Soeben haben wir einen Augenzeugenbericht von Barbara Gerber aus Kairo erhalten.


Liebe Freunde und Familienmitglieder

30 juni 2013 KairoBringt man ohne Grund ca. 20 Millionen Leute auf die Strasse? Wohl eher nicht… In der Presse liest man so einiges, ich möchte einen kleinen Überblick über das Geschehen geben, denn ich sitze hier und will nicht der Angst verfallen vor dem was kommt….. das grosse Ungewisse.

Mursi wurde Präsident, eine leere Figur. Regiert wird das Land von Extremislamisten. Schon die „freien demokratischen Wahlen“ waren getürkt. Ich hab selber gesehen, wie eingeschüchterte Menschen, welche das erste Mal an der Urne waren, praktisch gezwungen wurden für Mursi zu stimmen. Im zweiten Wahlgang fielen alle andere Kandidaten weg ausser Morsi und Shafik (Anm.: Gegenkandidat zu Mursi bei den Präsidentschaftswahlen 2012), also die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub.

All die Versprechungen blieben unerfüllt. Es ging bergab und bergab mit dem Land. Die Leute hatten kaum mehr zu essen. Viele sind krank von der einseitigen Ernährung – kein Salat, keine Früchte, keine Milch, miserables Brot. Alles wird immer teurer. Die Menschen haben kein Geld und keine Arbeit.

Aber das störte die oben nicht. Für sie existiert das Volk gar nicht. Das Volk war nur Mittel zum Zweck während die da Oben ruhig absahnen.

Immer wieder kam es zu blutigen Protesten. Die Touristen blieben weg, was alles noch schlimmer machte. Der Druck von den extremen Islamisten wurde immer stärker. Sie versuchten auch den grossen Sheikh von al Azhar (Anm.: Imam der al-Azhar-Moschee, gilt als eine wichtige religiöse Autorität des sunnitischen Islams) zu vertreiben.

Ich muss ja nicht weiter reden. Alle wissen was extremer Fanatismus ist.

Im Frühling 2013 gründete dann ein junger Mann die Gruppe „Tamarod“ (Rebell). Er startete eine Unterschriftensammlung für eine vorzeitige Präsidentenwahl. Ziel: 15 Millionen Unterschriften. Bis heute sind es etwa 22 Millionen. Jede Person musste Name, Adresse und Telefonnummer angeben und pro Person gab es ein Blatt.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das Volk hier im „Dorf“ und überall, wo sie eher arm sind, einfach nur hinuntergedrückt und fast apathisch. Sie hatten keine Hoffnung. Das änderte sich aber dann schlagartig. Auf der Strasse wurden sogar wieder Spässchen ausgetauscht.

Es gab ja, wie ihr alle wisst, religiöse Zwischenfälle. Man hatte versucht das Volk so zu schwächen. Es wurde aber umso mehr zusammengekittet. Denn Kopten und Moslems leben friedlich neben- und miteinander. Hier in der Nähe sind eine Kirche und ein Frauenkloster.

Dann kam der 30.6.2013, jeder der unterschrieben hatte, versprach, auf die Strasse zu gehen. Die Menschen wurden während der Unterschriftensammlung auch politisch etwas aufgeklärt. Viele Oppositionsparteien halfen mit, so auch mein Freund Faris, der Schneider, der hier um die Ecke wohnt.

So ist das Volk also einen grossen Schritt weiter gekommen in Sachen politisches Verständnis. Sie waren ja ihr Leben lang von irgendwem unterdrückt worden – ausser die alten Männer, die noch von Nasser (Anm.: Gamal Abdel Nasser, von 1952 bis 1954 Ministerpräsident Ägyptens, von 1954 bis 1970 Staatspräsident) schwärmen: Da ging es uns gut und wenn einer seinen Esel schlug, wurde er verhaftet…

Am 30. Juni dann die Riesendemo, friedlich, ohne Zwischenfall, gesichert von tausenden von jungen Freiwilligen und super organisiert. Auf der Gegenseite die Pro-Mursi Demo. Dort tönte es wie zu Hitlers Zeiten – schrecklich! Wenn du einen von diesen Führern siehst, kannst nachher nicht schlafen und hast Alpträume.

Aber Mursi lehnte ab, er sei der Präsident und bleibe vier Jahre auf dem Stuhl. Er verdrehte alles: Es sei eine Konspiration von Mubarak, ein Verrat der Revolution etc. (wobei Mursi vielleicht gar nicht so ein schlechter Mensch ist, aber man hatte ja 500 Millionen aufgeworfen um ihn an die Spitze zu bringen, da muss er parieren).

Das Militär und der General Sissi hatten sich immer aus der Politik herausgehalten. Er hat seine Truppen trainiert. Als die Lage sich verschlimmerte, trat er im Fernsehen auf. Ich war zufällig bei meinem Freund Faris. Er sagte, die Lage zwingt Sissi, seine Taktik zu ändern. Sissi könne nicht zusehen, wie das Volk in einen dunklen Tunnel rast und ins Chaos. Sissi sagt: „Ich liebe das ägyptische Volk und lasse es nicht zu, dass es verängstigt oder terrorisiert wird. Wenn das passiert, werde ich eingreifen. Die Regierung hat eine Frist von 48 Stunden, um den Willen des Volkes zu erfüllen, andernfalls werde ich einen Routenplan aufstellen und diesen überwachen, damit alles gut läuft. Er betont immer wieder, dass er nicht an die Macht will; aber er will sicher sein, dass der Weg zur Demokratie führt.

Jubel von den Demonstranten, Helikopter flogen über die Stadt mit dem ägyptischen Banner, wunderbar! In derselben Nacht gab es Tote. Die Islamisten riefen zum Jihad auf, das heisst, sein Leben opfern, das heisst Blut!

Der Präsident sagte, er akzeptiert das nicht, dass die Armee sich über ihn stellt, er sei der Präsident.

bis jetzt, aber…

Soeben ist der Präsident abgesetzt! – Der Alptraum ist vorbei!

Ob das allerdings nun das Ende ist, ist nicht sicher. Wie werden die Islamisten reagieren, die doch so lange schon an die Macht wollten? Viele von denen kamen direkt aus dem Knast, befreit von der Revolution vom 25. Januar 2011.

Ich muss euch verlassen, die Leute spinnen total. Feuerwerk und Gehupe – Freude herrscht.

Ich hoffe, die Armee bleibt aufmerksam so wie in den letzten Tagen, wo sie dauernd mit den Helis herumkurvten auf der Suche nach Heckenschützen auf den Dächern….

Ein hoch auf das ägyptische Volk, das Schulter an Schulter für die Freiheit kämpft!

Lieber Gruss aus Kairo