Seit einigen Wochen gerät die Türkei aus unterschiedlichen Gründen wieder regelmäßig in die internationalen Schlagzeilen. Bürgerliche Ökonomen sind entsetzt über das vermeintlich wahnsinnige und unberechenbare Verhalten Erdoğans. Doch der Wahnsinn hat Methode: Erdoğan fürchtet vor allem eine soziale Explosion, argumentiert Florian Keller.

Nach seinem Amtsantritt im Jahr 2002 konnte die türkische Wirtschaft – getragen von einer boomenden Weltwirtschaft- jahrelang starkes Wachstum verzeichnen. Während die Industrie, die Produktion und auch Löhne massiv wuchsen, blieb das Beschäftigungsniveau stabil. Doch die Krise im Jahr 2008 machte diese Entwicklung zunichte. Es gab einen kurzen Aufschwung, als billiges Geld die Weltmärkte nach der Krise überflutete, aber das war nur aufgrund von Spekulationen und einer enormen Anhäufung von Schulden möglich.

Seit Jahren – noch vor der Krise und der Pandemie von 2020 – befindet sich die türkische Wirtschaft auf dem absteigenden Ast. Trotz Höhen und Tiefen geht es insgesamt abwärts. Im Jahr 2011 lag das Wirtschaftswachstum bei über 11%, 2017 erreichte es mit 7,5% den letzten Höchststand. Im Jahr 2018 wuchs die Wirtschaft um weniger als 3% – der niedrigste Stand in der Türkei seit der Krise im Jahr 2008. Gegen Ende 2018 wies die türkische Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Überhitzung auf: Der Wert der Lira fiel stark, die Inflation stieg auf über 20% an, eine Staatspleite und ein katastrophaler wirtschaftlicher Zusammenbruch drohten.

Nur der massive Eingriff der Zentralbank konnte die Situation stabilisieren. Im September 2018 erhöhte diese die Zinsen auf kolossale 24%, sie sollten in den folgenden zehn Monate auf diesem Niveau bleiben. Aber diese Politik trug dazu bei, die bereits geschwächte Wirtschaft, die völlig von billigem Geld abhängig war, zum Erliegen zu bringen. Ende 2018 befand sich die Türkei bereits in einer Rezession und bis zur Krise ab März 2020 stand mit einem mageren Wachstum von 0,9% im Jahr 2019 auch keine Erholung im Raum.

Erdoğan spürt den Druck

Erdoğan weiß aus eigener Erfahrung, dass ein Fehltritt in dieser Situation einen Massenaufstand auslösen könnte, der sein Regime auf den Misthaufen der Geschichte befördern würde. Es ist erst zehn Jahre her, dass die Welle der arabischen Revolution Autokraten in unmittelbarer Nachbarschaft reihenweise zu Fall brachte. Seit den Gezi-Park Massenprotesten, bei denen Millionen auf die Straße gingen und sein Regime bis ins Mark erschütterten, sind ebenfalls erst acht Jahre vergangen.

Aufgrund der Schwäche der Führung der Gezi-Bewegung konnte Erdoğan damals nicht gestürzt werden. Die vagen liberalen Forderungen konnten die Arbeiterklasse, insbesondere jene Schichten, deren Lebensstandard seit Erdoğans Machtübernahme drastisch gestiegen war, nicht mobilisieren. Bis vor kurzem genoss Erdoğan starke Unterstützung unter diesen Schichten, sowie Teilen der Mittelschichten. Aber der wirtschaftliche Niedergang der letzten Jahre hat diese Unterstützungsbasis untergraben.

Einige versuchen Erdoğans Handlungen auf seine bösartige und erratische Persönlichkeit zurückzuführen. Diese hat sicherlich einen Einfluss, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Erdoğan die Konsequenzen einer Massenbewegung begreift. Daher hat er in den letzten Jahren verstärkt auf außenpolitische Abenteuer (z.B. in Syrien) gesetzt, die Opposition im Staatsapparat und in den Medien systematisch beseitigt und er versucht, die Menschen entlang nationaler Linien zu spalten, indem er beispielsweise die Unterdrückung der KurdInnen verschärfte.

Der Versuch, den Vulkan zu verstopfen

Bürgerliche ÖkonomInnen schlagen über Erdoğan die Hände über dem Kopf zusammen, weil er sich in die Angelegenheiten der Zentralbank einmischt, die ja ihrer Meinung nach unabhängig vom politischen Druck agieren sollte. Tatsächlich hat er keine andere Wahl. Im Juli 2018 nominierte Erdoğan seinen Schwiegersohn, Berat Albayrak, zum Finanzminister. Damit stellte er sicher, dass jemand die Zentralbank im Auge haben würde, der „wirtschaftliche Prinzipien“ nicht über die Stabilität des Regimes stellen würde.

Nachdem sich die Situation stabilisiert hatte, bestand Erdoğans Geld- und Währungspolitik ab 2019 darin, die Zinssätze so niedrig wie möglich zu drücken, während die türkischen Fremdwährungsreserven ausgegeben wurden, um die Lira zu stützen und die Leistungsbilanzdefizite auszugleichen. Die bürgerlichen Ökonomen protestierten lautstark. Doch diese Politik führte dazu, dass die türkischen Exporte im letzten Jahr billig waren. Dies führte unter anderem zu einer raschen Erholung (+15,9%) im dritten Quartal 2020 nach einem starken Rückgang um -11% im zweiten Quartal. Die Türkei verzeichnete im gesamten Jahr 2020 sogar ein Wachstum von 5,9%.

Aber das bedeutete auch, dass der Druck auf die Lira stetig gestiegen und die Inflation wieder in die Höhe geschnellt ist. Verschärft wurde dies durch die Tatsache, dass die Türkei noch mehr als andere Länder seit der Krise vom Gelddrucken abhängig war. Doch das Geld wächst nicht auf Bäumen. Langfristig wird dadurch nur das Währungssystem und die Wirtschaft negativ beeinträchtigt. Anfang November letzten Jahres wurde die Situation so kritisch, und die Lira erreichte gegenüber dem Dollar ein Allzeittief. Und die Türkei verfügte zu diesem Zeitpunkt über keinerlei Devisenreserven mehr.

Erdoğan blieb keine Wahl: Um den Crash abzuwenden, feuerte er am 7. November 2020 den damaligen Gouverneur der Zentralbank, Murat Uysal und ersetzte ihn durch Naci Ağbal. Dieser war bereit, die Zinsen zu erhöhen. Es schien, als ob Erdoğan letztlich den Forderungen der internationalen Märkte, die Einmischung in die Politik der Zentralbank zu beenden, nachgegeben hatte. Dass sein Schwiegersohn einen Tag später aus „gesundheitlichen Gründen“ als Finanzminister zurücktrat, schien den neuen Kurs zu bestätigen. Es schien, als hätte Erdoğan endlich dem Unvermeidlichen nachgegeben – trotz seiner öffentlichen Erklärungen, dass hohe Zinsen die Inflation nicht stoppen könnten. Wie schon 2018 würden wieder „harte, aber notwendige“ Maßnahmen durchgeführt werden.

Aber die Zeit ist seit 2018 nicht stehen geblieben, und der Spielraum des türkischen Kapitalismus schrumpft von Tag zu Tag. Um die Abwertung der Lira und die Inflation unter Kontrolle zu bringen, begann Ağbal die Zinssätze drastisch zu erhöhen: von 10,25% auf 19% in nur wenigen Monaten. Doch vor dem Hintergrund eines weltweiten Wirtschaftseinbruchs und hohen COVID-19-Infektionszahlen in der Türkei würgt eine restriktive Geldpolitik jede Hoffnung auf eine kurzfristige wirtschaftliche Erholung ab.

Während weltweit die Gelddruckereien heiß laufen, soll die Türkei ihre stoppen. Gleichzeitig ist jedoch nicht einmal die Inflation gesunken: die offiziellen Inflationsraten sind von 14% im November auf 16,2% im März gestiegen. Die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter sind noch höher, was eine Katastrophe für die ärmsten Schichten der Gesellschaft ist.

Kein Handlungsspielraum

Für Erdoğan war die Erhöhung der Zinssätze um 2% am 19. März (höher als die zuvor angenommene Erhöhung um 1%) der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am Tag darauf wurden Ağbal und kurz darauf sein Stellvertreter gefeuert. Zurzeit sind die Zinssätze noch auf dem selben Stand, aber Erdoğan hat deutlich gezeigt, dass er wieder die Kontrolle übernommen hat und öffentlich seine „Entschlossenheit“ zur Zinssenkung angekündigt.

Die Reaktion der Märkte darauf war absehbar: der Wert der Lira brach ein. An nur einem Tag verlor sie gegenüber dem Dollar 15% ihres Wertes. Sie erreichte fast ihr Rekordtief vom letzten November, obwohl die Zinsen jetzt fast doppelt so hoch sind wie damals! In der Woche nach der Ankündigung fiel der wichtigste türkische Börsenindex um 13%, und die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen stiegen um 5 Prozentpunkte auf 19%.

Wo davor das internationale Kapital hohe Zinsen nutzte, um schnell Geld zu verdienen, erlebt die Türkei jetzt eine massive Kapitalflucht. Die Deutsche Bank berichtete, dass allein in der Woche nach Erdoğans Entscheidung 1 Mrd. Dollar an Aktien und 750 Mio. Dollar an Krediten von ausländischen Investoren aus der Türkei abgezogen wurden. Schon davor waren ausländische Investitionen auf einem Tiefpunkt. Der Staat könnte sogar gezwungen sein, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, was für ein kapitalistisches Land wie die Türkei ein Zeichen der Verzweiflung wäre. Im besten Fall wäre das nur eine vorübergehende Maßnahme, um den Abfluss von Kapital aufzuhalten, während dadurch die Wirtschaft nur weiter zerrüttet würde.

Die Türkei hat die fiskalen Maßnahmen voll ausgeschöpft und keine Möglichkeiten mehr, diese Entwicklungen zu bekämpfen. Erdoğan hat weder Geld noch Handlungsspielraum. Der türkische Staat wird gezwungen sein, noch mehr Geld zu drucken, was die Inflation weiter antreiben wird. Die Situation könnte völlig außer Kontrolle geraten.

Dass das Erdoğan-Regime zwischen verschiedenen Ansätzen hin- und herschwankt und nach nur vier Monaten zu einer eindeutig gescheiterten Politik zurückkehrt, ist ein Zeichen purer Verzweiflung. Im übertragenen Sinne zündet Erdoğan einen Strohhaufen unter einem Pulverfass an, nur um sich ein wenig länger warm zu halten. Einerseits wird jede Erhöhung der Zinsen die Wirtschaft in eine tiefe Krise stürzen und damit die türkische Bevölkerung enorm unter Druck setzen und die Unterstützung für das Regime untergraben. Andererseits steuert die Türkei ohne ein Eingreifen unweigerlich auf eine wirtschaftliche Katastrophe wie die in den Jahren 2000-2001 zu, die zum Sturz der vorherigen Regierung und zu Erdoğans Aufstieg geführt hat. Jeder weitere Schachzug ist ein schlechter Zug für Erdoğan!

Schon vor den jüngsten Ereignissen befand sich das Regime in einer fragilen Lage und war zunehmend auf außenpolitische Abenteuer angewiesen, um die Unterstützung im eigenen Land aufrecht zu erhalten und Möglichkeiten für Profite zu finden. Dabei hat die Türkei zwischen den großen imperialistischen Mächten manövriert – insbesondere den USA und Russland, aber auch China und der EU. Die Türkei versuchte auch, die wachsende Krise innerhalb der EU auszunutzen, um die eigene Position zu sichern.

In seinen außenpolitischen Manövern zählt für Erdoğan immer öfter nicht die langfristige Perspektive, sondern angesichts der schlimmen Lage, in der sich der türkische Kapitalismus befindet, ist er viel mehr an jeder kurzfristigen monetären Unterstützung interessiert.

Ursula von der Leyen hat als Präsidentin der Europäischen Kommission im Rahmen der Türkei-EU-Verhandlungen Ankara persönlich besucht. Bei den Gesprächen signalisierte Erdoğan offenbar seine Bereitschaft, zu einer Lösung des Konfliktes um Zypern beizutragen- im Gegenzug für eine „bessere wirtschaftliche Zusammenarbeit und mehr finanzielle Unterstützung“. Die EU scheint auch offen für die Idee zu sein, die den Ausbau der Zollunion zwischen ihr und der Türkei einschließen würde.

Kurz zusammengefasst: Erdoğan ist pleite und muss dringend mehr Geld für seine Rolle als EU-Grenzwächter gegen Flüchtlinge ausverhandeln.

Eine Revolution braut sich zusammen

Erdoğan und dem regierenden AKP-Regime gehen die Optionen aus. Das Regime weiß, dass es aufpassen muss, da Erdoğans wirtschaftliche und soziale Reserven zunehmend aufgebraucht werden. Dies gilt vor allem für die Schichten der ArbeiterInnen und der unteren Mittelklasse, die von steigenden Preisen, Arbeitslosigkeit und den Lockdowns besonders hart getroffen wurden.

Obwohl es beispielsweise ein Verbot von Entlassungen während der Pandemie gibt, steigt die Arbeitslosigkeit. Beispielsweise wurde erst kürzlich berichtet, dass im Jahr 2020 über 170.000 Menschen nach dem „Code 29″ des Arbeitsgesetzes entlassen wurden. Dies bedeutet, dass diese ArbeiterInnen wegen verschiedener Verstöße gegen die Disziplin am Arbeitsplatz entlassen wurden. Die Gewerkschaften kritisieren, dass dies eine bequemer Ausweg für Unternehmen ist, um das Entlassungsverbot zu umgehen. Darüber hinaus erhalten ArbeiterInnen, die unter „Code 29″ gekündigt wurden, keine Entschädigung und haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Weil die Spannungen in der Gesellschaft zunehmen, könnte ein erneuter Wirtschaftseinbruch die Bedingungen für einen Massenaufstand von unten ebnen. Trotz der Macht des türkischen Staates und der ständigen Propaganda der Medien, konnte das Regime bis jetzt die Bewegung der StudentInnen der Universität Boğaziçi in Istanbul nicht vollständig unterdrücken. Sie protestieren weiterhin gegen den neuen Universitätsrektor, der direkt von Erdogan ernannt wurde. Man kann sich vorstellen, was passieren wird, wenn die mächtige Arbeiterklasse die Bühne betritt.

Das Regime handelt präventiv, indem es alle Kanäle, durch welche politische Unzufriedenheit ausbrechen könnte, mit Gewalt unterdrückt. Die verstärkte Unterdrückung verschafft dem Regime zwar vorübergehend Luft, aber bringt seine Stabilität auf lange Sicht zum Wanken. Doch auf welche Optionen kann Erdoğan sonst noch zurückgreifen?

Erdoğan versucht Unterstützung zu mobilisieren, indem er sich auf immer kleinere und reaktionärere Schichten der Gesellschaft stützt. Erst kürzlich kündigte er den Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention an, die Frauen gegen Gewalt schützen soll. Dies ist ein Versuch, seine Unterstützung unter den Islamisten zu stärken, die das Abkommen als Angriff auf „traditionelle Werte und die Familienstruktur“ und für die „Normalisierung der Homosexualität“ angeprangert haben.

Die Krise des türkischen Kapitalismus zwingt Millionen von Frauen zurück in den Haushalt. Die Femizide (Frauenmorde) erreichen ein Rekordhoch, und vor allem für arme Frauen und Frauen aus der Arbeiterklasse wird das Leben unerträglich. Die Maßnahme von Erdoğan mag seine Popularität unter einer kleinen Schicht steigern, doch gleichzeitig isoliert es ihn von den breiten Massen der Bevölkerung.

In seiner Verzweiflung plant das Regime, die linke HDP (Demokratische Volkspartei), die in der kurdischen Minderheit breite Unterstützung genießt, vollständig zu verbieten. Unter Bedingungen, die nur als Halblegal bezeichnet werden können (der Präsidentschaftskandidat der Partei, Selahattin Demirtaş, befindet sich seit 2016 im Gefängnis), konnte die Partei bei den Wahlen 2018 über 10% erreichen. Die populären HDP-Politiker werden immer wieder verhaftet. Zuletzt wurde der populäre Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu Anfang April wegen angeblicher „Unterstützung des Terrorismus“ verhaftet und muss zwei Jahre im Gefängnis verbringen.

Im Moment ist das Verbot der HDP pausiert, nachdem das Verfassungsgericht einige „Formfehler“ im Gesetz festgestellt hat. Doch es handelt sich nicht um das Aufflackern einer „unabhängigen Justiz“. Wahrscheinlich ist es eine Verzögerungstaktik, um dem Regime in seinen Gesprächen mit der EU ein wenig Verhandlungsspielraum zu verschaffen.

So oder so – die Türkei steuert auf eine Explosion zu, in der sich all das brennbare Material in der Gesellschaft entzünden wird, das sich über die Jahre angehäuft hat. Die Frage ist nicht, ob die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Widersprüche ihr Limit erreichen werden, sondern vielmehr, wo es als erstes kracht.

In dieser Situation wird die in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsene Arbeiterklasse in der Türkei wieder auf den Plan treten. Die Aufgabe besteht nun darin, sich auf dieses Erwachen vorzubereiten, indem man in der Türkei eine revolutionäre Organisation mit einem marxistischen Programm aufbaut, die als Werkzeug für die Arbeiterklasse dienen kann, um den verfaulenden Leichnam des türkischen Kapitalismus zu Grabe zu tragen.

Florian Keller
Der Funke Österreich
22 April 2021