Millionen von Arbeitern kämpfen in Frankreich gegen die Erhöhung des Rentenalters. Der Ausgang des Kampfes ist offen und könnte bis zum Sturz der Regierung führen. Eine Situation wie im Mai 68 liegt in der Luft.

Im Januar 2023 verkündete die französische Regierung ihren Plan zur Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Die Erhöhung kommt in einer angespannten Situation mit Inflation und steigenden Hypothekenkosten für Millionen von Familien. Der Widerstand der Arbeiterklasse liess nicht lange auf sich warten und hält bis Redaktionsschluss (11. April) an.

Am 6. April fand bereits der elfte nationale Protest- und gewerkschaftliche Aktionstag gegen die Konterreform statt. Das bedeutet durchschnittlich ein Protesttag pro Woche seit Mitte Januar. Während am ersten Protesttag rund eine Million Menschen teilnahmen, waren es am 23. März allein in Paris 800’000 und landesweit mehrere Millionen.

Trotz diesem Widerstand drückte die Macron-Regierung die Erhöhung des Rentenalters am 16. März mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 durch. Mit diesem Artikel kann die Regierung, ohne jegliche Abstimmung im Parlament, Gesetze per Dekret beschliessen. Die Bevölkerung lehnt dieses Vorgehen der Regierung aber durchwegs ab: In einer Umfrage vom 24. März gaben 82 % der Franzosen an, negativ gegenüber der Anwendung des Artikels eingestellt zu sein. 65 % wünschen sich eine Fortsetzung des Widerstandes gegen das Gesetz.

Durch den Gesetzesbeschluss per Dekret beginnen die Arbeiter die Legitimität des Regimes als Ganzes in Frage zu stellen. Der autoritäre Beschluss zog zudem die Jugend, die sich bis anhin nur geringfügig an der Bewegung beteiligte, mit in den Kampf. Der Eintritt der Jugend in die Bewegung verstärkte den Kampf nicht nur nummerisch, sondern brachte auch eine neue Dynamik mit sich.

Das Kampfziel wurde mit dem autoritären Vorgehen der Regierung zumindest implizit ausgeweitet. Es geht nicht mehr nur gegen die Reform im Besonderen, sondern auch gegen die Regierung und die Angriffe auf den Lebensstandard im Allgemeinen.

Die herrschende Klasse

Dass Macron das Gesetz per Dekret durchboxte, ist Ausdruck der ausweglosen Situation der Bourgeoisie: Die Mittel zur Widerherstellung akzeptabler Profitbedingungen führt nur noch über einen Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse – alle anderen Mittel sind ausgeschöpft. Wie jede Regierung weltweit muss auch die französische Regierung die Arbeiterklasse für die Ausgaben während der Coronakrise zahlen lassen. Die französische Bourgeoisie hat keine Wahl. Der Angriff auf die Renten ist für sie schlicht und ergreifend notwendig.

Aber die herrschende Klasse ist gespalten. Nicht darüber, dass man die Arbeiterklasse zahlen lassen muss, sondern über das Tempo und die Art der Angriffe. Der Grund ist simpel: Die französische Arbeiterklasse hat immer wieder bewiesen, dass sie bereit ist zu kämpfen.

Die herrschende Klasse Frankreichs hat grosse Angst vor einer unkontrollierbaren sozialen Explosion. Die Risse im Regime zeigen sich in der Zunahme der Kritik an Macron aus dem bürgerlichen Lager. Selbst Mitglieder seiner Partei haben sich von ihm abgewendet. Für sein Gesetz fand er keine Mehrheit im Parlament. Daher ist das Dekret sowohl Ausdruck der Schwäche der Regierung und der Risse in der herrschenden Klasse als auch der Alternativlosigkeit der Angriffe auf die Arbeiterklasse seitens der Bourgeoisie.

Arbeiterklasse kämpft – Gewerkschaftsführung bremst

Während die Arbeiterklasse ihre Bereitschaft zum Kampf eindeutig bewiesen hat, bremsen die Führer der Gewerkschaften diesen aus. Von Beginn weg wurde einzig und allein auf das Mittel von «Aktionstagen» mit beschränkten Warnstreiks gesetzt. Die gesamten letzten Jahre haben bereits gezeigt, dass diese Aktionstage die Regierung nicht in die Knie zwingen können.

Wie in der Vergangenheit dienen die Aktionstage nur als Druckablassventil, um den Arbeitern zu zeigen, dass ja gekämpft wird. Der Kampf wird dadurch in kontrollierten Bahnen gehalten. Die Bürokratie hat Angst vor der Arbeiterklasse und zeigt sich besorgt über «die Gefahr einer sozialen Explosion», wie einem Communiqué Ende März zu entnehmen ist. Die Führer der Gewerkschaften halten den Kampf mit der Strategie der eintägigen Aktionstage objektiv zurück. Statt die Streiks auszudehnen, werden immer weitere Aktionstage ausgerufen.

Gleichzeitig hoffen die reformistischen Führungen auf Zugeständnisse seitens der Regierung durch Verhandlungen. Der Punkt ist, solange die Gewerkschaften nicht auf die wirkliche Macht der Arbeiterklasse – die unbefristete und komplette Lahmlegung der französischen Wirtschaft – setzen und es bei Protesttagen und der isolierten Forderung der Zurücknahme des Gesetzes belassen, wird die Regierung die Bewegung aussitzen können.

Die Verhandlungen vom 5. April haben gezeigt: Die Regierung gibt keinen Millimeter nach. Verhandlung und Versuche, die Reform via Verfassungsgericht zu Fall zu bringen, bewirken einzig, der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. So fährt die Gewerkschaftsbürokratie nicht nur den Kampf an die Wand, sie wird zur (wichtigsten) Stütze der Regierung.

Die Regierung muss gestürzt werden

Seit über zwei Monaten zeigt die französische Arbeiterklasse ihre heroische Bereitschaft zu kämpfen. Neben den elf Aktionstagen organisierten einige Sektoren, wie die Pariser Müllabfuhr, Strom- und Gasarbeiter oder Raffineriearbeiter unbefristete Streiks. Fünf Sektor-Gewerkschaften des Gewerkschaftsbunds CGT haben gegen den Willen der CGT-Führung dazu aufgerufen.

Die unbefristeten Streiks, auch wenn sie auf einzelne Sektoren beschränkt blieben und gegenwärtig wieder abflauen, zeigen im Keim den Weg vorwärts auf. Zusammen mit dem Eintritt der Jugend in die Bewegung haben die unbefristeten Streiks bewiesen: Das Potential der Bewegung liegt darin, den Kampf auszuweiten und neue Schichten der Arbeiterklasse in den Kampf hineinzuziehen. Die Lage ist explosiv, weil der Angriff auf die Renten nur die Spitze des Eisberges darstellt. Eintägige Streiktage bewirken ein Auspowern der Bewegung. Der einzige Weg zum Sieg liegt in der Ausweitung des Kampfes in Richtung unbefristeter Streiks.

Mit der «Unité CGT» hat sich nun innerhalb des Gewerkschaftsbundes CGT ein linker Flügel gebildet, der genau diesen Weg vorwärts aufzeigt und die reformistische Führung herausfordert. Die bisher organisierten unbefristeten Streiks gehen auf ihr Konto.

Obwohl sie in der CGT noch in der Minderheit sind, finden ihre Vorschläge ein sehr starkes Echo. Am Kongress des Gewerkschaftsbundes im März gelang es ihr zwar noch nicht, die Führung des Bundes zu übernehmen. Aber die Delegierten des Kongresses haben den Rechenschaftsbericht der ausgehenden Führung abgelehnt – ihr also das Vertrauen entzogen. Das ist ein historischer Sieg gegen die reformistische Gewerkschaftsführung mit Bedeutung für die gesamte internationale Arbeiterbewegung!

Die Unité CGT hat die nicht unerhebliche Unterstützung von 205’000 Gewerkschaftsmitglieder für sich und vertritt den folgenden Standpunkt:

«Wir sind an einem Wendepunkt angelangt. […] Sprechen wir also Klartext: Von nun an geht es nicht nur darum, die 64 Jahre [Rentenalter] abzulehnen. Das Ziel ist die Rückkehr zum Rentenalter 60, ein Mindestlohn von 2’000 Euro, die Widerverstaatlichung/Enteignung der Autobahnen, der Industrien, der ausgeplünderten Güter des Volkes. Das Ziel ist der Widerruf der Gesetze gegen die Arbeitslosen, das Ende der Beihilfen für Unternehmen. Das ist die Antwort auf alle unsere sozialen Bedürfnisse, ein Regimewechsel. Diese Gesellschaftsordnung hat zu lange gedauert.»

Unité CGT

Jawohl! Damit hat die Unité CGT eine korrekte Auffassung der Situation und des Charakters des Kampfes. Es liegt nun in ihrer Verantwortung, den Kampf auszuweiten. Die Unité CGT hat den Schlüssel zum Sieg in ihren Händen. Zusammen mit allen Linken und Gewerkschaftsaktivisten muss die Unité CGT mit voller Kraft Versammlungen in allen Betrieben, Quartieren und Universitäten organisieren. Dort soll das zitierte Programm diskutiert und unbefristete Streiks vorangetrieben werden. Das krönende Ziel muss der Sturz der Macron-Regierung und ihre Ersetzung durch eine Regierung im Dienst der Arbeiter sein.

Der Ausgang des Kampfes ist offen. Die Regierung ist schwach und die herrschende Klasse gespalten. Die Weigerung der Gewerkschaftsbürokratie den Kampf auszuweiten und eine Entscheidung zu suchen, ist das Einzige, was die Regierung im Moment rettet. Es liegt nun an der Unité CGT die französische Arbeiterklasse von ihrem Programm zu überzeugen: Die Ausweitung der Streiks, bis hin zum unbefristeten Generalstreik und dem Sturz der Regierung!

Jonas Gerber, der Funke, Bern