Unter dem Namen „Wir bleiben“kam es im Februar in Basel zur teilweisen Besetzung einer Kirche durch eine Gruppe von AktivistInnen, darunter acht abgewiesene Asylsuchende. Am 3. März drangen PolizistInnen und BeamtInnen in die Kirche ein und verhafteten die MigrantInnen. Über die Protestdemonstration desselben Abends, bei der es zu massiver Provokation und Gewalt seitens der Polizei kam, haben wir bereits hier berichtet.

Bild: © Jeremias Schulthess – TagesWoche

Ein Aktivist der Gruppe „Wir bleiben“ hat sich bereit erklärt, dem Funke einige Fragen zu den Ereignissen zu beantworten. Bei unserem Treffen kam er gerade von einem Besuch im Ausschaffungsgefängnis.

Der Funke: Wie seid ihr darauf gekommen, die Kirche zu besetzen? Was war eure Motivation und warum genau die Matthäuskirche?
Aktivist: Als unsere Gruppe sich gebildet hat, war es uns klar, dass wir etwas tun müssen, was wenn möglich drei Punkte beinhaltet. Es sollte den von Ausschaffung Bedrohten Schutz geben, gleichzeitig sollte dabei ein sozialer Raum entstehen und es sollte ein Ort sein, wo politischer Protest möglich ist. Es ist aber im Moment extrem schwierig, Schutz zu bieten und gleichzeitig Öffentlichkeit zu haben. Du kannst nicht jemanden verstecken und dabei öffentlich sein. Es gibt in der Schweiz und auch in Deutschland die Tradition des Kirchenasyls, auch wenn der Kirchenrat das Gegenteil behauptet. Darauf wollten wir uns beziehen und deshalb haben wir eine Kirche ausgewählt. Wir kennen auch das Beispiel von Lausanne, wir waren auch in Kontakt mit den Leuten dort und wir haben gesehen, dass es bei ihnen relativ gut funktioniert, was für uns eine Inspiration war. Natürlich kamen in Basel verschiedene Kirchen in Frage, aber wir hatten das Gefühl, dass sich die Matthäuskirche am besten eignen würde, da wir hofften, dort am ehesten geduldet zu werden oder sogar Unterstützung zu bekommen. Sie ist ausserdem gut gelegen und hat die nötige Infrastruktur.

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Die Besetzung – Bild: © Michel Schultheiss, TagesWoche

DF: Kanntet ihr bereits Leute von der Kirche oder was war ausschlaggebend für diese Hoffnung auf Duldung?
A: Wir wussten, dass die Matthäuskirche eine Tradition in der Flüchtlingshilfe hat. Dass sie in früheren Jahren schon oft Flüchtlinge aufgenommen und unterstützt haben. Weiter, dass es auch eine sehr offene Gemeinde ist. Aber wir haben uns nicht im Voraus angekündigt.

DF: Wie war denn der Kontakt mit den Leuten im Quartier? Einige haben eure Soliplakate aufgehängt und kamen an die Demo. Ich kenne aber auch Leute aus der Kirchgemeinde, die zwar Flüchtlingen gegenüber solidarisch eingestellt sind, aber fanden, die Aktion nehme zu wenig Rücksicht auf die Kirche und die Gemeinde.
A: Also wir haben uns viel Mühe gegeben, auch an dem Tag als wir in die Kirche gegangen sind. Wir kamen während des Gottesdienstes und beteiligten uns während des letzten Teils noch daran. Wir haben uns der Gemeinde vorgestellt und wir wussten, dass es danach ein gemeinsames Essen gibt und haben auch selbst einiges mitgebracht. Das wurde, so wie wir es wahrgenommen haben, vom grössten Teil der Leute wohlwollend aufgenommen. Es haben mich auch einige Gemeindemitglieder angesprochen und freuten sich, dass wir gekommen sind, um Schutz zu suchen. So wie ich es erlebt habe, war der grösste Teil der Gemeinde sehr unterstützend und freute sich über uns. Wir haben uns auch enorm Mühe gegeben, diesen Dialog auch weiterzuführen. Man konnte immer vorbeikommen und schauen, wie es bei uns so abläuft. Und jeder der gekommen ist, hat gesehen, dass das Wort „Besetzung“ absolut irreführend ist. Mit diesem Wort werden Sprayereien und Dreck assoziiert, was überhaupt nicht der Fall war. Es war eine ruhige Sache und wir haben auf Sauberkeit geachtet, was auch wichtig war für die Leute, die dort gewohnt haben. Alle Gemeindeaktivitäten konnten ohne Einschränkung abgehalten werden.

Die Unterstützung aus dem Quartier war uns sehr wichtig und wir haben diese gesucht. Wir haben im Quartier geflyert, haben uns am Matthäusmarkt vorgestellt und sind dort auf ein gutes Echo gestossen. Natürlich gab es auch kritische Stimmen. Wir sehen es aber bereichernd, dass sich viele dieser Personen auf ein Gespräch eingelassen haben.

DF: Ihr habt ja mit dem Kirchenrat ein wenig zufrieden stellendes Gespräch geführt. Gab es sonst Reaktionen aus der Kirchgemeinde?
A: Wir haben viele Leute aus kirchlichen Kreisen angeschrieben und den Kontakt gesucht, weil wir wussten, auch wenn wir keine kirchliche Gruppe sind, uns hier auf die Tradition des Kirchenasyls stützen zu können. Dass es Spannungen geben könnte, war uns bewusst, aber wir haben immer gehofft, dass eine Zusammenarbeit mit der Kirche möglich ist, da wir das Gefühl hatten, in dieser Frage sehr ähnliche Wertvorstellungen zu haben. Kürzlich wurde auch die Migrations-Charta verabschiedet, die sehr genau den Vorstellungen entspricht, die wir von Migrationspolitik haben. Und viele Theologen, Pfarrer und andere Leute haben diese unterschrieben. Dort konnten wir anknüpfen.

DF: Das Kirchenasyl ist ja eine heftig umkämpfte Sache. Seit einigen Jahrzehnten hat diese Tradition ein Wiederaufleben, insbesondere als Ausweg für Asylsuchende vor Ausschaffung. Du hast das Beispiel der Kirche St.-Laurent in Lausanne angesprochen, die seit über einem Jahr besetzt ist und nicht geräumt wurde. Für eine Besetzung ist es wohl sehr entscheidend, wie die Behörden dazu stehen, also wie die Machtverhältnisse sind, sonst bleibt es ein temporäres Unterfangen. Oder was denkst du, lief in Basel anders? Wart ihr auf die Räumung vorbereitet?
A: Wir wussten immer, dass ein Risiko besteht, aber wir haben uns mehr Unterstützung von Seiten des Kirchenrates erhofft und wir sind sehr enttäuscht, dass uns diese verweigert wurde. In Lausanne ist es so, dass das Collectif R auch nicht geduldet wird vom Amt und dem Kirchenrat, aber der Kirchenrat hat dort nicht das Recht, die Leute rauszuschmeissen, weil die Kirche dem Staat gehört. Es ist nicht klar, wie das in der Matthäuskirche genau ist und ob der Kirchenrat hier das allerletzte Wort hat und ob der Staat da nicht auch etwas mitzureden hätte. Offensichtlich ist aber das Klima in Lausanne ein anderes als in Basel. Ich sehe drei Faktoren: die Kirchgemeinde, den Kirchenrat und den Staat. Und die Gemeinde steht in Lausanne voll und ganz hinter den Besetzern. Zudem hat das Gericht die Klage des Kirchenrats für unzulässig befunden.

DF: Münsterpfarrer Lukas Kundert behauptet, mit eurer offenen Kommunikation hättet ihr die Kontrolle des Migrationsamtes und die Verhaftungen selbst verschuldet. Wie kam es zum Entscheid, so offen aufzutreten und sich zu exponieren?
A: Wie gesagt, wenn man politischen Protest gegen das Migrationsregime führen will, was ich für unbedingt notwendig halte, dann muss man an die Öffentlichkeit gehen. Ein Protest ist nicht möglich, wenn er nur von Leuten mit einer Aufenthaltsbewilligung geführt wird. Es braucht die Zusammenarbeit zwischen von Ausschaffung Bedrohten und Aufenthaltsberechtigten. Die Kirche und das Kirchenasyl hätte hier die Rolle gehabt, uns trotz Öffentlichkeit Schutz zu gewähren. Ausserdem sieht das Dublin-Abkommen vor, dass wenn jemand während sechs Monaten nicht ausgeschafft werden kann, aber auch nicht untertaucht, das Aufenthaltsland verantwortlich für diesen Menschen ist.

DF: In eurer Medienmitteilung nach den Festnahmen schreibt ihr, in Basel ist innert kurzer Zeit eine breite Bewegung entstanden, die das derzeitige Migrationsregime nicht mehr länger duldet. Spontane Bewegungen vergehen aber oft auch so schnell wie sie entstanden sind – wie Ebbe und Flut. Ich denke, es braucht eine Steigerung und Verbindung mit anderen Kämpfen gegen das System. Das heisst, wir bekämpfen zusammen den Kapitalismus als Haupt-Flucht- und Migrationsursache, aber auch als verantwortliches System für Wirtschaftskrise und Sparmassnahmen. Was meinst du dazu? Wie denkst du soll sich diese Bewegung weiterentwickeln, damit Basel zu einer wirklich lebenswerten Stadt für alle wird?
A: Also, wir hatten gehofft, dass die Kirche ein Ort werden könnte, wo sich so etwas kristallisieren könnte, denn es ist uns bewusst, dass es in Basel sehr viele Menschen aus sehr vielen verschiedenen Schichten, Hintergründen und Gruppierungen gibt, die unzufrieden sind mit dem Migrationsregime und die Forderung nach Bewegungsfreiheit für alle unterstützen. Aber für viele Leute muss das greifbar sein, das hat sich gezeigt in diesem kurzen Monat. Enorm viele Leute haben uns kontaktiert und sind vorbei gekommen, um Solidarität zu bekunden. Man hat das auch bei der Demo gesehen, es waren viele unterschiedliche Leute da und es war eine grosse Entschlossenheit zu spüren. Es ist sehr schade, dass es jetzt vorbei ist, da hätte sich so viel daraus entwickeln können.

Zum anderen Teil der Frage. Es ist uns natürlich bewusst, dass es hier grösser Zusammenhänge gibt und wir gegen ein enorm starkes System ankämpfen. Ich hatte in letzter Zeit oft das Gefühl von Ohnmacht und habe es jetzt nach der Räumung noch viel mehr. Hinter diesem System stehen tausende von Bürokraten mit 100%-Stellen, die nur dafür bezahlt werden dieses System auszuführen. Wie wollen wir als Aktivisten, als Zivilbevölkerung oder als Gruppe, die das alles ehrenamtlich macht, gegen ein solches System ankommen? Das ist nicht einfach.

Uns ist klar, dass solange dieses System besteht, das auf Kapitalismus, auf Nationen, auf Grenzen, auf Ausbeutung und auf postkolonialen Strukturen beruht, die derzeitigen Migrationsbewegungen nicht aufhören werden. In den Diskussionen wurde uns oft vorgeworfen, wir hätten keine Lösung zu bieten. Wir haben Ansätze, die wir sehr gerne diskutieren möchten und die Kirche hätte Raum dafür bieten können. Auf jeden Fall ist die häufige Ausrede billig, dass man mehr Hilfe vor Ort leisten soll. Solange die Wirtschaftsstrukturen weiterbestehen, können wir Hilfe vor Ort leisten wie wir wollen. Es wird sich nichts daran ändern, dass Fluchtbewegungen entstehen. Und das wird viel zu selten gesagt.

DF: Als ehrenamtliche Aktivisten und engagierte Menschen ist es für uns alle sicher nie leicht, da hast du Recht. Ich sehe unsere Stärke darin, dass wir viel sind und auch in unserer Entschlossenheit. Um zu gewinnen, sollten wir den Kampf politisch steigern. Unser Ansatz dabei wäre jetzt, auf einer übergeordneten Ebene, eine Organisation bzw. eine revolutionäre Partei aufzubauen, die die Schlagkraft hat, die Ketten des Systems zu brechen und die verschiedenen Kämpfe zu vereinen.
A: Ich persönlich bin mir sicher, dass das aus der Zivilbevölkerung kommen muss. Denn alle Parteien in der Schweiz stehen hinter diesem System, hinter dem Migrationsregime und dem Kapitalismus. Das Migrationsdepartement wird von einer SP-Bundesrätin geleitet. Ich halte es für fraglich, dass der nötige Wandel in der Schweiz über die parlamentarische Eben erreicht werden kann. Auch wenn es ein absolut internationales Problem ist, dass wir auf europäischer Ebene lösen müssen, sehe ich die wirklichen Perspektiven im lokalen Handeln. Und das war auch unser Ansatz, dass wir versuchen Basel zu einer Stadt zu machen, die für jeden zugänglich ist und allen Bewohnern die gleichen Rechte bietet.

DF: Die parlamentarische Ebene sehen wir auch nicht als einzige Lösung oder Handlungsfeld. Sich lokal zu verankern ist definitiv ein zentraler Schritt vorwärts. Eine revolutionäre Partei braucht natürlich auch Bewegung von unten und eine lebendige Demokratie.

Die Gefangenen werden nun mit ziemlicher Sicherheit nach Italien ausgeschafft. Dorthin geht der Grossteil aller Ausschaffungen aus der Schweiz. Eine Praxis, die von verschiedensten Organisationen, sei es Amnesty International, die kirchliche Migration-Charta oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, kritisiert wird. Was erwartet sie dort?
A: Einige unserer Freunde waren schon einige Monate in Italien, bevor sie in die Schweiz kamen und hatten eine schwierige Zeit dort und mussten auf der Strasse leben. Darum ist es für einige sehr schlimm, dorthin zurück zu gehen. Wir werden sie natürlich nicht hängen lassen, weil wir sehr persönliche und enge Freundschaften zu ihnen aufgebaut haben. Wir sind auch jetzt ständig in Kontakt und haben unsere Bekannten in Italien um Unterstützung gebeten und werden so bald wie möglich dorthin reisen, um sie zu besuchen und zu besprechen wie wir weitermachen. Es ist aber wahrscheinlich, dass sie ohne unsere Hilfe wieder auf der Strasse landen. Italien ist offensichtlich massiv überfordert mit der Situation oder nimmt seine humanitäre Verantwortung nicht wahr.

DF: Die JUSO Basel-Stadt geht rechtlich gegen den Polizeieinsatz vor*. Wie siehst du das? Wie war die Demo aus deiner Perspektive?
A: Der Polizeieinsatz war absolut katastrophal! Es wurde massive Gewalt gegen eine Gruppe verwendet, die friedlich demonstrierte und sogar nach der Polizeigewalt friedlich blieb. Wir haben an diesem Tag sehr viel Gewalt erlebt. Am Morgen bei den Verhaftungen war sie unsichtbar, eine Gewalt, die täglich gegen Flüchtlinge und MigrantInnen angewandt wird. Am Abend haben die Leute, die sich solidarisiert haben wiederum Gewalt erfahren durch die Polizei, was für viele wohl ein sehr prägendes Erlebnis war. Ich glaub, es waren viele Leute dort, die so etwas noch nie erlebt haben. Am nächsten Morgen haben wir einen weiteren Teil dieser Gewalt erlebt, indem das Sicherheitsdepartement in einer Medienmitteilung behauptete, dass die Polizei mit Flaschen, Pyrofackeln und Laserpointern angegriffen wurde, was offensichtlich gelogen war. Ich war in der vordersten Reihe der Demonstration und ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, dass diese Aussagen falsch sind. Was ich persönlich im Nachhinein sehr schade finde ist, dass die Gewalt am Abend medial aufgebauscht wurde und so die Gewalt der Ausschaffungen am Morgen ein bisschen unterging. Das ist für mich eigentlich der grössere Skandal. Dass die Polizei die Tradition des Kirchenasyls gebrochen hat und die Leute abgeführt hat.

DF: Welche Möglichkeiten gibt es, diese acht Personen in Italien oder in der Ausschaffungshaft zu unterstützen?
A: Unsere Gruppe ist in dieser Zeit sehr gewachsen und es gibt jetzt viele Leute, die für sie da sind und sie unterstützen. e Die Menschen im Gefängnis freuen sich über jede Solidaritätsbekundung und jeden Brief, den sie erhalten. Aber ich denke auch, dass es ihnen ein grosses Anliegen ist, dass sich mehr Leute gegen dieses Migrationsregime auflehnen. Die persönliche Unterstützung ist wichtig, aber auch dass man jetzt, wo man die Kirche nicht mehr hat, weitermacht und nicht wegschaut.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass die Aktion „Wir bleiben“ in der Matthäuskirche zwar vorbei ist, die Gruppe aber weiter besteht. Ich habe das Gefühl, dass wir für sehr viele Leute sehr unbequem waren, weil wir etwas sichtbar gemacht haben, was sonst unsichtbar ist. Und ich denke es war für viele unangenehm zu sehen, dass die illegalisierten Menschen total sympathische Leute sind. Die Leute, die in die Kirche gekommen sind, um uns kennenzulernen haben schnell gemerkt: da geschieht ein Unrecht. Auch wenn man sich dessen bewusst ist, ist die direkte Erfahrung noch einmal anders. Und jetzt sind wir wieder weg, die Leute werden ausgeschafft und der Störfaktor verschwindet. Man kann wieder ruhig seinem Leben und dem Job nachgehen ohne sich Gedanken zu machen, was abgeht. Dieses System hört aber nicht auf. Täglich werden Menschen ausgeschafft, auch wenn sie nicht sichtbar in einer Kirche sind. Jetzt wo wir nicht mehr die unbequemen Besetzer sind, werden wir oft an Podien oder ähnliches geladen. Jetzt sind wir die jungen, engagierten Aktivisten, die Zivilcourage zeigen. Aber es reicht eben nicht, darüber zu reden. Man muss auch etwas tun.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Interview führte die Marxist Society Uni Basel

 


*Die JUSO BS ruft auf ein Gesuch um Erlass einer Verfügung und Feststellung der Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes einzureichen. Das Gesuch kann man hier herunterladen.