[dropcap]D[/dropcap]ieses Jahr jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Die VerfechterInnen des Kapitalismus trösten sich mit der Erinnerung an den Zusammenbruch der Sowjetunion, den sie als das Ende des Sozialismus deuten. Was aber zusammenbrach, war nicht der Sozialismus. Im Gegenteil: das stalinistische Regime war die Gegenteil des demokratischen Projekts, welches die Bolschewiki 1917 begonnen haben.

Der Kollaps der UdSSR wurde von den VerteidigerInnen des Kapitalismus als endgültiger Sieg der sogenannten “freien Marktwirtschaft” über den Kommunismus dargestellt. Eine Welle der Euphorie ging vor 25 Jahren durch die herrschende Klasse und deren UnterstützerInnen. Sie sprachen vom Ende des Sozialismus, des Kommunismus und sogar vom Ende der Geschichte. Seither waren wir Zeugen einer beispiellosen Schmutzkampagne gegen die Ideen des Marxismus weltweit.

25 Jahre später ist nichts mehr übrig geblieben von diesen euphorischen Illusionen. Der Kapitalismus ist in der tiefsten Krise seit der Grossen Depression. Millionen von Menschen sehen sich von Abbaupolitik, Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Konflikte und Kriege verwüsten den gesamten Planeten, dessen Existenz in einer menschenfreundlichen Gestalt durch die zerstörerische Kraft der unkontrollierbaren Marktwirtschaft in Gefahr gebracht wird. Im Lichte dieser Tatsachen scheinen die triumphierenden Ankündigungen ironisch. Die Krise des Kapitalismus und ihre Auswirkungen haben die selbstbewussten Voraussagen widerlegt.

Dieselben westlichen KommentatorInnen, welche die Fehler der Sowjetunion immer aufgebauscht haben, versuchen nun verzweifelt, das offensichtliche Scheitern der Marktwirtschaft zu erklären. Die frühere Euphorie wird abgelöst durch rabenschwarzen Pessimismus.

Die Angst vor der Revolution
Genau aus diesem Grund wird das hundertste Jubiläum der Russischen Revolution auch zum Anlass genommen, die antikommunistische Propaganda nochmals zu intensivieren. Es ist nicht schwer, die Gründe dafür zu finden: In der Krise stellen die Menschen die Marktwirtschaft zunehmend grundsätzlich in Frage. Gleichzeitig steigt das Interesse an marxistischen Ideen, was die herrschende Klasse umso mehr beunruhigt. Die erneute Hetzkampagne ist nicht Ausdruck von Selbstvertrauen, sondern von Angst.

Die Geschichte zeigt, dass die herrschende Klasse nicht damit zufrieden sein kann, eine Revolution zu besiegen. Diese muss ausserdem mit Lügen überschüttet werden; die Namen ihrer Führer müssen in den Dreck gezogen werden und sie muss vollständig in einem Nebel der Feindseligkeit und des Misstrauens erstickt werden, so dass nicht einmal mehr die Erinnerung daran die folgenden Generationen noch inspirieren kann.

Beinahe drei Generationen lang richteten die VerfechterInnen des Kapitalismus ihre Wut auf die Sowjetunion. Es wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, um das Bild der Oktoberrevolution und der verstaatlichten Planwirtschaft, die aus jener hervorging, zu beschmutzen. Die Verbrechen des Stalinismus waren für diese Kampagne ausserordentlich nützlich. Die Methode bestand darin, den Sozialismus und Kommunismus mit jenem bürokratisch-totalitären Apparat zu identifizieren, der aus der Isolation der Revolution in einem rückständigen Land hervorging.

Geschichtsverfälschung und Heuchelei der herrschenden Klass
Der Hass auf die Sowjetunion all jener, deren Karrieren, Gehälter und Profite aus Mieteinnahmen, Zins und Profit, also aus der bestehenden Gesellschaftsordnung gespeist werden, ist nicht schwer zu verstehen. Ihnen geht es nicht um die Ablehnung des totalitären Regimes Stalins. Dieselben „Freunde der Demokratie“ hatten und haben keinerlei Skrupel, diktatorische Regimes zu preisen, sofern diese ihren Interessen entsprechen. Die herrschende, „demokratische“ Klasse Grossbritanniens war etwa ganz zufrieden mit Hitlers Aufstieg zur Macht, solange dieser die deutsche ArbeiterInnenklasse unterdrückte und sich auf den Osten Europas konzentrierte.

Winston Churchill und andere RepräsentantInnen der britischen herrschenden Klasse äusserten bis 1939 ihre glühende Bewunderung für Mussolini und Franco. Von 1945 an unterstützten die westlichen „Demokratien“ und in erster Linie die USA jede barbarische Diktatur von Somoza bis Pinochet, von der argentinischen Junta bis zum indonesischen Schlächter Suharto, der den Gipfel der Macht über die Leichen einer Million Menschen erklomm, die mit der aktiven Unterstützung der CIA ermordet wurden. Die FührerInnen der westlichen Demokratien werfen sich vor dem bluttriefenden saudischen Regime in den Staub, das seine eigene Bevölkerung foltern, ermorden, verprügeln und sogar kreuzigen lässt. Die Liste dieser Barbareien hat kein Ende.

Aus dem Blickwinkel des Imperialismus sind solche Regimes völlig annehmbar, solange sie sich auf das Privateigentum an Land, Banken und grossen Monopolen stützen. Ihre unversöhnliche Feindschaft gegen die Sowjetunion stützte sich nicht auf irgendeine Freiheitsliebe, sondern auf nacktes Klasseninteresse. Sie hassten die UdSSR nicht für das, was an ihr schlecht, sondern gerade für das, was an ihr positiv und fortschrittlich war. Sie hatten keine Einwände dagegen, dass Stalin ein Diktator war (sie waren im Gegenteil über die Gelegenheit erfreut, die ihnen die Verbrechen des Stalinismus zur Verunglimpfung des Sozialismus im Westen boten), sondern nur dagegen, dass diese Diktatur sich immer noch auf staatliche Eigentumsformen stützte – die einzigen verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution.

Die systematische Geschichtsrevision durch die Bürgerlichen und ihre akademischen Hofdichter unterscheidet sich zu einem erstaunlich geringen Grad von den alten Methoden der stalinistischen Bürokratie, welche die Geschichte auf den Kopf stellte, indem sie führende Persönlichkeiten zu Unpersonen machte; sie wie im Fall von Leo Trotzki verteufelte und ganz allgemein schwarz für weiss erklärte. Heutige Schriften der Feinde des Sozialismus unterscheiden sich davon ausschliesslich insofern, als sie Lenin mit demselben blinden Hass und derselben Verachtung strafen, wie sie die Stalinisten nur Trotzki zukommen liessen.

Was die Revolution erreicht hat
Die Ordnung, die die Oktoberrevolution errichtet hatte, war weder totalitär noch bürokratisch, sondern die demokratischste Ordnung, welche die Welt je gesehen hat. Die Oktoberrevolution machte Schluss mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln. Erstmals wurde die Vitalität der Planwirtschaft nicht nur in der Theorie, sondern in der Praxis demonstriert. Auf einem Sechstel der Erdoberfläche wurde in einem einmaligen gigantischen Experiment bewiesen, dass eine Gesellschaft ohne KapitalistInnen, Grossgrundbesitzerinnen und Geldverleiher möglich ist.

Heutzutage ist es in Mode, die Erfolge kleinzureden oder gar völlig zu bestreiten. Der flüchtigste Blick auf die Fakten führt uns jedoch zu einem völlig anderen Ergebnis. Trotz der Probleme, Mängel und Verbrechen – womit uns die Geschichte des Kapitalismus ebenso überhäuft, und zwar im Übermass – brachte die Planwirtschaft in der Sowjetunion in einer in historischem Massstab bemerkenswert kurzen Frist höchst erstaunliche Fortschritte hervor. Daher kommen die Angst und der Hass vonseiten der herrschenden Klassen im Westen. Daher kommen die unverschämten Lügen, derer sie sich noch immer bedienen – natürlich bemäntelt mit „akademischer Objektivität“.

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Antikommunistische Propaganda
Die Bürgerlichen sehen sich gezwungen, die Ideale der Oktoberrevolution ein für alle Mal zu begraben. So wurde der Zusammenbruch der UdSSR zum Signal für eine Propagandalawine gegen die Errungenschaften der Planwirtschaften in Russland und Osteuropa. Diese ideologische Offensive der StrategInnen des Kapitals gegen den „Kommunismus“ war ein genau kalkulierter Versuch, die historischen Errungenschaften der Revolution zu verleugnen. Für diese Damen und Herren war die Russische Revolution seit jeher eine Verirrung der Geschichte. Aus ihrer Sicht hat der Kapitalismus immer existiert und wird das auch für immer tun. Deswegen darf es nie Erfolge der Planwirtschaft gegeben haben. Die sowjetischen Statistiken werden einfach für aufgeblasene Lügen erklärt.

All die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Bildung, Gesundheit, sozialen Fürsorge etc. wurden von einem Strom aus Lügen und Verzerrungen verschüttet, dessen Ziel es ist, die Errungenschaften aus den Gedächtnissen verschwinden zu lassen. Die Mängel des Lebens in der Sowjetunion, wovon es viele gab, werden systematisch überbetont, um zu „beweisen“, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gibt. Statt Fortschritt sagen sie nun, es habe nur Rückschritt gegeben.

Beispiellose Fortschritte
Es ist notwendig, sich dieser beispiellosen Lügenkampagne entgegenzustellen. Wir wollen die Leserschaft nicht mit Statistiken langweilen, halten es aber für notwendig, jeden falschen Zweifel an den erstaunlichen Erfolgen der Planwirtschaft zu beseitigen. Trotz der unfassbaren Verbrechen der Bürokratie sind die einmaligen Fortschritte der Sowjetunion nicht nur eine vergangene historische Errungenschaft, sondern vor allem ein Ausblick auf die enormen Möglichkeiten einer Planwirtschaft, insbesondere wenn diese demokratisch geleitet würde. Diese Möglichkeiten stehen in völligem Gegensatz zur heutigen weltweiten Krise des Kapitalismus.

Die Oktoberrevolution 1917 führte zum grössten Wachstum der Produktivkräfte in einem Land in der Geschichte. Vor der Revolution verfügte das zaristische Russland über eine äusserst rückständige, halbfeudale Wirtschaft; der grösste Teil der Bevölkerung konnte nicht lesen und schreiben. Von 150 Millionen EinwohnerInnen waren nur vier Millionen in der Industrie beschäftigt. Damit war Russland noch viel rückständiger als beispielsweise das heutige Pakistan.

Unter den Bedingungen schrecklicher wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Schwäche begann das Regime der ArbeiterInnendemokratie, das Lenin und Trotzki errichtet hatten, gestützt auf eine Planwirtschaft Russland aus der Rückständigkeit herauszuziehen. Die Ergebnisse sind wirtschaftsgeschichtlich einmalig: Innerhalb von zwei Jahrzehnten schuf sich Russland eine gewaltige industrielle Basis und schaffte den Analphabetismus ab. Auf den Gebieten der Gesundheit, Kultur und Bildung machte es bemerkenswerte Fortschritte. Zur selben Zeit befand sich die westliche Welt im Würgegriff der Massenarbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Zuge der Grossen Depression.

Die Lebensfähigkeit der neuen Produktionsweise wurde 1941 bis 1945 auf eine schwere Probe gestellt: Die Sowjetunion wurde von Nazideutschland angegriffen, dem alle Ressourcen Europas zur Verfügung standen. Trotz des Verlusts von 27 Millionen Menschenleben schaffte es die UdSSR, Hitler zu besiegen und ging ab 1945 daran, ihre zerstörte Wirtschaft in einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne wiederaufzubauen, womit sie zur zweiten Supermacht der Welt wurde.

Nochmals: Fortschritte, die nicht weggeredet werden können!
Dass ein Land so erstaunliche Fortschritte macht, muss uns zum Nachdenken anregen. Man kann von den Idealen der Revolution der Bolschewiki halten, was man will, aber eine solche Transformation in einer so kurzen Zeit verlangt die Aufmerksamkeit aller denkenden Menschen.

Innerhalb von 50 Jahren verneunfachte die Sowjetunion ihr Bruttoinlandsprodukt. Trotz der schrecklichen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg verfünffachte sie ihr BIP zwischen 1945 und 1979. 1950 entsprach ihr BIP 33% des US-amerikanischen. 1979 hatte sie bereits 58% des BIP der USA erreicht. In den späten 1970er-Jahren war die UdSSR eine Industriemacht, die in absoluten Zahlen den Rest der Welt in einigen Schlüsselindustrien bereits überflügelt hatte. Die Sowjetunion war nicht nur der zweitgrösste Produzent industrieller Güter nach den USA, sondern der weltweit führende Produzent von Öl, Stahl, Zement, Asbest, Traktoren und einer Reihe von Maschinen.

Diese Zahlen zeigen aber nicht das ganze Ausmass des Erreichten. All das wurde praktisch ohne Arbeitslosigkeit oder Inflation erreicht. Es gab in der Sowjetunion keine Arbeitslosigkeit wie im Westen. Tatsächlich war es eine Straftat, arbeitslos zu sein. (Dieses Gesetz ist ironischerweise bis heute nicht abgeschafft worden, obwohl es mittlerweile nichts mehr bedeutet.) Es gab natürlich Fälle, in denen Einzelpersonen entlassen wurden, weil sie in Konflikt mit der Bürokratie gerieten. Aber solche Phänomene ergaben sich nicht aus dem Wesen der Planwirtschaft und hätten nicht existieren müssen. Sie hatten weder mit der zyklischen Arbeitslosigkeit des Kapitalismus, noch mit der organischen Massenarbeitslosigkeit etwas zu tun, die derzeit 35 Millionen Menschen in den OECD-Ländern zu einem Leben in erzwungener Untätigkeit verdammt.

Von einem rückständigen, halb-feudalen Land aus vorwiegend AnalphabetInnen im Jahr 1917 hat sich die UdSSR zu einer modernen Volkswirtschaft entwickelt. Die Sowjetunion beheimatete einen Viertel aller WissenschaftlerInnen der Welt, hatte ein Gesundheits- und Bildungssystem, gleichwertig, wenn nicht besser als diejenigen im Westen, und war das erste Land, welches einen Satelliten in die Erdumlaufbahn schoss und den ersten Menschen ins All brachte. In den 80er-Jahren hatte die UdSSR mehr WissenschaftlerInnen als die USA, Japan, Grossbritannien und Deutschland zusammen.

Warum brach die Sowjetunion zusammen?
Trotz ihrer beispiellosen Erfolge brach die Sowjetunion zusammen. Man muss sich der Frage stellen, warum das geschah. Die Erklärungen der bürgerlichen „Experten“ sind so vorhersehbar wie inhaltsleer: Der Sozialismus (oder Kommunismus) ist gescheitert, Ende der Geschichte. Die Führungen der ArbeiterInnenbewegung wissen auch nichts mehr dazu zu sagen. Die rechten ReformistInnen plappern wie immer die Ansichten der herrschenden Klasse nach und bei den LinksreformistInnen herrscht betretenes Schweigen. Die Führer und Führerinnen der kommunistischen Parteien im Westen, die gestern noch alle Verbrechen des Stalinismus kritiklos unterstützten, versuchen sich jetzt von einem diskreditierten Regime zu distanzieren, haben aber keine Antworten auf die Fragen der ArbeiterInnen und Jugendlichen, die nach ernsthaften Erklärungen verlangen.

Sozialismus oder Kapitalismus?
Die Errungenschaften der sowjetischen Industrie und Wissenschaft sind schon erwähnt worden. Doch die Sowjetunion hatte noch eine andere Seite. Der demokratische Arbeiterstaat, den Lenin und Trotzki errichteten, wurde durch Stalins ungeheuerlich deformierten bürokratischen Staat ersetzt. Dieser schreckliche Rückschritt bedeutete die Zerstörung der politischen Macht der ArbeiterInnenklasse. Doch die grundlegenden sozioökonomischen Errungenschaften des Oktobers verblieben, nämlich die neuen Eigentumsverhältnisse, deren deutlichster Ausdruck die Planwirtschaft war.

In den 1920ern schrieb Trotzki eine Broschüre mit dem Titel: Kapitalismus oder Sozialismus? Das war immer die entscheidende Frage für die Sowjetunion. Die offizielle Propaganda behauptete zunächst, die Sowjetunion bewege sich unaufhaltsam auf die Errichtung des Sozialismus zu. Ab 1960 behauptete Chruschtschow, der Sozialismus sei bereits verwirklicht und die UdSSR werde innerhalb von zwanzig Jahren eine völlig kommunistische Gesellschaft errichten. Die Wahrheit ist allerdings, dass die Sowjetunion sich in eine völlig andere Richtung bewegte.

Eine Entwicklung in Richtung Sozialismus würde eine schrittweise Verringerung der Ungleichheit bedeuten. In der Sowjetunion wuchs die Ungleichheit dagegen ständig an. Zwischen den Massen und den Millionen privilegierter Beamter und ihren Familien mit ihren hübschen Kleidern, grossen Autos, bequemen Wohnungen und Landhäusern tat sich ein weiter Abgrund auf. Der Gegensatz war umso bedeutender, weil er in so schreiendem Widerspruch zur offiziellen Propaganda über den Sozialismus und Kommunismus stand.

Bürokratie und wirtschaftliche Entwicklung
Aus der Perspektive der Massen lässt sich wirtschaftlicher Erfolg nicht auf die Menge des produzierten Stahls, Zements oder elektrischen Stroms reduzieren. Der Lebensstandard hängt vor allem von der Produktion hochqualitativer, billiger und leicht verfügbarer Waren des täglichen Bedarfs ab: Kleidung, Schuhe, Essen, Waschmaschinen, Fernseher usw. In diesem Bereich hinkte die Sowjetunion dem Westen weit hinterher. Das alleine wäre vielleicht noch tolerierbar gewesen, doch entscheidend war, dass einige Leute in den Genuss dieser Dinge kamen, während sie den meisten verwehrt blieben.

Der Stalinismus konnte sich trotz seiner schreienden Widersprüche deshalb so lang halten, weil die Planwirtschaft jahrzehntelang immense Erfolge erzielte. Doch die Herrschaft der Bürokratie führte zu Korruption, Misswirtschaft und Verschwendung, bis sie schliesslich die Errungenschaften der Planwirtschaft selbst zu untergraben begann. Je weiter sich die UdSSR entwickelte, desto schädlicher wurden die Auswirkungen der bürokratischen Herrschaft.

Die Bürokratie stellte immer schon eine gewaltige Bremse in der Entwicklung der Produktivkräfte dar. Doch während der Aufbau einer Schwerindustrie noch relativ leicht zu bewerkstelligen war, lässt sich eine moderne Wirtschaft mit ihren komplexen Wechselbeziehungen zwischen Schwer- und Leichtindustrie, Wissenschaft und Technik nicht einfach durch bürokratische Befehle aufbauen, ohne dass es zu schwerwiegenden Disproportionen kommt. Die Sowjetwirtschaft wurde zudem durch die hohen Rüstungsausgaben und die Kosten der eisernen Kontrolle Osteuropas belastet.

Trotz der immensen Ressourcen, die sie zur Verfügung hatte, trotz der mächtigen industriellen Basis und einer Armee von gut ausgebildeten Ingenieurinnen und Wissenschaftlern war die Bürokratie unfähig, die gleichen Resultate zu erreichen wie der Westen. In Bezug auf die zentralen Indikatoren der Arbeitsproduktivität und des Lebensstandards hinkte die Sowjetunion dem Westen hinterher. Der Hauptgrund dafür waren die Millionen korrupter und gieriger Beamten, welche die Sowjetunion ohne jede Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse führten.

Solange sich die Produktivkräfte in der UdSSR weiterentwickelten, war die pro-kapitalistische Tendenz unbedeutend. Doch die Sackgasse, die der Stalinismus darstellte, führte zu einer völligen Veränderung der Situation. Mitte der 1960er-Jahre stiess das System der bürokratisch gesteuerten Planwirtschaft an seine Grenzen. Sobald sich herausstellte, dass die Sowjetunion ausserstande war, bessere Ergebnisse zu erzielen als der Kapitalismus, war ihr Schicksal besiegelt.

Bürokratie versus Planwirtschaft
Wie wir gesehen haben, hat die politische Konterrevolution der stalinistischen Bürokratie das Regime der Rätedemokratie in Russland völlig zerstört, dabei aber die neuen Eigentumsverhältnisse, die von der Oktoberrevolution geschaffen worden waren, unangetastet gelassen. Die herrschende Bürokratie stützte sich auf die Planwirtschaft und spielte eine relativ fortschrittliche Rolle, indem sie die Produktivkräfte entwickelte – wenn auch zu dreifach höherem Kostenpreis als im Kapitalismus, aufgrund eines erschütternden Ausmasses an Verschwendung, Korruption und Misswirtschaft, wie Trotzki selbst vor dem Krieg feststellte, als die Wirtschaft noch jährlich um 20% wuchs.

Trotz seiner Erfolge konnte der Stalinismus die Probleme der Gesellschaft nicht lösen. Er stellte eine historische Anomalie von gigantischen Ausmassen dar und war das Produkt einer besonderen geschichtlichen Verkettung von Ereignissen. Die Sowjetunion beruhte unter Stalin auf einem grundsätzlichen Widerspruch: Die Planwirtschaft stand im Widerspruch zum bürokratischen Staat. Schon in der ersten Fünfjahresplan-Periode machte sich die Bürokratie enormer Verschwendung schuldig. Dieser Widerspruch verschwand mit der Entwicklung der Wirtschaft nicht, sondern spielte eine immer schädlichere Rolle, bis das System schliesslich unter ihm zusammenbrach.

Karikatur des Sozialismus
Es war nicht der Kommunismus oder der Sozialismus, wie er von Marx oder Lenin verstanden wurde, der in Russland und Osteuropa scheiterte, sondern eine bürokratische und totalitäre Karikatur des Sozialismus. Lenin betonte, dass die demokratische Kontrolle der Industrie, der Gesellschaft und des Staates durch das Proletariat Voraussetzung für die Entwicklung des Sozialismus sei. Die Herrschaft einer privilegierten bürokratischen Elite ist unvereinbar mit einer wirklich sozialistischen Gesellschaft. Sie führt zwingendermassen zu Korruption, Vetternwirtschaft, Misswirtschaft und Chaos.

Die staatliche Planwirtschaft in der UdSSR und Osteuropa hat erstaunliche Resultate in allen Bereichen erbracht. Aber wie Trotzki schon 1936 voraussagte, hat das bürokratische Regime schliesslich die Planwirtschaft untergraben und ihren Untergang und die Restauration des Kapitalismus vorbereitet.

Erbe der Oktoberrevolution
Was ist also die Bilanz, die wir aus der Oktoberrevolution und dem grossen Experiment der Planwirtschaft ziehen müssen? Welche Folgen haben sie für die Zukunft der Menschheit? Und welche Schlussfolgerungen müssen wir aus ihnen ziehen? Die erste Erkenntnis sollte offensichtlich sein: Die Oktoberrevolution hat wie kaum ein anderes Ereignis den Gang der Geschichte weltweit geprägt. Das gesamte 20. Jahrhundert war geprägt von den Folgen dieses Ereignisses. Diese Tatsache wird selbst von den Kritikern der Russischen Revolution eingesehen.

Die Feinde des Sozialismus werden schadenfreudig anfügen, dass das Experiment gescheitert sei. Wir antworten darauf mit den Worten des grossen Philosophen Spinoza: Unsere Aufgabe besteht nicht im Lachen oder Weinen, sondern im Verstehen. Aber in den Schriften der bürgerlichen KommentatorInnen sucht man vergeblich nach einer ernsthaften Erklärung dessen, was in der Sowjetunion wirklich passiert ist. Ihren Analysen fehlt jegliche wissenschaftliche Grundlage. Ihre einzige Motivation ist der Hass auf die Russische Revolution, der nichts weiter als ihre Klasseninteressen widerspiegelt.

Es war nicht die russische Bourgeoisie, sondern die staatliche Planwirtschaft, welche Russland ins moderne Zeitalter katapultiert, Fabriken, Schulen, Strassen und Spitäler gebaut, brillante WissenschaftlerInnen hervorgebracht und die Armee aufgebaut hat, die Hitler besiegte.

Die Sowjetunion entwickelte sich trotz der Verbrechen der Bürokratie. Letztendlich war die herrschende Clique aber nicht zufrieden mit dem Reichtum und den Privilegien, welche sie sich unter den Nagel gerissen hat. Wie Trotzki vorausgesehen hatte, ging sie dazu über, den Kapitalismus zu restaurieren, um von einer parasitären Kaste zur herrschenden Klasse selbst zu werden.

Für die Bevölkerung der UdSSR war die Rückkehr zum Kapitalismus ein grosser Rückschritt. Die Gesellschaft wurde zurückgeworfen und durfte die ganzen Vorzüge des kapitalistischen Systems kennenlernen: Religion, Prostitution, Drogen, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit usw. Für den Moment konnte sich das Putin-Regime festigen. Aber dessen vordergründige Stärke ist eine Illusion.

Der russische Kapitalismus ist nun direkt mit dem Schicksal des Weltkapitalismus verknüpft. Er ist allem Druck und allen Erschütterungen eines Systems in tiefer Krise ausgesetzt. Dies wird grosse ökonomische und politische Auswirkungen auf Russland haben. Früher oder später werden die ArbeiterInnen Russlands sich von der Niederlage erholen und wieder in Aktion treten. Wenn das passiert, werden sie schnell wieder die Traditionen der Oktoberrevolution und des Bolschewismus für sich entdecken. Das ist der einzige Weg nach vorn für die ArbeiterInnen Russlands und der gesamten Welt.

Alan Woods
In Defence of Marxism

Bild: youtube