Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven. Deshalb erarbeiten wir jedes Jahr eine allgemeine Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur in der Schweiz. Hier veröffentlichen wir den Entwurf des diesjährigen Dokumentes. Er wird aktuell von allen FunkeunterstützerInnen diskutiert. An einer nationalen Konferenz wird er dann mit Anträgen abgeändert und verabschiedet. Danach bildet er einen Kompass, welcher unsere politische Arbeit im nächsten Jahr orientieren soll.

Entwurf – Teil 2 von 4

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Die Rezession in der Schweiz

In der Schweizer Wirtschaft spiegeln sich die Dynamiken der Weltwirtschaft. Auch die hiesige Wirtschaft erholte sich schnell vom Dämpfer von 2008. Oberflächlich sah es nach einem robusten Aufschwung aus. Schaut man aber genauer hin, finden erstens tiefgreifende Umwälzungen statt und zweitens gibt es verschiedene Faktoren, die zwar für Stabilität sorgen, aber nicht ewig währen werden.

Zwei Sektoren hatten in der letzten Periode eine Schüsselrolle. Erstens die Exportindustrie, die sich v.a. auf die Pharma-, Uhren- und Maschinenindustrie stützt. Sie macht historisch einen wichtigen Teil der Wirtschaftsleistung aus (19% des BIP, 13% der Beschäftigten) und konnte vom Aufschwung in anderen Märkten, allen voran den USA und China, profitieren. Zweitens der Bausektor (5% BIP, 6% der Beschäftigten): Aufgrund der Tiefzinspolitik der Nationalbank kam es in der Schweiz zu einem grossen Bauboom, der die ganze Wirtschaft, die Beschäftigungslage und damit auch den Binnenkonsum stütze.

Heute steht jedoch die ganze Wirtschaft vor einem neuen Abschwung. Das gilt auch für diese beiden Sektoren. Der Abschwung in den beiden besagten Sektoren ist zentral, erstens weil direkt jeder sechste Lohnabhängige in diesen beiden Sektoren arbeitet und zweitens, weil eine ganze Reihe von anderen Sektoren von ihnen abhängig sind (Zulieferer, Transport, Dienstleistungen, etc.). Über diese Achse wird sich die Krise ausbreiten. Am Beispiel der MEM-Industrie (4.5% des BIP) zeigen wir, dass die Krise bereits angekommen ist.

Erste Krisenanzeichen in der MEM-Industrie

Ähnlich wie in der USA und in Deutschland zeigen sich die ersten Krisenanzeichen auch in der Schweiz in der Exportindustrie. Auch wenn wir im Kopf behalten müssen, dass in der MEM-Industrie das Vergleichsjahr 2018 ein Rekordjahr war, zeigen die Kennzahlen klar, dass sich das Wachstum in diesem Sektor rasant verlangsamt. Die Auftragseingänge sind im ersten Halbjahr 2019 um 12% zurückgegangen, im zweiten Quartal sogar um 19% (im Vergleich zum Vorjahr). Trotz dem guten vergangenen Jahr sinken bereits der Umsatz und die Auslastung der Produktionskapazitäten[1]. Dazu kommt, dass die gesamten Warenexporte im zweiten Quartal bereits um 2.3% gesunken sind.[2] Zum ersten Mal seit 2015 sehen wir eine Zunahme der Kurzarbeit. Dazu kommt ein seit elf Monaten sinkender Geschäftslagenindikator[3]. Die Industriekapitalisten selber erwarten klar eine Abschwächung.

Ein Faktor, der die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Exportindustrie schwächt, ist der hohe Frankenkurs. Früher hätte die SwissMEM lautstark von der SNB gefordert, den Kurs künstlich tief zu halten. Aber heute bleibt der SNB kein Spielraum, was auch die SwissMEM zugibt. Das zeigt plastisch, dass die Schweizer Nationalbank diesem neuen Einbruch völlig ausgeschossen gegenübersteht. Die SNB interveniert immer noch jeden Monat mit Millionengeldern, um den Franken zu entwerten. Die Bilanz ist bereits sehr weit aufgebläht, während die Zinsen nicht weiter gesenkt werden können, da der Leitzins bereits negativ ist. Dazu kommt noch, dass die Geldpolitik der SNB von den Entscheiden der US- und Europäischen Zentralbank abhängig ist. Sie kann nicht im Alleingang von der expansiven Politik abweichen, auch wenn sie es möchte.

Die Zahlen zur Kapazitätsauslastung der MEM-Firmen zeigen, wieso die Grundlage des Rückgangs die Überproduktion ist. Lag die Auslastung Mitte 2018 noch bei 91.6%, ging sie im Juli 2019 auf 83.7%, herunter, was unter dem langjährigen Durchschnitt von 86% liegt[4]. Alle MEM-Betriebe könnten ihre Produktion, ohne Ausbau der Anlagen, um einen Sechstel hochfahren. Sie tun aber das Gegenteil, weil die Märkte voll sind und die für diese Produkte keinen Absatz finden würden. «Schliesslich zeigt auch die nachlassende Dynamik der Produzentenpreise, dass sich in der MEM- Branche der Wettbewerbsdruck verschärft und die Margen unter Druck gekommen sind.»[5] Bereits heute sind sie gezwungen, die Preise zu senken. Wegen der Überproduktion nimmt die Nachfrage (aus Deutschland und Asien) ab und die Konkurrenz zu. Das drückt die Preise. Der Druck auf die Marge nimmt zu. Nur die profitabelsten Unternehmen überleben.

Diese Überproduktion war bereits länger ein unterschwelliges Problem. Seit Jahren – auch bei historisch tiefen Zinsen für Kredite – investieren die Unternehmen nicht in den Ausbau der Anlagen. Auch im «Turbo-Jahr 2018» erlebten «sämtliche Güterkategorien (…) ein stagnierendes beziehungsweise negatives Investitionswachstum …»[6]. Die Kapitalisten produzierten mit alten Anlagen, denn sie wussten, dass der Spass bald vorbei sein wird. Gleichzeitig haben sie seit 2008 10% der Belegschaft entlassen (30’000 Stellen).

Auch die deutliche Kehrtwende im Bereich Forschung und Entwicklung zeigt, dass die organische Krise des Kapitalismus in eine neue Phase tritt. Dieser Bereich ist in der Schweiz sehr bedeutend, weil der Rest der Unternehmen (also die Produktion) häufig bereits ins Ausland ausgelagert wurde. «Nachdem die Investitionen in F&E 2017 gegenüber dem Vorjahr noch um 12.8% gestiegen sind, nahmen sie 2018 um 1.9% ab – das entspricht dem grössten Ausgabenrückgang in dieser Kategorie seit Beginn der Messreihe im Jahr 1995.»[7]Das KOF erklärt, dass « dieser letzte Investitionszyklus um die Jahreswende 2018/2019 zu Ende gegangen» ist.

Bau

Der Bausektor war während dem letzten Jahrzehnt ein wichtiger Katalysator, der sowohl als Puffer wie als Konjunkturantreiber fungierte. Die tiefen Zinsen führten zu einer enormen Ausbreitung an Hypotheken und damit zu einem Bauboom, der die Wirtschaft in schwierigen Zeiten über Wasser hielt. Da knapp 10% der Lohnabhängigen in diesem Sektor arbeiten, war er auch eine Stütze der sozialen Stabilität. Doch auch hier macht sich die Überproduktion bemerkbar. Laut KOF bremsen «Überkapazitäten im Wohnbau und steigende Leerstände (…) die Bauaktivität.» und die Kapazitätsauslastung der Unternehmen sinkt ebenfalls. Das Resultat der Überkapazität ist auch hier, dass «in den letzten drei Jahren […] die Preise und Margen»[8] rückläufig waren.

Doch die Leerstandsquote für Wohnungen liegt aktuell auf einem Höchststand. Sie befindet sich nur 0.2 Prozentpunkte unter dem historischen Höchstwert von 1.9% während der Immobilienkrise der 90er Jahre[9]. Andere Messungen (IAZI) rechnen schon mit über 4%. Für den Schweizer Immobilienmarkt ist das eine hohe Leerstandsquote und damit ein weiteres Indiz für die Blase. Die Leerstände sind auf dem Land einiges höher als in der Stadt und Agglomeration und es stehen vor allem mehr Eigentums- als Mietobjekte leer. Doch natürlich senken Hausbesitzer deswegen nicht die Mieten und die Arbeiterfamilien in den Städten spüren davon nichts.

Die Bauwirtschaft stabilisierte die Wirtschaft. Doch sie basierte auf einer enormen Ausbreitung des Kredits und der Verschuldung. Platzt die Blase, kehrt sich die stabilisierende Wirkung in ihr Gegenteil um. Aufgrund der gesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Bausektors hat ein Einbruch bedeutende Auswirkungen auf die Schweizer Arbeiterklasse.

Zwar herrscht vorerst Stagnation auf hohem Niveau, zu einem schnellen Einbruch wird es aufgrund der weiterhin tiefen Zinsen auch nicht kommen. Trotzdem stehen die Zeichen auf Abschwung. Im ersten Halbjahr 2019 haben die neuen Baubewilligungen für Wohnobjekte um 11%, die Baugesuche um 6% abgenommen. Im gewerblich-industriellen Bau haben die Baubewilligungen 2018 bereits um 5%, im 1. Halbjahr 2019 um 15% abgenommen[10]. Die Unternehmen bauen keine neuen Gebäude, weil erstens Überproduktion herrscht und weil sie zweitens selber einen Abschwung erwarten. Das wird unaufhaltsam zu einem Rückgang im Bauvolumen führen. Wird weniger gebaut, erhöht sich die Konkurrenz und der Druck auf die Margen nimmt zu. Wegen der hohen Investitionskosten muss dies über kurz oder lang an die Belegschaft weitergegeben werden. Das erklärt die härteren Positionen der Bauherren bei den Neuverhandlungen des Landesmantelvertrages. Denn die Bauarbeiter haben sich verhältnismäsig gute Löhne und vor allem die Frühpension erkämpft. Weil das die Bauunternehmer viel kostet, wird jede Verlängerung des Gesamtarbeitsvertrages härter.

Die Bedeutung der Wirtschaftsanalyse für den Klassenkampf

Dieses Bild lässt den Rückschluss zu, dass die zwei beschäftigungsstarken Sektoren MEM und Bau den Zenit des konjunkturellen Booms überschritten haben. Nochmals: In diesen beiden Sektoren arbeitet direkt jeder siebte Lohnabhängige der Schweiz[11]. Und von beiden Sektoren sind zig weitere Bereiche abhängig: Von Zulieferern über betriebsnahe Dienstleistungen, Spedition, Transport und Lagerung und ein Teil des Handels. Über diesen Übertragungsriemen trifft die Krise bereits einen grossen Anteil der Lohnabhängigen und hat damit Einfluss auf die Binnennachfrage. Wie rasant die Talfahrt sein wird, kann noch nicht gesagt werden, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Die Richtung ist aber klar.

Die Analyse, dass der Kapitalismus weltweit und auch in der Schweiz in ein Krisenstadium eingetreten ist, dient uns vor allem zur Einschätzung der Entwicklung des Klassenkampfs und den Veränderungen des Bewusstseins der Arbeiterklasse. Die latente Überproduktion in allen wichtigen Industriezweigen, in der Schweiz oben anhand der MEM-Industrie aufgezeigt, führt zum Druck auf die Profitrate. Die Absatzmärkte sind übersättigt, Waren werden nicht abgesetzt, was heisst, dass die in der Vergangenheit getätigten Investitionen sich nicht amortisieren, weil die Produktionsmittel nur mit reduzierter Auslastung eingesetzt werden können. Folglich bleiben erneute Investitionen auch chronisch tief oder ganz aus.

In einer solchen Situation gibt es für die Kapitalisten nur einen Weg: Die aggressive Wiederherstellung oder Erhaltung der Profitrate durch eine verstärkte Ausbeutung der Lohnabhängigen. So wurden einerseits die Arbeitszeiten in den letzten Jahren laufend erhöht. Dies ist eine klassische Strategie der Kapitalisten, den absoluten Mehrwert zu steigern. So können sie sich noch grössere Proportionen von unbezahlter Arbeit der Lohnabhängigen aneignen und die Profitrate stabilisieren. Andererseits pochen die Kapitalisten besonders auf der politischen Ebene auf eine Reduktion von Gewinn- und Kapitalsteuern, Sozialabgaben und Lohnnebenkosten, die für sie primär lästige Abzüge von ihren Reingewinnen darstellen. Durch Steuersenkungen entstehen wiederum Löcher in der Bundes- und den Kantonskassen, was durch Sparmassnahmen erneut auf die Lohnabhängigen zurückfällt.

Ob im Betrieb über den Druck auf Löhne und Erhöhung der Arbeitszeiten oder über den Staat durch Sparmassnahmen: Die Kapitalisten versuchen den Druck auf ihre Profite zu vermindern durch die Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen. Die Krise des Kapitalismus bedeutet also primär einen verschärften Kampf um den Mehrwert, was gleichbedeutend ist mit verschärftem Klassenkampf. Die Intensität dieses Klassenkampfes ist in der Schweiz noch tiefer als in den meisten Ländern, aber die zahlreichen Angriffe der letzten Jahre haben Spuren im Bewusstsein der Lohnabhängigen hinterlassen. Unter der Oberfläche haben sich Widersprüche zugespitzt, die sich früher oder später entladen müssen.

Somit ist klar, dass sich der Druck auf die Lohnabhängigen vergrössern wird. 2015, nach der Aufgabe des Euro-Mindestkurses, sahen wir die letzte grosse Welle an Angriffen in der Industrie, kurz darauf auch im öffentlichen Dienst. Diese halten bis heute an. Laut KOF wurden die Lohnstückkosten in der Gesamtwirtschaft in den letzten zwei Jahren um je 1% gesenkt: Die Lohnabhängigen produzieren mehr für weniger Lohn. Meist arbeiten sie länger und intensiver, werden also härter ausgebeutet. In der nächsten Periode wird sich das noch verstärken und auch in alle Sektoren ausbreiten.

Tatsächlich ist ein Grossteil der Klasse der Lohnabhängigen in der Schweiz mindestens seit den 90er Jahren einem stagnierenden Lebensstandard ausgesetzt. Seit 1988 stiegen die durchschnittlichen Reallöhne nur ein einziges Mal um mehr als 1.5 %[12]. Das war aber zugleich begleitet von kontinuierlichen Erhöhungen der Krankenkassenprämien (bei gleichzeitiger Kürzungen der Verbilligungen) und der Erhöhung der Mieten in den Agglomerationen. Dies führte zu der heutigen Situation, wo eine durchschnittliche Familie mit Kindern einen Fünftel des Lohns für die Krankenkassenprämien ausgibt[13]. Die Mieten machen für viele Lohnabhängige den grössten Ausgabeposten aus: Das Fünftel mit den tiefsten Löhne gibt über einen Drittel des Einkommens fürs Wohnen aus, das zweittiefst entlöhnte Fünftel immerhin noch einen Viertel[14]. Dazu kommt noch der oft schlechte Zustand der überteuerten Wohnungen: 14.7% müssen in einer feuchten Wohnung leben[15].

Krisenjahre – Wieso blieben die krassen Angriffe aus?

Dennoch musste die Arbeiterklasse in der Schweiz – anders als in den meisten anderen Ländern – während der Krisenjahre nie frontal angegriffen werden. Das hat verschiedene Gründe: ein dünnes und liberales Arbeitsrecht und tiefe Staatsquote, zudem die Pionierrolle in der Einführung der Schuldenbremse und damit einhergehend tiefer Staatsverschuldung. Für die Schweizer Bourgeoisie war also der Druck zur Umsetzung von Sparmassnahmen nie so hoch wie beispielsweise in Frankreich. Dazu kommt ein Sozialstaat, in dem der Grossteil der Sozialwerke über individuelle, separate Lohnabzüge finanziert wird. Jedes Sozialwerk verfügt über eine eigene Kasse. Defizite sind schwierig möglich oder schnell offensichtlich, so das umgehend gekürzt wird. Weil so kontinuierlich in kleinen Schritten «reformiert», also gekürzt, wurde, kam es nie zu Konterreformen von solchem Ausmass, dass sie die Arbeiterklasse frontal herausgefordert hätten.

Das bedeutet aber nicht, dass die Bourgeoisie untätig geblieben ist: Gewisse Konterreformen wurden bereits vor 2008 umgesetzt. So z.B. die Reform der Arbeitslosenversicherung, welche die Unterstützungszahlungen so hart gekürzt hatte, dass sie 2018 sogar einen Überschuss von 1.2 Milliarden Franken erwirtschaftete – während die (ILO-)Erwerbslosenzahl gleichzeitig auf einen Rekordwert von 234’000 anstieg[16].

Durch den Föderalismus wurden die Sparmassnahmen in die Kantone und dort in tausende kleine Sparmassnahmen aufgeteilt. Oft wälzt man sie auf dem Rücken der Schwächsten ab. Z.B. beklagen sich Verbände für Menschen mit Behinderungen, dass einseitig auf ihre Kosten gespart würde. Die Bürgerlichen versuchten so mit Unterstützung ihrer «linken» Handlanger die Kosten der Krise möglichst ohne Gegenwehr auf die Schultern der Lohnabhängigen abzuwälzen.

Das hat zwei Konsequenzen, die wir genauer betrachten müssen: Erstens die Verschlechterung der Lebensbedingungen einer grossen Mehrheit der Lohnabhängigen sowie die Zunahme der Armut. Und zweitens die Zunahme des Arbeitsdruckes in zahlreichen Sektoren, speziell im Öffentlichen Dienst, in der Pflege und der Bildung, aber auch in der Privatwirtschaft.

Die Situation der Arbeiterklasse heute

Ab 2014 zeigen sich die Konsequenzen der Krisenpolitik klar. Davor ging die Armutsquote leicht zurück. Danach steigt sie merklich an und liegt heute bei 8.2%. Ab dem gleichen Jahr ging auch das verfügbare Einkommen der untersten 10% zurück[17]. Das sind direkte Konsequenzen der Sparmassnahmen auf verschiedenen Ebenen.

Ein Viertel der Schweizer verfügt über gar kein Vermögen[18]. 55% der Bevölkerung haben weniger als 50’000 CHF Erspartes, was zusammen aber nur gerade 1.5% des Gesamtvermögens ausmacht. Und das im «reichsten Land der Welt» mit dem höchsten durchschnittlichen pro-Kopf Vermögen von 195’000 Franken[19]! Diese Zahl ist bedeutungslos: Das reichste Prozent allein verfügt bereits über 43% des Gesamtvermögens, die 300 Reichsten aber besitzen zusammen 702 Milliarden Franken, was das BIP der Schweiz übersteigt! Anders sieht es beim einkommensschwächsten Fünftel der Bevölkerung aus: Dort übersteigen die monatlichen Gesamtausgaben die Summe der Einnahmen. Sie müssen für laufende Ausgaben ihr Sparkonto leeren (9%) oder sich verschulden (3,1%).

Gleichzeitig beobachten wir eine Zunahme an unsicheren und schlecht entlohnten Arbeitsplätzen. Jede dreizehnte lohnabhängige Person hat einen befristeten Arbeitsvertrag (bei unter 24-Jährigen über 24%) und jede zwanzigste arbeitet auf Abruf. Seit 2017 gibt es auch einen markanten Anstieg an Samstags- und Nachtarbeit.

Für Arbeiterinnen ist die Situation noch zugespitzter. Jede achte ist «unterbeschäftigt» (möchte ein höheres Arbeitspensum, findet aber keines) und jede zehnte Arbeiterin geht mindestens zwei Jobs nach. Jede sechste alleinerziehende Person ist Armutsbetroffen (drei Viertel davon Frauen).

In den letzten sechs Jahren nahm auch der Stress am Arbeitsplatz sowie die Angst vor dem Jobverlust markant zu. 2012 litten 17.5% der Lohnabhängigen «meistens oder immer unter Stress», 2017 sind es bereits 21.2%. Die Angst um den Arbeitsplatz erhöhte sich von 12.7% auf 15.9%. «Innerhalb von fünf Jahren sind die Schlafstörungen um fünf Prozentpunkte auf 30,2% im Jahr 2017 gestiegen. Von diesem Anstieg sind vor allem Personen ohne nachobligatorische Ausbildung betroffen (2012: 35,7%; 2017: 45,0%).»[20] Diese Phänomene sind Konsequenzen der Intensivierung der Arbeit in vielen Bereichen.

Angriffe auf die Arbeitsbedingungen

In der Pflege zeigen sich die Konsequenzen der drastischen Kürzungspolitik auf dem Buckel der Angestellten am eindrücklichsten. Heute sind über drei Viertel bei der Arbeit ständig gestresst (70%) und haben regelmässig körperliche Beschwerden (72%). 86% sind oft müde und ausgebrannt. Fast alle (92%) geben an, dass die Qualität der Arbeit unter Spardruck und Personalmangel leidet. Die weitreichenden Kürzungen und der Spardruck nagen an den Pflegenden. Diese versuchen den Problemen im Sektor noch vorwiegend auf individuelle Art zu entkommen: Rekordverdächtige 47% der Pflegenden wollen ihren Job wechseln[21].

Die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen betreffen aber nicht nur die Pflege, sondern flächendeckend den ganzen öffentlichen Dienst. In einer VPOD-Umfrage unter allen öffentlichen Berufsgruppen geben 74% an, dass die psychische Belastung in den letzten vier Jahren zugenommen hat. Hier sind drei Viertel «eher oder eindeutig gestresst». 66% sind nach der Arbeit zu Müde für eine Aktivität (wie z.B. Kinobesuch oder Sex, erklärt die VPOD Zeitung). 84% verweisen auf die Zunahme des «administrativen Aufwandes», was z. B. mit den strengeren Auflagen der Krankenkassen erklärt wird. Deshalb geben 63% der öffentlichen Angestellten an «für den eigentlichen Inhalt der Arbeit» zu wenig Zeit zu haben. Die Antwortenden sind also von Tätigkeiten gestresst und erschöpft, die nicht einmal ihrer Hauptaufgabe entsprechen, «sondern in sachfremden Zumutungen, in dauernder Störung, in administrativem Overkill.»[22] In der Privatwirtschaft ist die Situation nicht besser.

Die besseren Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst wirken als Taktgeber für die Privatwirtschaft. Es ist deshalb kein Zufall, dass im Jahre 2015 Angriffe in der Privatwirtschaft auch Angriffe auf öffentlich Angestellte mit sich zogen. Beides sind Wege, wie die Kapitalisten den Druck der Krise auf die Lohnabhängigen abwälzen. Neben der intensiveren Ausbeutung (höhere Arbeitszeit, niedrigere Löhne, mehr Zeitdruck) steigern sie ihre Konkurrenzfähigkeit mittels Steuersenkungen. Auch so steigert sich ihr Profit. Das führt notwendigerweise zu Sparmassnahmen und höherer Arbeitslast im öffentlichen Dienst.

Heutige Situation: keine Speckschicht

Vergleicht man die soziale Situation der Arbeiterklasse in der Schweiz mit dem Zustand in den Nachbarländern, muss festgestellt werden, dass die Verschlechterungen weniger weit fortgeschritten sind. Da wichtige Ausgaben in der Schweiz noch vom Nettolohn berappt werden müssen, sind direkte Vergleiche der Lohnentwicklung schwierig. Trotzdem sind die Löhne sind in der Schweiz (auch Kaufkraftbereinigt) immer noch entschieden höher. In gewissen Bereichen gingen die Verschlechterungen jedoch ähnlich weit wie in Deutschland. Der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse ist nämlich in der Schweiz etwa gleich hoch wie im Nachbarland. Die hiesigen Lohnabhängigen haben die längste Arbeitswoche von Europa (zusammen mit Island) und sind öfters von kurzfristigen Änderungen der Arbeitszeit betroffen[23]. Ein grosser Unterschied befindet sich jedoch im Anteil des Niedriglohnsektors. Dieser ist in Deutschland doppelt so gross wie in der Schweiz: 22% respektive 12% (2015)[24].

Fest steht, dass das Niveau des Lebensstandards bereits vor der Krise stagnierte – seither geht es bergab. Nach über zehn Jahren Krise hat ein gewichtiger Anteil der Arbeiterklasse keine «Speckschicht» mehr. Als Schweizer Richtwert, ob eine Person über «genügende finanzielle Ressourcen» verfügt, gilt, ob er oder sie eine «unerwarteten Ausgabe von 2500 Franken» bewältigen kann (z. B. eine Zahnarztrechnung). In der Gesamtbevölkerung ist das für 18.6% nicht möglich. Eine Untersuchung über die Schweizer «Mittelschicht»[25] zeigt auf, dass sogar in der «unteren Mitte» jeder Vierte und in der «oberen Mitte» jeder Zehnte eine solche Rechnung nicht begleichen kann. Auch ein Teil der gutbezahlten Lohnabhängigen sind also nur eine Zahnarztrechnung vom schmerzlichen Schicksalsschlag entfernt.

Es herrscht eine Situation, in der die Zitrone langsam ausgedrückt ist. Dies gilt für die generellen Lebensbedingungen viele Arbeiterfamilien. Bezüglich der Arbeitsbedingungen gibt es einige Sektoren, wo der Saft bereits aus der Rinde gepresst wird – was entsprechend sauer aufstösst. Beim nächsten Kriseneinbruch werden die Kapitalisten gezwungen sein, in den Betrieben und über staatliche Sparmassnahmen die Angriffe intensivieren zu müssen. Diese prallen auf eine Situation, wo sie empfindlich mehr Schmerzen verursachen als in der letzten Periode. Doch darauf kann die herrschende Klasse keine Rücksicht nehmen.

Die Krisensituation und die Konkurrenz wird sie zu Steuersenkungen und damit zu Sozialabbau zwingen. Diese Dynamik ist unaufhaltbar, solange man die Logik des Kapitalismus akzeptiert. Will man mit den Sparmassnahmen brechen, was in Sektoren wie der Pflege eine Frage des körperlichen und psychischen Selbstschutzes geworden ist, muss der gewerkschaftliche und politische Widerstand aufgebaut werden. Nur ein kompromissloser Kampf gegen die Bürgerlichen, eine radikale Ablehnung der Kürzungen und eine Strategie der Mobilisierungen auf der Strasse und in den Diensten werden die Angestellten davon überzeugen, dass der Kampf möglich und lohnenswert ist. Die Krise hat den Spielraum für Verbesserungen substanziell verkleinert. Heute stellt sich nackt die Frage: Wer bezahlt für die Krise? Ehrliche Gewerkschafter können den Lohnabhängigen nicht vorgaukeln, dass man mit etwas Bittibätti Verbesserungen erreicht. Das entspricht nicht der Realität und führt schnell zum Vertrauensverlust. Die Zeit der netten Verhandlungen zwischen «Sozialpartnern» ist vorbei. Nur noch Massenmobilisierungen und -streiks erlauben heute, die Last der Krise vom Rücken der Lohnabhängigen zu heben. Während solchen Mobilisierungen zeigt sich im Verlauf des Kampfes, dass nur der komplette Bruch mit dem System einen wirklichen Ausweg für die Lohnabhängigen ermöglicht.

Die Massenmobilisierungen zum Frauenstreik war ein erster Vorgeschmack dessen, was passieren wird, wenn die Lohnabhängigen ihren angestauten täglichen Frust auf die Strasse tragen. Sie zeigte das Potential von radikalen Positionen. Gerade Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt am meisten ausgepresst. Im Kampf gegen die Sparmassnahmen im öffentlichen Dienst werden sie eine wichtige Rolle spielen und damit auch an der Vorfront sein, wenn es daran geht, die Verknöcherung der Gewerkschaften aufzubrechen und sie zu Kampforganen der Klasse zu machen.

➡ Zum nächsten Teil (Teil 3)


Fussnoten:

[1] SwissMEM, MEM-Industrie: Besorgniserregende Entwicklung, 28.08.2019.

[2] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst 2019.

[3] «Die KOF Geschäftslage basiert auf mehr als 4 500 Meldungen von Unternehmen in der Schweiz. Monatlich werden Unternehmen in den Wirtschaftsbereichen Industrie, Detailhandel, Baugewerbe, Projektierung sowie Finanz-​ und Versicherungsdienstleistungen befragt. Die Unternehmen werden unter anderem gebeten, ihre gegenwärtige Geschäftslage zu beurteilen.»

[4] SwissMEM, MEM-Industrie: Besorgniserregende Entwicklung, 28.08.2019.

[5] BAK, Swisssmechanic, Wirtschaftsbarometer, 03/2019.

[6] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst.

[7] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst.

[8] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst.

[9] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst.

[10] KOF Analysen 2019, Nr. 3, Herbst.

[11] Eigene Berechnungen. BFS Taschenstatistik der Schweiz. 2019.

[12] BFS, Entwicklung der Nominallöhne, der Konsumentenpreise und der Reallöhne, 1990-2018.

[13] Handelstzeitung: Familien zahlen Fünftel ihres Budgets für die Krankenkasse. 23.12.2018

[14] BFS, Verfügbares Einkommen, Konsumausgaben und Sparbetrag pro Monat der Haushalte. 2017.

[15] Statistischer Sozialbericht Schweiz 2019

[16] Sozialbericht ibid.

[17] Sozialbericht, ibid.

[18] Die Volkswirtschaft, 23.09.2019, Rudi Peters, Wie entwickeln sich die Vermögen in der Schweiz?

[19] Allianz Global Wealth Report 2018

[20] Statistischer Sozialbericht Schweiz 2019

[21] Unia, Resultate der Umfrage in der Pflege. 2019.

[22] VPOD Zeitung, Zu müde fürs Kino. November 2019.

[23] Blick, Schweiz im Europa-Vergleich: Mehr Lohn, aber mehr Arbeit. Mai 2017.

[24] NZZ, In Deutschland arbeiten Menschen zwei Mal so häufig zu niedrigen Löhnen wie in der Schweiz. Dafür gibt es vier Gründe. 17.07.2019.

[25] Swissinfo, Wer ist der Schweizer Mittelstand?, 16.2.2017:
Definition: einkommensschwach (<70% des Medians), untere Mitte (≥70% bis 100% des Medians), obere Mitte (>100% bis 150% des Medians), einkommensstark (>150% des Medians)