Am 20. August 1940 bohrt sich ein Eispickel durch die Schädeldecke von Leo Trotzki, dem Führer der Oktoberrevolution. Er ist nicht der erste und nicht der letzte der RevolutionärInnen von 1917, der dem stalinistischen Terror zum Opfer fällt. Die konterrevolutionäre Entwicklung in Russland ist in vollem Gange.

Es war Trotzki, der seit 1937 in seinem Haus in Coyoacàn im Exil lebte, klar, dass er ermordet werden sollte., Gemeinsam mit dem todkranken Lenin hatte er schon gleich zu Beginn der 20er Jahre einen Kampf gegen Stalin und die zunehmende Bürokratisierung der Sowjetunion geführt. Die Revolution hatte ihre äusseren Feinde besiegt, um unmittelbar darauf mit der entstehenden inneren Konterrevolution zu ringen. Eine neue Schicht von Verwaltern und Bürokraten beabsichtigte unter ihrer Gallionsfigur Stalin, die Macht an sich zu reissen. Weshalb ihr dies gelang, ist Thema dieses Artikels. Nur soviel vorneweg: Dass es möglich war, die demokratischen und sozialen Fortschritte der Revolution teilweise rückgängig zu machen, lässt sich nicht mit der Person und der Persönlichkeit Stalins erklären. Stalin hat die Sowjetunion nicht zerstört und nicht verbürokratisiert, aber seine Machtergreifung war Ausdruck der Degeneration und der Bürokratisierung. Wir müssen die Gründe für die Degeneration in den objektiven Bedingungen suchen, unter denen sich die junge Sowjetunion entwickelte. Wir wollen aufzeigen, dass die wirtschaftliche Rückständigkeit und Not, die Niederlagen der internationalen Revolution und die zunehmende Ernüchterung der revolutionären Massen tiefe Spuren im Staatsapparat und in der Partei hinterlassen haben, die in der Folge den Aufstieg der Bürokratie ermöglichten. Dazu müssen wir das Rad der Zeit zurückdrehen.

Das rückständige und zerstörte Russland

Im Oktober 1917 übernehmen die Arbeiter- und Soldatenräte unter der Führung der Bolschewiki die Macht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sehen sich vor die Aufgabe gestellt, die sozialistische Transformation der Gesellschaft in Gang zu setzen – nicht wie von Marx prognostiziert in einem entwickelten kapitalistischen Land, sondern im halb feudalen Russland, das erst neun Monate zuvor die über 350 Jahre dauernde Zarenherrschaft gestürzt hatte. Mit Ausnahme der industriellen Zentren Petrograd und Moskau bilden arme Bauern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, insgesamt 70%. Lediglich 10% sind ArbeiterInnen, im Bürgerkrieg wird diese Prozentzahl noch tiefer sinken. Die meisten Menschen können weder schreiben noch lesen: Wie sollen sie Wirtschaft und Gesellschaft planen und aktiv gestalten? Wirtschaftlich hinkt Russland weit hinter den industrialisierten Mächten Westeuropas, wie Deutschland und Grossbritannien, her. Zur strukturellen Rückständigkeit kommen aktuell die Folgen des Krieges. Weite Landstriche sind verwüstet, es herrscht Hunger, Millionen russischer Soldaten verloren ihr Leben auf den Schlachtfeldern des imperialistischen Gemetzels.

Objektiv fehlen in Russland die Grundlagen zu einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft, die, nach marxistischer Theorie, durch den Überfluss der modernen Industrie erst zu einer historischen Möglichkeit wird.  Die Geschichte hält sich jedoch selten an vorgefertigte Drehbücher. Die Kette des weltweiten Kapitalismus ist am schwächsten Glied gerissen, nicht weil Russland als erstes Land reif für den Sozialismus wäre, sondern weil die sozialistische Revolution der einzige Ausweg aus der Misere ist, in der sich das russische Volk befindet. Da die Bedingungen für den Sozialismus auf Weltebene durchaus gegeben sind, setzen die Bolschewiki alles daran, dass die Machtübernahme in Russland den Anstoss zu weiteren Revolutionen gibt.

Trotz widrigen Umständen

Die junge Sowjetmacht nimmt sofort die drängendsten Probleme in Angriff. Sie beendet den Krieg, verstaatlicht die Industrie und teilt das Land unter die Bauern auf. Weitreichende, gesellschaftspolitische Reformen (Siehe Artikel “Was die Sowjetunion erreichte”) machen Russland in kürzester Zeit zum freiesten und demokratischsten Land der Menschheitsgeschichte.

Die Situation verschärft sich aber weiter. Die vom deutschen Imperialismus diktierten Bedingungen im Friedensvertrag von Brest-Litovsk bedeuten für Russland den Verlust von Millionen von Hektaren fruchtbaren Ackerlands. Der Ausbruch des Bürgerkriegs und die Invasion von 21 ausländischen Armeen stürzen das Land weitere drei Jahre in Hunger und Zerstörung. Dank dem eisernen Willen der revolutionären Massen kann sich die Sowjetmacht dennoch halten und den Bürgerkrieg für sich entscheiden. Die kulturelle und wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands ist damit noch lange nicht überwunden. Für Lenin und Trotzki ist klar – die Sowjetunion kann nur überleben, wenn die proletarische Revolution auf andere Länder übergreift, allen voran auf das hochindustrialisierte Deutschland.

Die Revolution erfasst die Welt

Der Ausbruch der Revolution in den westlichen Ländern lässt nicht lange auf sich warten. Die Kunde von der Oktoberrevolution entfacht einen Flächenbrand im kriegsgeschüttelten Europa. Die Perspektive der Weltrevolution ist das Herzstück der bolschewistischen Strategie. Während in der Sowjetunion versucht wird, die drängendsten Probleme im Innern zu lösen und zu überleben, ist der Fokus gleichzeitig auch auf das internationale Geschehen gerichtet. Die Bolschewiki bauen aus den Trümmern der gescheiterten zweiten Internationale (siehe Artikel Internationale) eine neue revolutionäre Organisation des Weltproletariats auf. Sie beteiligen sich aktiv an den revolutionären Prozessen, allen voran in Deutschland. Es kommt jedoch anders: Die Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse in den westeuropäischen Ländern scheitert, weil deren Führung versagt – durch den Verrat der reformistischen Führungen der Sozialdemokratie sowie linksradikale Tendenzen und durch die organisatorische Schwäche der jungen kommunistischen Parteien. Die dadurch entstandenen Fehler führen die internationale Revolution in eine Niederlage nach der anderen.

Das Schicksal der Weltrevolution

In Italien ergreift Mussolini  1922 die Macht und beendet die revolutionären Bestrebungen der italienischen ArbeiterInnenklasse, in Deutschland schlägt die sozialdemokratische Regierung, die durch die revolutionäre Welle 1918 an die Macht gekommen ist, die Münchner Räterepublik und den Spartakusaufstand mit Hilfe faschistischer Freikorps nieder. Die Stärke der deutschen ArbeiterInnenklasse verhindert zwar die frühe Machtergreifung der reaktionären Kräfte, indem sie den  Kapp-Putsch abwehrt. Im Anschluss stellt sich aber eine Pattsituation zwischen den Klassen ein, in der sich bis zur Machtergreifung Hitlers keine der beiden Seiten durchsetzen kann. Die deutschen ArbeiterInnen versuchen 1921 und 1923 nochmals, die Macht zu ergreifen, scheitern aber am Fehlverhalten der kommunistischen und gewerkschaftlichen Führer.

Die Niederlagen der Revolution in Deutschland von 1921 und 1923 sind ein schwerer Schlag für die revolutionären Massen der jungen Sowjetunion; die Hoffnung auf baldige Erlösung aus der Rückständigkeit und der Isolation auf längere Zeit verfliegt. Die Niederlagen in Polen, Bulgarien, Grossbritannien und zuletzt China treiben die Demoralisierung bis 1928 weiter voran. Die aktive Beteiligung der ArbeiterInnen in den Sowjets nimmt ab, die Menschen sehnen sich nach Stabilität. Nach Jahren enormer Anspannung auf allen Gesesllschaftsebenen macht sich eine grosse Müdigkeit breit. Das aktive Interesse bewusster ArbeiterInnen und Soldaten an allen politischen Fragen weicht der Gleichgültigkeit. Auf diesem Boden beginnt die Saat der Bürokratisierung zu spriessen.

Der Bürgerkrieg hinterlässt Spuren

Die Festigung der bürokratischen Macht muss unweigerlich über die Leichen der demokratischen Rätestrukturen gehen, die das Herzstück der ArbeiterInnenmacht darstellen. Wie Trotzki später in seinem Werk „Verratene Revolution“ beschreiben wird, besetzen nach dem Bürgerkrieg und der Demobilisierung der roten Armee ein Grossteil der Kommandeure zentrale Positionen in den Sowjets. Mit sich bringen sie den militärischen Führungsstil, der im Bürgerkrieg notwendig war, in den Sowjets nun aber die demokratische Kultur zu ersticken beginnt. Grundsätzlich wird die Militarisierung der Gesellschaft durch den Bürgerkrieg ein allgemeines Hindernis für die demokratische Entwicklung der Gesellschaft nach dem Sieg.

Der Rückzug der revolutionären Massen aus dem politischen Geschehen stärkt das Selbstvertrauen von kleinbürgerlichen Schichten und Feinden der Revolution. Diese Stärkung findet aber auch eine materielle Basis in der “Neuen Ökonomischen Politik (NEP)“.  Auf Grund der prekären Versorgungssituation nach dem Bürgerkrieg öffnen die Bolschewiki die landwirtschaftliche Produktion für private Investitionen und Gewinne, um auf diese Weise die Versorgungslage zu verbessern und über Steuern finanzielle Mittel zu schaffen für den Wiederaufbau der Industrie. Diese  wiederum soll die Basis für eine zukünftige freiwillige Kollektivierung der Landwirtschaft legen. Die Strategie zeigt Wirkung, bringt aber neue Probleme mit sich. Erstmals seit der Oktoberrevolution entsteht wieder eine Schicht von reichen Händlern und Bauern, die ihren Reichtum auch öffentlich zur Schau stellen. Unter den fortschrittlichen ArbeiterInnen führt dies zu Unmut über die neue soziale Ungleichheit.

Der Aufstieg der Bürokratie

In dieser Situation wandelt sich die Staats- und Parteibürokratie zunehmend von einem Werkzeug der ArbeiterInnenklasse zu einem Schiedsrichter zwischen den Klassen. Der bürokratische Apparat erhebt sich über die Gesellschaft. Die neue Generation von Apparatschiks rekrutiert sich mehrheitlich aus zweitrangigen Akteuren der Revolution, zu denen auch Stalin zählt, und aus Karrieristen, die sich der Sache der Revolution erst angeschlossen hatten, als diese bereits gesiegt hatte. Diesen Leuten ging es in erster Linie darum, sich selber Privilegien zu verschaffen. Mit jeder Niederlage auf dem Weg zur Weltrevolution und jeder weiteren Desillusionierung der revolutionären Massen wächst ihre Macht. Es entwickelt sich eine bürokratische Verwaltung des Mangels anstelle einer demokratischen Verwaltung des Wohlstandes. Dies führt dazu, dass die Bürokratie sich selbst eine privilegierte Position verschafft. Es herrscht ein materielles Interesse an den Machtpositionen. Das Problem ist Lenin und Trotzki durchaus bewusst, auch wenn sie dessen Tragweite noch nicht abschätzen können. Mit aller Kraft versuchen sie, die revolutionären Massen in die Lenkung des Staates einzubeziehen, als Gegengewicht zur Bürokratie. Vor seinem Tod warnt Lenin in einem Brief an den Parteitag der Kommunistischen Partei die GenossInnen vor Stalin. Er bezeichnet Stalin als zu grob, bezweifelt, dass er seine angehäufte Macht als Zentralsekretär vorsichtig genug einsetzen werde und rät den Mitgliedern des Zentralkomitees, Stalin abzusetzen. Soweit sollte es aber nicht kommen.

Charakter des Stalinismus

Mit dem Aufstieg der Bürokratie konzentriert sich zunehmend mehr Macht in den Händen von Stalin,  nicht weil dieser seinen Gegnern politisch überlegen ist, sondern weil er die Interessen dieser Karrieristenschicht vertritt. In den inhaltlichen Debatten spielt Stalin keine bedeutende Rolle, er nutzt sie, um die Vertreter der verschiedenen Seiten gegeneinander auszuspielen und die eigene Macht zu zementieren. Dem Stalinismus liegt keine politische Theorie zugrunde, ihn leitet nur das materielle Interesse einer gesellschaftlichen Schicht, was sich in politischer Hinsicht in einem opportunistischen Zick-Zack-Kurs ausdrückt. Im Kampf um die Macht und die Kontrolle über den Parteiapparat stützt sich Stalin zuerst auf die Schicht neureicher Spekulanten und Bauern, Gewinnler der NEP. Ideologische und theoretische Rechtfertigungen liefert ihm der rechte Flügel der Partei um Bucharin. Die NEP, die Lenin als temporäre Massnahme zur Ankurbelung der Wirtschaft gesehen hat, wird als Weg zum Aufbau des Sozialismus in einem Land angepriesen. Nach dem Sieg über die Linke Opposition um Trotzki im Jahr 1927 vollzieht Stalin eine erneute Kehrtwende, indem er eine Karikatur von Trotzkis Position zur neuen Parteilinie erklärt. Anstelle einer schrittweisen Kollektivierung der Landwirtschaft auf Basis der Entwicklung der Industrie, wie sie die Linke Opposition fordert, will Stalin mit dem Fünfjahresplan und der Zwangskollektivierung und mit brachialer Gewalt die sozialistische Transformation in einem Land vollenden.

Der Marxismus wird verfälscht

Die Theorie vom Sozialismus in einem Land ist die Antwort der Bürokratie auf die gescheiterte Revolution in Deutschland, sie ist das Versprechen, dass trotz den misslungenen Revolutionen auf internationaler Ebene die sozialistische Transformation in Russland möglich sei. Diese Theorie ist ein offener Bruch mit der marxistischen Tradition der Bolschewiki. Trotz des erbitterten Widerstands von Trotzki und der Linken Opposition wird die Theorie vom Sozialismus in einem Land 1926 zur offiziellen Parteilinie, mit verheerenden Folgen für die Aussenpolitik der jungen Sowjetunion. Mit dem Abschied vom Ziel der Weltrevolution konzentriert sich die sowjetische Aussenpolitik darauf,  bürgerlich-diplomatische Beziehungen mit den kapitalistischen Mächten zu pflegen, um ihre eigene Existenz zu sichern. Diese Entwicklung gipfelt 1939 im sogenannten Stalin-Hitler Pakt, der nichts anderes ist als eine vertragliche Aufteilung der Einflussgebiete mit einer imperialistischen Macht.

Der Bolschewismus lebt weiter

Die stalinistische Konterrevolution geht jedoch nicht ohne Widerstand über die Bühne. Der Kampf der Linken Opposition setzt sich auch nach ihrem Ausschluss aus der Partei und den beginnenden Säuberungenen fort. Die Niederlagen der Revolutionen und die Isolation stärken aber die Bürokratie und demoralisieren zunehmend die fortschrittlichen Teile der ArbeiterInnenklasse. Obwohl also die stalinistische Bürokratie mit ihrer Politik direkt verantwortlich ist für viele gescheiterte Revolutionen, wird ihre Position durch die Isolation Russlands gefestigt. Um seine Macht endgültig zu sichern, gibt sich Stalin mit dem Ausschluss der Linken Opposition jedoch nicht zufrieden. Bis Ende der 30er Jahre lässt er einen Grossteil der bolschewistischen Führung von 1917 und der revolutionären Kader, welche die junge Sowjetunion aufgebaut haben, ermorden. Den Säuberungen fallen, neben Zehntausenden von einfachen Parteimitgliedern, 40 ehemalige Mitglieder des Zentralkomitees, 9 Mitglieder aus dem Politbüro der Revolution und 18 Volkskommissare der jungen Sowjetunion zum Opfer. Viele Errungenschaften der Revolution werden während Stalins Herrschaft rückgängig gemacht , die dritte Internationale wird aufgelöst und die lebendige Demokratie der Sowjetmacht durch ein totalitäres Regime ersetzt.

Als Leo Trotzki 1940 ermordet wird, sitzt das stalinistische Regime fest im Sattel. Mit Trotzki wird der letzte grosse Akteur der russischen Revolution vernichtet. Seine Ideen aber leben weiter. Solange der Kapitalismus existiert, wird es einen Kampf der ArbeiterInnen für ihre Befreiung geben, einen Kampf für den Sozialismus.

Florian Eschmann
JUSO Stadt Bern