Die Türkei ist in Nordsyrien einmarschiert. Der Angriff der Türkei ist Erdogans Antwort auf seinen fortschreitenden Machtverlust im eigenen Land und Ausdruck der imperialistischen Machtspiele in der sonst schon instabilen Region. Die grössten Leidtragenden dabei sind die KurdInnen.

Unter dem Vorwand gegen Terroristen vorgehen zu wollen, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anfangs Oktober die «Operation Friedensquelle» gestartet. Er strebte damit einen sogenannten «Sicherheitskorridor» südlich der türkischen Grenze, im Norden Syriens, an. Dieser wurde mit dem zwischen Putin und Erdogan geschlossenen Deal zur Tatsache. Darin haben die imperialistischen Mächte ihre Einflussgebiete definiert und das Gebiet Rojava de facto aufgelöst; ein Teil an Erdogan, einer an Assad, und die USA kontrollieren weiter die Ölfelder. Neben der Vernichtung von Rojava verfolgte Erdogan mit dieser Operation noch weitere Ziele: Die Sicherung der eigenen Macht in der Türkei und die Ausdehnung des türkischen Einflussgebiets.

Erdogan wackelt
Erdogans Regime, so selbstsicher es sich gerne auch gibt, sitzt alles andere als fest im Sattel. Die Wirtschaft befindet sich spätestens seit Sommer 2018 in einem desolaten Zustand; die Inflation ist gewaltig, genauso wie die Arbeitslosenzahlen. Die Lira, die türkische Währung, erholt sich kaum und die immensen Staatsausgaben reissen ein riesiges Defizit in die Staatskasse. Das hatte bereits politische Konsequenzen: Bei den Oberbürgermeister-Wahlen in Istanbul im Sommer musste seine Partei, die AKP, eine herbe Niederlage einstecken. Und schon letztes Jahr bei den Parlamentswahlen musste er, um an der Macht bleiben zu können, Allianzen mit nationalistischen Parteien eingehen. Diese wiederum machen nun Stimmung gegen die mehreren Millionen Flüchtlinge die seit Beginn des Konflikts in Syrien in die Türkei gelangt sind.

Keine Toleranz für Rojava
2 Millionen der syrischen Flüchtlinge will Erdogan nun im neu besetzten Gebiet ansiedeln. Die seit 2014 selbstverwaltete Region «Rojava» im Norden Syriens war ihm seit Beginn ein Dorn im Auge. Dank diverser progressiver Massnahmen gelang es hier, verschiedene ethnische Gruppen unter einem Projekt zu vereinen. Dies machte den Imperialisten in der Region Angst, denn es stand für die Überwindung eines der wichtigsten Spaltungsmechanismen der herrschenden Klasse.

Ein solches Projekt darf für die Herrschenden nicht existieren. Es birgt das Potenzial, den KurdInnen, aber auch anderen Unterdrückten der Region, als Beispiel des Widerstands und als Schaltzentrale zukünftigen Widerstands zu dienen – trotz aller Mängel, die es natürlicherweise in einer von Imperialisten gebeutelten Region aufweisen musste. Erdogan hatte bereits im Dezember 2018 ein Teil Rojavas, den Kanton Afrin im Nordwesten Syriens, besetzt; was folgte, waren Vertreibungen Hunderttausender der dort ansässigen Kurden und Gräueltaten durch die syrischen Verbündeten Erdogans, die sich grösstenteils aus islamistischen Milizen zusammensetzen.

Imperialistische Machtspiele
Erdogan hatte auch die aktuelle Invasion bereits lange geplant, doch vor Ort stationierte US-amerikanische Truppen schützten die Kurden bis anhin. Um den Einfluss des Iran und des Assad-Regimes in der Region im Zaum zu halten, stützten sich die USA auf kurdische Milizen der YPG/J. Damit erzürnten sie im Gegenzug Erdogan, weshalb sich die Allianz mit den Kurden nur so lange lohnte, wie der IS eine reale Gefahr darstellte, da die USA die kurdischen Milizen der YPG im Kampf gegen den IS einsetzten.

Jetzt, wo der IS praktisch besiegt ist, zog Trump seine Truppen wieder ab und liess Erdogan frei gewähren – um eine weitere Annäherung der Türkei an Russland und den Iran zu verhindern. Er segnete den Angriff kurzum sogar ab, indem er alle gegen die Türkei beschlossenen Sanktionen aufhob. Diese Manöver sind einzig durch die imperialistischen Interessen der Mächte erklärbar.

Dass es auch von Seiten der europäischen Staatschefs bei nicht viel mehr als ein paar mündlichen Ermahnungen blieb, verwundert nicht. Die Türkei ist NATO-Mitglied und die EU-Staaten haben den berühmten dreckigen Flüchtlingsdeal mit Erdogan abgeschlossen: Er erhält Millionen, um im Gegenzug Flüchtlinge in der Türkei zu halten. Den Herrschenden in Europa drohen durch die Flüchtlingskrise, durch die seit Jahrzehnten befeuerte xenophobe Stimmung, die gleichen innenpolitischen Probleme wie Erdogan. Diese Angst nutzt er aus. Als Reaktion auf die Androhung einer Verurteilung des Angriffes drohte Erdogan damit, 3.6 Millionen syrische Flüchtlinge «auf Europa loszulassen». Eine instabile Situation in der Region ist aber auch sonst sehr lukrativ: Die Türkei ist Destination Nummer 1 für deutsche Waffenexporte und auch die Schweiz verdient am Verkauf an die Türkei Millionen. Es verwundert so auch nicht, dass im Rahmen dieser Operation auch eine Wiedergeburt des Islamischen Staates in Kauf genommen wird. Zehntausende IS-Kämpfer und Sympathisanten sind in Lagern in der bald besetzten Zone und in der Nähe interniert – bereits wurden erste Berichte veröffentlicht, wonach es dort zu Aufständen kam.

Nur auf die eigene Stärke vertrauen
Die Interessen der imperialistischen Mächte stehen in absolutem Gegensatz zu den Interessen der KurdInnen und der gesamten ArbeiterInnenklasse. Dies beweist die Geschichte der KurdInnen immer wieder aufs Neue: Jedes Mal, wenn sie ihren Dienst für die Interessen einer imperialistischen Macht erfüllt haben, werden sie einfach beiseite geworfen und ihre Forderungen ignoriert. Auch das syrische Assad-Regime, welches im aktuellen Konflikt den KurdInnen seine Unterstützung angeboten hat, ist kein Verbündeter – ihr ultimatives Ziel besteht darin, die Kontrolle über jene Gebiete des Landes zurückzugewinnen, welche sie zuvor verloren hatten. Dass die Führung der KurdInnen an die EU-Staaten oder eben auch Assad appelliert, schürt gefährliche Illusionen und ist ruinös für ihre Zukunft. Nur die internationale ArbeiterInnenklasse, insbesondere die ArbeiterInnen und Arbeiter der umliegenden Länder und allen voran der Türkei, können den KurdInnen helfen.

Und diese ArbeiterInnen und Arbeiter bewegen sich. Im Libanon werden gerade als ewig geltende Spaltungen in der Gesellschaft überwunden und die Wut von Millionen entlädt sich in heftigen Massenprotesten. Oder im Irak, wo seit Wochen Massenproteste mit tausenden Verletzten und zahlreichen Toten stattfinden. Doch auch in Saudi-Arabien und in der Türkei selber beginnen sich neue Schichten zu bewegen. Die kurdennahe Partei HDP hat in der Türkei in den vergangenen Jahren beträchtliche Wahlerfolge feiern und auf einer Klassenbasis eine Brücke zu den Interessen der türkischen ArbeiterInnen schlagen können.

Nur wenn es die KurdInnen schaffen, ihren Kampf mit demjenigen der unterdrückten Bevölkerung der Region zu verbinden, kann ihr Projekt eine Zukunft haben. Nicht in der Klassenkollaboration, nicht in der Anbiederung an die eine oder andere imperialistische Macht, die sie früher oder später verrät, sondern in der Verbindung mit den ArbeiterInnen und Arbeitern der Region, die allesamt unter den Folgen des Kapitalismus und des Imperialismus leiden. Dazu braucht es ein Programm, welches an ihren gemeinsamen Interessen ansetzt und einen Weg in die Zukunft weise. Einen Weg, der in Rojava in Ansätzen bereits existiert, wie der Organisierung der Bevölkerung in Räten und das gemeinsame Eigentum an Boden. Nur wenn sie den Schritt weg von einer «regional-demokratischen» hin zu einer internationalen sozialistischen Kraft machen, dann ist es möglich die Schergen des IS, den Despoten Erdogan und die Scheichs in Saudi-Arabien zu bekämpfen und eine sozialistische Föderation des mittleren Ostens aufzubauen, von wo die Revolution die ganze Welt erfassen kann.

Kevin Wolf
JUSO Stadt Bern

Bild: Mahmut Bozarslan [Public domain]