische Propaganda auszunutzen. Für die imperialistischen Mächte war es notwendig, dass Kommunismus und Stalinismus von der Arbeiterklasse weltweit als synonym angesehen wurden und werden. In den USA wurden die Taten Sablins durch den unausstehlichen Militärfetischisten Tom Clancy in den Dreck gezogen. In seinem Buch „Jagd auf roter Oktober“, das als Vorlage für den gleichnamigen Film diente, entstellte er die Erinnerung an die Taten, Ziele und Ideen von Waleri Sablin und seiner Mitstreiter auf der Storoschewoi.

Waleri Sablin ist ohne Zweifel ein Held der Arbeiterklasse, des Bolschewismus und derjenigen, die einen klaren Kopf behalten und die Ideen des Marxismus gegen die Entstellungen und Fälschungen des Stalinismus verteidigen. Sein Handeln zeigt, dass revolutionärer Optimismus überlebensnotwendig und Pessimismus vollkommen reaktionär ist. Waleri Sablin hat gezeigt, dass es persönliche Initiative und Bereitschaft braucht, selbst in den schwierigsten Umständen weitere Mitstreiter von den Ideen des Marxismus zu überzeugen, das Ziel der sozialistischen Revolution allem voranzustellen, das eigene Handeln danach auszurichten und bis zum Schluss an diesem Ziel festzuhalten. Wir müssen die Erinnerung an ihn wahren und seine Taten feiern, doch vor allem müssen wir aus seiner Geschichte lernen. Das beste Denkmal, das wir Waleri Sablin geben können, ist eine große internationale revolutionäre Strömung in der Arbeiterbewegung und Jugend.

Jan-Bernd Hovehne, 18. Januar 2022