Massendemonstrationen, Besetzung des Flughafens von Barcelona, Generalstreik und Strassenbarrikaden: Durch die Verurteilung politischer Gefangener ist die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien neu aufgeflammt. Die Menschen kämpfen um ihr Recht auf Selbstbestimmung, gegen die Repression des Staates und für bessere Lebensbedingungen.

Am 14. Oktober hat das Oberste Gericht Spaniens 12 katalanische politische Gefangene für ihre Beteiligung am Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens im Oktober 2017 verurteilt. Neun der Verurteilten wurden bereits zwei Jahre lang in Untersuchungshaft gehalten. Wie erwartet fielen die Urteile brutal aus: neun- bis dreizehnjährige Gefängnisstrafen für die Neun, welche bereits in Untersuchungshaft gewesen waren. Bussen und das Verbot,öffentliche Ämter auszuüben für die drei Anderen. Sie wurden, neben milderen Vergehen, wegen «Volksaufhetzung» verurteilt.

Die Verurteilungen haben eine sofortige Reaktion bei den katalanischen Massen ausgelöst, welche zahlreich auf die Strasse gingen. Schon am Mittag des 14. Oktobers war das Zentrum Barcelonas lahmgelegt. Alle Hauptstrassen wurden blockiert. SchülerInnen und Studierende schlossen sich den Protesten an, sobald die Urteile erlassen waren.

Zehntausende besetzten einen Tag lang den riesigen Flughafen von Barcelona! Sie bewirkten dadurch, dass über 100 Flüge gestrichen wurden und zahlreiche verspätet waren. Die Antwort der staatlichen Autoritäten war einmal mehr brutalste Repression. An anderen Orten wurden Strassen, Zuglinien und Bahnhöfe besetzt oder blockiert. Überall in Katalonien gab es Massendemonstrationen. Bemerkenswerterweise gab es auch im Rest von Spanien, zum Beispiel in Madrid, relativ grosse Mobilisierungen. Die Verurteilungen stiessen bei einem bedeutenden Teil der spanischen Gesellschaft auf Widerstand. Der Schlag der Reaktion hat der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung einen mächtigen Aufschwung verliehen. Nachdem die katalanische Bewegung monatelang abgeflaut war, haben sich die Massen nun erholt und neue Zuversicht gewonnen.

Der Generalstreik vom 19. Oktober
Nach mehreren Tagen der Massendemonstrationen, die durch die spanische und katalanische Polizei brutal angegriffen wurden, markierte der Generalstreik vom 19. Oktober einen qualitativen Sprung in der politischen Situation in Katalonien. Die Beteiligung am Generalstreik gegen die Verurteilungen war noch grösser als vor zwei Jahren, auch wenn die meisten «schweren Bataillone» der Arbeiterklasse nicht streikten. Die Demonstrationen am Streiktag waren massiv: 525’000 Menschen in Barcelona laut der Polizei, vermutlich waren es aber bis zu 750’000. Viele DemonstrantInnen sprachen Spanisch und trugen spanische republikanische Flaggen. Die Bewegung hat einen demokratischen Charakter erhalten, der deutlich über die nationale Frage hinausgeht.
Die Polizeirepression war brutal. PolizistInnen setzten Gummischrot (illegal in Katalonien) und Tränengas ein, verprügelten Protestierende und PassantInnen, verhafteten JournalistInnen und zielten aus fahrenden Autos auf die Demonstrierenden.

Die Jugend, vor allem die 16-19-jährigen, gehörten wie so oft zur Vorhut. Zehntausende Jugendliche reagierten mit dem Aufbau von Barrikaden, um der Polizei entgegenzutreten! Sie waren beim Ausbruch der Krise 2008 erst Kinder und kennen seither nichts als Sparmassnahmen und Sozialabbau. Ihre ganze aufgestaute Wut, welche sich in den letzten Monaten schon gegen Frauenunterdrückung und Klimawandel gewandt hat, kommt nun voll zum Vorschein.

Der Kampf um Demokratie in Spanien
Der Kampf, den Katalonien führt, ist nicht vordergründig für seine Unabhängigkeit, sondern gegen die Verweigerung demokratischer, politischer und sozialer Rechte durch eine kleine, nicht gewählte Minderheit. In dieser noch von General Franco eingerichteten Monarchie entscheiden seit 1978 die Grosskapitalisten, Banker, hohen Richter, Staatsbeamten etc., worüber die Lohnabhängigen abstimmen und was sie denken dürfen. So ist das Recht auf Selbstbestimmung im spanischen Staat verboten – genau wie beispielsweise ein Referendum über die spanische Monarchie.

Deshalb betrifft das, was in Katalonien passiert, ganz Spanien. Am Beispiel des Verfahrens gegen die Führungsfiguren der Unabhängigkeitsbewegung sieht man, dass jede Massenbewegung für demokratische Rechte, welche die repressive Arbeit der Richter und der Polizei behindert, als «Volksaufhetzung» verfolgt werden kann. Die Organisierenden jedes Protestes, jedes Streiks und jeder Betriebsbesetzung, könnten zu zwölf Gefängnisjahren verurteilt werden.

Der korrupte Charakter des Verfahrens
Das Verfahren zeigt den autoritären Charakter des Regimes von 1978 klar auf. Die Anklage der «Rebellion», welche nun fallengelassen worden ist, hatte dazu gedient, die Angeklagten «legal» ihrer demokratischen und «konstitutionellen» Rechte zu berauben. Damit wurden sie während zwei Jahren gehindert, sich weiterhin am Kampf für die Unabhängigkeit zu beteiligen!

Das wäre mit der Anklage der «Volksaufhetzung» nicht erreicht worden. Doch auch die Anklage der «Volksaufhetzung» ist selbst nach dem Obersten Gericht eigentlich unangebracht. Denn in ihrem Urteil verkünden sie, dass die katalanische Regierung nie versuchte, institutionell mit dem spanischen Staat zu brechen, sondern nur, eine Verhandlung mit ihm zu erzwingen. Skandalöserweise muss das Oberste Gericht deswegen die Massenproteste der Bevölkerung vom 20. September und 1. Oktober 2017 in Barcelona als Rechtfertigung für ihr Urteil der «Volksaufhetzung» geben. Das ganze Verfahren, die vorhergehenden Ermittlungen und schlussendlich die Verurteilungen sind völlig korrupt, ungerechtfertigt und undemokratisch.

Das Recht auf Selbstbestimmung
Wie wir immer wieder betont haben, kann die Einheit der Bevölkerung nicht von oben herab aufgezwungen werden. Sie muss auf einer freiwilligen Basis entstehen. Doch der spanische Staat wird niemals akzeptieren, dass die KatalanInnen frei über ihr Schicksal entscheiden. Folglich sind in Spanien das Recht auf Selbstbestimmung – genauso wie der Kampf für eine demokratische Republik – revolutionäre Aufgaben, welche den Staatsapparat und das kapitalistische System herausfordern.

In Spanien sind das Recht auf Selbstbestimmung und der Kampf für eine demokratische Republik revolutionäre Aufgaben!

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Unterstützung der Mehrheit der katalanischen ArbeiterInnen gewinnt. Das bedeutet, dass sie die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung mit einem sozialistischen und internationalistischen Programm verknüpfen und die ArbeiterInnenklasse ausserhalb Kataloniens zur Solidarität aufrufen muss.

Die kleinbürgerlichen NationalistInnen an der Spitze der katalanischen Regierung sind tief gespalten. Unter dem Druck von unten versprach der katalanische Präsident Quim Torra, das Recht auf Selbstbestimmung in den kommenden Monaten einzuführen. Seine Minister aber widersetzten sich dieser Entscheidung offen. Diese tiefen Spaltungen der herrschenden Klasse sind charakteristisch für eine vorrevolutionäre Situation.

Es braucht eine revolutionäre Führung!
Die Bewegung zeigt eine aussergewöhnliche Energie und Entschlossenheit – allen voran die Jugend. Aber es gibt eine grosse Gefahr in dieser Situation. Es gibt keine Führung. Mit der Zeit werden die Massen müde werden, zwischen der Jugend und der älteren Generation wird es zur Spaltung kommen. Reaktionäre Kräfte werden zudem versuchen, die Menschen entlang der nationalen Frage zu spalten.

Die Kampfbereitschaft der katalanischen Massen gleicht einem überlaufenden Kochtopf. Die existierenden Organisationen, auch die linkeste Kraft der Unabhängigkeitsbewegung, die CUP, gehen nicht weit genug und halten sie nur zurück.

Versammlungen müssen jetzt bewusst organisiert und durch die Wahl von Delegierten zentralisiert werden. Die Menschen müssen sich mit einem sozialistischen Programm auf Klassenbasis ausrüsten. Dieses Programm sollte in jede Nachbarschaft und an jeden Arbeitsplatz gebracht werden. Jederzeit einsetzbare Barrikaden-Komittees müssen gewählt werden um die Selbstverteidigung der ArbeiterInnen zu garantieren. Die katalanische Bewegung ist wie ein fahrendes Auto ohne Fahrer. Es braucht unbedingt eine revolutionäre Führung, wenn die Bewegung gewinnen soll.

Zusammengestellt aus Analysen von In Defence of Marxism

Neuerscheinung
Die Weigerung der Führung der spanischen Linken, den Tod Francos in einen revolutionären Kampf gegen alle bürgerlichen Sturkturen zu verwandeln, wirkt sich bis heute nach. Alan Woods beschreibt die Periode als Augenzeuge und zieht die wichtigen Lehren für die heutige revolutionäre Arbeit.

Preis SFr. 25.-
Wellred Books, 2019 (522 Seiten)
Bestellbar unter redaktion@derfunke.ch

Bild: CC BY-NC-ND 2.0 fotomovimiento.org (flickr) Bild: CC BY-NC-ND 2.0 fotomovimiento.org (flickr)