Der Ausbruch der Russischen Revolution im Februar 1917 wird oft mit den hohen Brotpreisen und dem schlecht laufenden Ersten Weltkrieg erklärt. Doch die wahren Ursachen liegen tiefer. Dieser Artikel beleuchtet den Kriegsverlauf aus der Optik Russlands, geht auf die Rolle des russischen Liberalismus ein und zeigt, wie sich der Krieg auf die ArbeiterInnen und ihre Parteien ausgewirkt hat.

Bild: Russische Soldaten auf dem Weg zur Front – Wikipedia, National Geographic

Russland war als Juniorpartner von Grossbritannien und Frankreich in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft gerade vom französischen Kapital verschaffte den Grossmächten ein Druckmittel, die Russen ins Boot zu holen. Russland war einerseits selbst eine imperialistische Macht gegenüber kleineren Nationen, andererseits war es wirtschaftlich und politisch abhängig von seinen westlichen Verbündeten. Während sich im Westen die Fronten verhärteten, erlitten die russischen Generäle Niederlage um Niederlage. Sie waren unfähig, sich an die moderne Kriegsführung anzupassen. Mit 2.5 Millionen Toten erlitten die Völker Russlands die grössten Verluste von allen am Krieg beteiligten Länder: 40% der militärischen Verluste der Alliierten betrafen Russland. Zu den hohen Verlusten trug auch die schlechte Versorgung der Armee bei. Nicht wenige Soldaten wurden ohne Waffen oder Stiefel in den Tod geschickt. Auf Druck der Verbündeten wurden Offensiven gestartet, obwohl die dafür nötigen Truppen nur teilweise mobilisiert worden waren.

Verrat fürs Vaterland
Der Erste Weltkrieg kam für die ArbeiterInnenbewegung wie ein Schock. Einschneidend war die Unterstützung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie. Damit ermöglichten sie den Regierungen erst die Kriegsführung und unterstützten die Vaterlandsverteidigung moralisch. Die Parteien der Zweiten Internationale, der weltweiten Dachorganisation der Sozialdemokratie, hatten noch 1912 auf dem Basler Friedenskongress bekräftigt, den Krieg verhindern zu wollen. Einige wenige Internationalistinnen und Internationalisten, unter ihnen Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg, fanden jedoch im Herbst 1915 den Weg ins bernische Dorf Zimmerwald und knüpften die Bande der internationalen Solidarität neu. Ihr Manifest wies die Vaterlandsverteidigung zurück und appellierte an die Soldaten und ArbeiterInnen aller Länder, den Barbarismus der kapitalistischen Kriegstreiber zu beseitigen. Das Zusammenkommen von SozialistInnen verschiedener Länder war ein Hoffnungsschimmer in Zeiten der Barbarei.

Krise an allen Fronten
Der Krieg kostete den russischen Staat Unsummen. Kriegsanleihen waren unpopulär, da in Krisenzeiten niemand investieren wollte. Wie ein Süchtiger konsumierte die Wirtschaft immer mehr von dem, was sie in noch grössere Schwierigkeiten brachte: Geld. Die Preise stiegen durch die krasse Erhöhung der Geldmenge stark an. Es wurde zwar ein Überschuss an Getreide produziert, die Kapitalist-Innen konnten aber nicht genügend Profit daraus schlagen, da die Preise aufgrund der Inflation für die Bevölkerung der Städte zu hoch waren. Die Bauern hatten wegen der Geldentwertung keine Motivation, die Preise zu senken. Diese miserable Situation blieb nicht ohne instinktive Gegenwehr. Hungerrevolten in den Städten, riesige Streiks in den Fabriken und massenhafte Desertation von der Front nahmen zu und waren im Herbst 1916 Alltag. Im Januar 1917 befanden sich in Russland 270’000 ArbeiterInnen im Streik. Durch Treibstoffknappheit standen zusätzlich viele Fabriken still. Am Generalstreik vom 9. Januar in Petrograd waren etwa 145’000 beteiligt.

Bolschewiki und Menschewiki
Der Krieg veränderte auch die beiden Parteien der russischen Sozialdemokratie. Zwischen 1912 und 1914 gelang es den Bolschewiki, die Mehrheit der organisierten ArbeiterInnen Petrograds für sich zu gewinnen. Nach Kriegsausbruch wurde die klassenbewusste Arbeiterschaft als Kanonenfutter eingesetzt. An ihre Stelle rückte eine neue proletarische Schicht, die nicht die Erfahrung oder die Organisation ihrer VorgängerInnen besass. Die Bolschewiki waren durch den Abzug ihrer Basis, ihren Gang in die Illegalität und die Polizeirepression stark geschwächt. Führende Kader waren im Exil oder festgesetzt in Sibirien und die Kommunikation mit ihnen dadurch erschwert. Die Menschewiki waren bei der Frage der Vaterlandsverteidigung gespalten und dadurch geschwächt. Im Unterschied zu den Bolschewiki waren die Menschewiki nicht verboten und waren auch während dem Krieg Teil des Parlaments. Um den Bürgerlichen und dem Zar einige Reformen abzuknüpfen und den Volkszorn in ruhigere Gewässer zu lenken, gründeten sie die Arbeitergruppe des Zentralen Komitees für die Kriegsindustrie.

Wichtig ist aber zu betonen, dass Anfangs 1917 keine der beiden Parteien die Perspektive auf eine Revolution (und schon gar keine sozialistische) hatte.

Patriotische Liberale
Die liberalen (Kadetten) und konservativen (Oktobristen) Bürgerlichen unterstützen den Krieg. Der Zarismus hatte sich nach 1905 als einziger Garant des Privateigentums bewiesen. Der Zarismus war aber in eine Sackgasse geraten. Im Krieg konnte er nicht mit Deutschland mithalten, und in der Politik stand ihm mit Nikolau II. ein Mann vor, der sich mehr für seine Freizeit und die Orthodoxie interessierte als er etwas von Kriegsführung verstand. Er verweigerte hartnäckig jegliche Reformen und Zugeständnisse gegenüber dem Parlament und wechselte Minister am laufenden Band aus. Der oppositionelle „progressive Block“, ein Mehrheitsbündnis aus Liberalen und Konservativen, forderte eine „Regierung des Vertrauens“, womit sie sich selbst meinten. Ihre sogenannte Opposition blieb jedoch zahnlos. Als der Zar für einige Monate die Duma auflöste, war kaum Protest zu hören im Parlament. Diese Analyse zeigt einerseits, dass die russische Bourgeoisie, zumindest ihre wichtigsten Vertreter, sehr genau wusste, was sie tat und was die Konsequenzen ihres Handelns waren. Andererseits konnten die Liberalen nicht einmal jene Rolle einnehmen, die Putilov ihnen voraussagte. Die Angst vor dem drohenden Untergang hinderte die Oberschicht des Landes aber nicht, die Profite des Krieges zu verprassen. Im Gegenteil: In den Palästen und Bordellen floss Champagner in Strömen, während in den Strassen Hunger und an der Front Tod herrschte.

Eingeholt von der Geschichte
Den Intelligenteren unter den Adligen und KapitalistInnen wurde langsam klar, dass ihrer Welt radikal ein Ende bereitet würde, wenn nichts unternommen würde. Verschiedene Kreise planten eine Palastrevolte, um den Zaren durch einen anderen zu ersetzen. Diese Zersplitterung der herrschenden Klassen ist ein Merkmal einer vorrevolutionären Situation. Am Ende kamen jedoch alle Pläne zu spät: Die revolutionären Ereignisse Ende Februar holten sie ein und setzten der dreihundertjährigen Herrschaft der Romanows ein Ende.

Silvan Degen
JUSO Baselland