Die Russische Revolution jährt sich nächstes Jahr zum hundertsten Mal. Fern davon ein Fossil zu sein, hält dieses Ereignis zentrale Lehren für die sozialistische Bewegung bereit. Über das ganze Jahr hindurch wird sich die marxistische Strömung daher mit einer Artikelreihe und anderen Aktivitäten zum Gedenken und zur Verteidigung der russischen Revolution aktiv in die Debatte einbringen. Eine Einleitung.

Die Russische Revolution gewinnt gerade heute an Aktualität und Brisanz. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 sind wir in eine vergleichbare Periode von Revolutionen und Konterrevolutionen eingetreten. Banken-, Euro-, Immobilien und weitere Krisen treten als allgemeine Krise des kapitalistischen Systems auf. Ein Ausdruck davon ist die politische Polarisierung nach links (Syriza, Podemos, Corbyn) und nach rechts (Front National, SVP, AfD). In solchen Zeiten wandelt sich das Studium vergangener Revolutionen und Revolutionsversuche von einer rein akademisch-historischen zu einer brennenden Frage der Tagespolitik. Zu verstehen, wo, weshalb und unter welchen Umständen revolutionäre Bewegungen auftreten und wie diese Erfolg haben können, hilft uns, unsere eigene Strategie festzulegen. In einer revolutionären Situation werden soziale, ökonomische und politische Widersprüche und Dynamiken offengelegt. Politische Kräfteverhältnisse, welche über Jahrzehnte als stabil galten, verändern sich innerhalb kürzester Zeit. Verschiedenste politische Programme und Organisationen werden in der Realität getestet, verworfen oder setzen sich durch.

Russland vor Hundert Jahren

Russland war am Ende der Zarenherrschaft eines der politisch repressivsten und ökonomisch rückständigsten Länder Europas. Der autokratische russische Zentralstaat herrschte mit eiserner Hand über seine Untertanen. Das Land wurde noch immer feudalistisch verwaltet. Die Landbevölkerung, welche einen Grossteil des 150 Millionen Menschen umfassenden Imperiums stellte, war bitterarm. Moderne Fabriken und ein eigentliches Proletariat gab es nur in einigen wenigen Zentren. Die kleine Industrie setzte sich aber vor allem aus Grossbetrieben zusammen, welche unter der Kontrolle des internationalen Finanzkapital standen. Während des ersten Weltkrieges verschärfte sich die schlechte soziale Situation der russischen Massen mehr und mehr. Das führte zu zunehmenden sozialen Konflikten, in welchem besonders die kleine, dafür äusserst kämpferische ArbeiterInnenbewegung positiv in Erscheinung trat. Daher konnte diese 1917 bereits auf eine grosse Kampferfahrung zurückgreifen.

Vom Zar zu Lenin

In dieser Situation kam anfangs des Jahres ein gewaltiger revolutionärer Prozess ins Rollen, der im Sturz des Kapitalismus in Russland und im ersten sozialistischen Staat mündete. Oftmals werden dabei die Ereignisse der sogenannten Februarrevolution, welche zum Sturz des Zaren führte und die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober (Oktoberrevolution) als unabhängig voneinander dargestellt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die zwei Ereignisse sich gegenseitig bedingen und die Dynamik des revolutionären Prozesses gerade auch in der Zeit zwischen diesen beiden Höhepunkten lag. Im Februar brach in Petrograd angeführt von Frauen und streikenden Arbeitern ein spontaner Massenaufstand in der Hauptstadt aus. Viele Tausende Arbeiter, Jugendliche und Frauen schlossen sich der Bewegung an. Als die Soldaten sich weigerten auf das demonstrierende Volk zu schiessen, brach der so mächtig wirkende Zarenstaat innerhalb kürzester Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Der Zar war gestürzt, doch die Revolution hatte erst begonnen. Die ArbeiterInnen, die Soldaten und die BäuerInnen organisierten sich massenhaft in demokratischen Räten (russ. „Sowjet“), welche von diesem Zeitpunkt an die eigentliche politische Macht innehatten. Die Mehrheit in diesen Räten stellten zu Beginn die Menschewiki (gemässigte SozialdemokratInnen) und die Sozialrevolutionäre Partei. Die Bolschewiki waren anfangs in der Minderheit. Die ReformistInnen entschieden sich nun, die politische Macht einer nichtgewählten provisorischen Koalitionsregierung und somit den Bürgerlichen zu übergeben. Hinter dieser Entscheidung stand ihre Überzeugung, dass mit dem Sturz des Zarismus als erster Schritt der Kapitalismus in Russland eingeführt und eine bürgerliche Demokratie errichtet werden müsse.

Das Problem dabei war, dass die bürgerlichen Fabrikherren und Grossgrundbesitzer nicht gewillt waren die drängenden Probleme der Massen zu lösen, da dies nicht ihren Klasseninteressen entsprach. Um den Krieg zu beenden, das Land der Grossgrundbesitzer an die Bauern zu verteilen und der ArbeiterInnenklasse Brot sowie Jobs zu verschaffen, hätten die die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre mit den Bürgerlichen brechen und den Weg Richtung Sozialismus einschlagen müssen. Da die ReformistInnen dies nicht einsahen, gerieten sie im Laufe des Jahres immer mehr in Konflikt mit den revolutionären Massen. Dies ist die Essenz der sogenannten Doppelherrschaft von provisorischer Regierung und Sowjets. In dieser Situation gelang es den revolutionären Bolschewiki zunehmend die Unterstützung der Mehrheit der Sowjets und damit der russischen Bevölkerung zu gewinnen. Dieser ereignisreiche Prozess fand schliesslich seinen Höhepunkt in der Oktoberrevolution: Durch einen revolutionären Aufstand entmachteten die Sowjets unter der Führung der Bolschewiki die provisorische Regierung und errichteten die erste sozialistische Räte-Republik.

Aber was ist mit Stalin?

Die erste sozialistische Revolution war erfolgreich. Trotzdem entwickelte sich daraus nicht die sozialistische Gesellschaft, für welche die RevolutionärInnen gekämpft hatten. Im Gegenteil ging die Sowjetunion besonders mit Stalin als eines der brutalsten und unterdrückerischsten Regime in die Geschichte ein. Dieser Widerspruch lässt sich nicht mit abstrakten liberalen Floskeln von Totalitarismus und Freiheit, sondern nur mit einem Studium der inneren und äusseren Faktoren und Widersprüchen erklären. Ein guter Ansatz bietet uns dafür die Analyse von Leo Trotzki. Er beschreibt mithilfe der marxistischen Methode, wie es zur «Degeneration» der Russischen Revolution kommen konnte. Die zentralen Ursachen dafür sah er in der unterentwickelten, im Krieg stark zerstörten Wirtschaft und in der internationalen Isolation des revolutionären Projekts. Im Buch „Verratene Revolution“ beschreibt Trotzki wie sich mit Stalin eine zunehmend parasitär verhaltende Bürokratie von Staat, Gewerkschaften und Partei über die Gesellschaft erheben und diese erdrücken konnte. Trotzki kam zum Schluss, dass diese Situation früher oder später entweder durch eine weitere politische Revolution gelöst wird oder die Bürokratie schliesslich den Kapitalismus wieder eingeführt. Letztere Variante konnten wir mit dem Ende der Sowjetunion in den 1990 Jahren erleben. Trotz dieses Rückschlags lassen sich die Bedeutung und die Errungenschaften der Russischen Revolution nicht verleugnen.

Was wir daraus lernen können

In vielen kleineren und grösseren Ereignissen der Russischen Revolution stecken wertvolle Lehren. Besonders zentral erscheint die Rolle des „subjektiven Faktors“ und der richtigen Strategie. Wie wir in der russischen Revolution beobachten konnten, werden in revolutionären Situationen alle grundlegenden Programme und Parteien dem Test der Praxis und der breitesten Massen unterworfen. Mit der richtigen Perspektive, einem revolutionären Programm und einer guten Organisation, welche alle direkt mit dem Bewusstsein und der Lebensrealität der Massen verbunden sind, kann es einer zahlenmässig relativ kleinen, revolutionären Partei gelingen, die Mehrheit der Bevölkerung unter einer Fahne zu vereinen. Es ist zwar korrekt, dass die Massen die Revolution machen. Doch ohne Partei und einer klaren sozialistischen Perspektive können Revolutionen nicht erfolgreich sein, wie wir wieder kürzlich in den Ereignissen des arabischen Frühlings oder in Südamerika sehen konnten. Ein „subjektiver Faktor“, welcher die Erfahrungen der vergangenen Kämpfe in die Bewegung einbringt, ist für den Erfolg notwendig. Während dieser Faktor etwa in Deutschland fehlte, verhalf er in Russland der Bewegung zum Sieg. Durch geduldiges Erklären der notwendigen nächsten Schritte und dem Aufzeigen einer revolutionären Alternative, gewannen die Bolschewiki schlussendlich die Mehrheit der Bevölkerung für sich. Nachdem die Massen durch den Gang der Ereignisse ihre alten Vorurteile abgelegt und das Vertrauen in das Bürgertum und den Reformismus verloren hatten, übernahmen sie in Form der Sowjets und der Bolschewistischen Partei die Macht. Während diese Machtübernahme oft als illegitimer Putsch dargestellt wird, handelte es sich im Gegenteil um eine der unblutigsten und friedlichsten Revolutionen in der Geschichte.

In Verteidigung der Revolution

Sowohl die bürgerlichen Dämonisierungen wie auch die stalinistischen Schönfärbereien blenden die zentrale Rolle der ArbeiterInnen und der anderen unterdrückten Klassen aus. Sie ignorieren oder verkennen die Rolle des revolutionären Marxismus und des Klassenkampfs.

Das Ziel der marxistischen Strömung zum 100-jährigen Jubiläum der Russischen Revolution ist es, eine aktuelle marxistische Interpretation der Vorgänge zu liefern und für die Linke zugänglich zu machen: Was sind die Lehren aus 1917? Was können wir für heute und unsere eigene revolutionäre Politik davon verwenden, was nicht?

Der Funke hat dazu für das nächste Jahr eine Kampagne geplant: In jeder Ausgabe wird sich mindestens ein Artikel mit der Revolution befassen. Des Weiteren werden wir eine eigene Website  mit zusätzlichen Infos und Artikeln erstellen. Ausserdem werden wir das Buch „Lenin and Trotzki – What they really stood for“ auf Deutsch publizieren, sowie verschiedene Spezialangebote auf bereits erschienene Bücher anbieten. Überall wo wir aktiv sind, werden wir zudem diverse lokale Veranstaltungen und zum Abschluss im Oktober 2017 eine grosse gesamtschweizerische Konferenz organisieren.

Die Revolution kommt

Das Studium der Russischen Revolution bereitet uns darauf vor, in zukünftigen Revolutionen richtig zu handeln. Angesichts der Kriege, Krisen und der wirtschaftlichen Unsicherheit sind revolutionäre Situationen aktuell keine Phantasterei. Der Funke wird neben den sonstigen Aktivitäten das nächste Jahr deshalb nutzen, die Russische Revolution genau zu studieren. Dies würden wir gerne nicht alleine tun, sondern mit unseren LeserInnen zusammen. Es soll ja immer noch Leute geben, die glauben, in ihrer Lebenszeit keine Revolution mehr zu sehen. So wie Lenin, der kurz vor der Februarrevolution in Zürich bei einer Rede vor den JungsozialistInnen nebenbei bemerkte, er denke nicht, die nächste Revolution selbst zu erleben. Weniger als ein Jahr später wagte er mit den Bolschewiki und der Russischen Revolution den ersten Schritt zur sozialistischen Weltrevolution.

Lukas Nyffeler,
Juso Bern

Silvan Degen
Juso Baselland