Am 23. Juni traten die Angestellten des CHUV (Universitätsspital in Lausanne) in den Streik. Dies war ein wichtiger erster Schritt für den gesamten Gesundheitssektor und für den Klassenkampf in der Schweiz. 

Seit Jahrzehnten wird das Gesundheitswesen mit Sparmassnahmen und Privatisierungen ausgehöhlt und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verschlechtert. Die COVID-Krise treibt das Gesundheitspersonal weiter an ihre Grenzen – ohne das ein Kurswechsel in Sicht ist: Der Sparkurs, also chronischer Personalmangel und tiefe Lohnkosten, gehört zur Standardstrategie der Spitäler und Pflegeheime. Die zunehmend unhaltbaren Zustände führen aber auch zu enormer Wut der Angestellten. Und wenn es etwas Positives in dieser COVID-Krise gab, dann, dass das Gesundheitspersonal in die Öffentlichkeit gerückt wurde und durch ihre Rolle als Pandemie-Frontliner enorm an Selbstvertrauen gewonnen hat. Die politischen Perspektiven sind daher nicht jene von Passivität, sondern zunehmenden Kämpfen in diesem Sektor. Die ArbeiterInnen des CHUV machen einen ersten wichtigen Schritt. Sie haben nach jahrelangen Mobilisierungen die Schlussfolgerung gezogen, dass nur durch den Streik etwas zu holen ist. 

Der Streik war notwendig

Seit Jahren kämpft das Gesundheitspersonal am Lausanner Unispital CHUV für bessere Arbeitsbedingungen – ohne Erfolg. Seit Ausbruch der Pandemie und dem «Ausnahmezustand» im Spital intensivierte sich dieser Kampf. Die Spitalleitung verlangte den circa 12’000 Angestellten immer mehr ab: Ferienkürzungen, Überstunden, schnelle Abteilungswechsel, permanente Bereitschaft. Und das bei einer Abwesensheitsrate von bis zu 30% auf den Abteilungen. Dazu kommen die Gefahr, dem Virus ausgesetzt zu sein, und die Quarantäne- und Maskenskandale. Kein Wunder, wurden die Forderungen des CHUV-Personals nach mehr Angestellten, mehr Lohn und einer COVID-Prämie für die ausserordentlichen Leistungen im letzten Jahr zunehmend lauter. Bisher stiessen alle Mobilisierungen, auch die grosse Demonstration in Lausanne im letzten Oktober, bei Kanton und Spitalleitung auf taube Ohren. 

Eine Hebamme des CHUV erzählte, wie von der Spitalleitung während der Pandemie grosse Versprechen gemacht wurden – schlussendlich wurden lediglich mickrige 900 Franken COVID-Prämie ausbezahlt und das nur an 15% der Angestellten. Die für das CHUV zuständige kantonale Gesundheitsdirektorin Rebecca Ruiz (SP) sagte dreist, die Prämie sei grosszügig und alle der Pandemie Ausgesetzten hätten diese erhalten. Den akuten Personalmangel und das allgemeine Lohnniveau wurden ignoriert. Statt zu besänftigen, vergrösserte dies die Wut: Ein solch zynisches «Dankeschön» ist ein Schlag ins Gesicht des abgekämpften Personals. Ein Teil des CHUV-Personals hat die richtige Schlussfolgerung gezogen, dass es härtere Kampfmassnahmen braucht, um ihre Forderungen durchzusetzen. An der Vollversammlung Ende Mai beschlossen die circa 150 anwesenden Angestellten einen Streiktag am 23. Juni.

Repression der Spitalleitung

Auf den Streikbeschluss reagierte die Spitalleitung mit starker Repression gegenüber den Angestellten. Vielen wurde mit Konsequenzen gedroht, wenn sie am Streik teilnehmen würden. Die Streikbereiten mussten sich 48 Stunden vor Streikbeginn offiziell bei der Spitalleitung anmelden. Am Vorabend des Streiks wurde eine Liste mit den Namen der Angestellten publiziert, die streiken «durften» und solchen, die bei einer Arbeitsniederlegung entlassen würden. Legitimiert wurde diese Liste durch den sogenannten «Minimal-Service», der auch im Streikfall das Wohl der PatientInnen garantieren soll. Nicht nur ist dieses Mannöver ein offensichtlicher Versuch, die Zahl der Streikenden zu minimieren. Der implizierte Vorwurf, die streikenden Gesundheitsangestellten würden das Wohl der PatientInnen missachten, zeugt von der skrupellosen und zynischen Strategie der Spitalleitung. Als hätte die Spitalleitung mit ihrem Kostenargument und der chronischen Unterbesetzung nicht bereits bewiesen, dass sie nach dem Prinzip «Profit vor Patientenwohl» handelt! Und als wäre die Forderung nach mehr Personal der Streikenden nicht der absolute Beweis, dass diese insbesondere das Wohl der Patienten im Blick haben! Hier muss klar sein: Es geht um knallharte Klasseninteressen. Die Spitalleitung nutzt das hohe Verantwortungsgefühl des Gesundheitspersonals aus, um die Angestellten entlang dieser moralischen Frage zu spalten und den Streik zu schwächen. 

Die Repression und Verleumdungen zeigten Wirkung: Obwohl alle CHUV-Angestellten, mit denen wir gesprochen haben, sowohl die Forderungen als auch den Streik unterstützten, haben nur zwischen 50-100 der rund 12’000 Angestellten wirklich gestreikt. Viele Angestellte hatten Angst vor Repression und PflegerInnen aus der geriatrischen Reha-Abteilung erklärten, dass viele Schuldgefühle hätten, weil sie dann ihre «PatientInnen im Stich lassen». Die Streikenden haben allerdings verstanden, dass der geforderte Personalausbau den PatientInnen ebenso dient wie dem Personal, aber erkämpft werden muss. Eine Pflegefachfrau der Inneren Medizin drückte es so aus: «Die Leitung spricht vom Minimal-Service, der gewährleistet sein muss, dabei arbeiten wir das ganze Jahr durch auf dem tiefen Niveau des Minimal-Service. Genau darum streiken wir.»

Die Lehren aus dem Streik 

Trotz der noch geringen Grösse ist diese erste Streikerfahrung insbesondere für das Schweizer Gesundheitswesen wegweisend. Wir müssen heute die ersten Schlussfolgerungen und Lektionen aus diesem Kampf ziehen. 

  1. Streiken ist nötig! Kein Vertrauen in die Regierung und Spitalleitung! Es hat sich am CHUV gezeigt, dass es nicht reicht, die verantwortlichen Stellen auf die prekären Zustände und Forderungen der Angestellten aufmerksam zu machen. Sowohl Regierung als auch Spitalleitung verneigen sich vor der Profitlogik und dem Kostendruck im Gesundheitswesen. Der Streik ist das elementare Kampfmittel, dass die ArbeiterInnen als Klasse besitzen. Indem sie kollektiv die Arbeit verweigern, schneiden sie direkt in die Profite der Bosse ein. Auch im staatlichen Sektor ist das effektiv: Ein Streik untergräbt die Wettbewerbsfähigkeit mit Privaten und setzt den öffentlichen Leistungsauftrag aus.
  2. Streiken ist möglich! Das ist entscheidend, um gegen zwei Mythen anzukommen. Zum einen, dass die Schweiz ein Sonderfall im Klassenkampf darstelle und hier streiken unmöglich sei. Im Vergleich zu Frankreich oder Italien sind die Streiktraditionen hierzulande gering. Dies ist aber nichts in Stein Gemeisseltes. Es sind verlernte Kampftraditionen, die es wieder zu erlernen gilt. Deshalb die Wichtigkeit dieser Streikerfahrung, die ein erster Schritt markiert in diesem Lernprozess der Klasse. Der zweite Mythos besagt, dass im Gesundheitswesen nicht gestreikt werden kann. Trotz der Hürden (in erster Linie die Verantwortung gegenüber den PatientInnen) oder gerade deshalb ist der CHUV-Streik so wichtig: Neben internationalen Beispielen (von Minimal-Service, über fliegenden Streikposten zu Administrationsstreiks etc.) beweist er, dass ein Streik möglich ist, ohne das Patientenwohl zu gefährden.
  3. Ein Streik braucht Vorbereitung und kämpferische Gewerkschaften! Es hat sich am CHUV gezeigt, dass ein Streik nicht improvisiert werden kann. Der VPOD Lausanne hatte bereits eine Kerngruppe des CHUV-Personals organisiert. An mehrere Vollversammlungen diskutierten und beschlossen die Angestellten Forderungen und Kampfmethoden. Entscheidend dabei war, dass die Gewerkschaft aktiv die Spitalangestellten organisierte und eine offensive Strategie verfolgte und vor Kampfmitteln wie dem Streik nicht zurückschreckt. Die Gewerkschaften sind in ihrer Tradition nach die elementaren Kampforganisationen der Arbeiterklasse. Der CHUV-Streik muss als Positivbeispiel dienen, um diese Kampftraditionen in den Gewerkschaften wieder zu beleben.
  4. Von den militantesten Angestellten ausgehen! Kämpferische Gewerkschaften alleine genügen nicht – die Verankerung des Streiks ist entscheidend. Streik ist ein kollektives Kampfmittel und je mehr Abteilungen streiken, desto effektiver ist dieses Mittel. Die Überzeugungsarbeit, der tatsächliche Aufbau und die Koordination von Streikkomiteen kann nur von den Angestellten selbst – ausgehend von den militantesten Angestellten, die den Streik beschlossen haben – durchgeführt werden. Kurz: Die Organisierung von Kerngruppen in jeder Abteilung, die dann ihre KollegInnen auf der Station überzeugen, ist eine entscheidende Vorarbeit für den Streik.
  5. Die Kontrolle über den Streik gewinnen und Spaltungen überwinden! Die Organisierung eines Streiks ist nicht einfach eine organisatorische, es ist eine politische Aufgabe: Das Bewusstsein für den gemeinsamen Kampf muss gehoben, Ängste und Spaltungen zwischen Berufsgruppen und Abteilungen müssen überwunden werden. Entscheidend dabei ist, dass gemeinsame Forderungen aufgestellt werden. Dabei muss die Klassensolidarität im Zentrum stehen – ganz nach dem elementaren Motto der Arbeiterbewegung «ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle». Nur so kann gegen die Repression und Spaltungsversuche der Spitalleitung Schlagkraft aufgebaut werden. Das gilt auch in Bezug auf den Minimal-Service, der während des Streiks sichergestellt werden muss. Definiert dies die Spitalleitung, benutzt sie die Frage, um den Streik zu untergraben. Sie diktiert somit dem Streikenden, wie sie zu kämpfen haben. Ziel muss es deshalb sein, dass das streikende Gesundheitspersonal selbst entscheidet, wie der Minimal-Service definiert und organisiert wird. Das wissen sie als Fachpersonen sowieso am besten. Aber ob das Personal die Kontrolle über ihren eigenen Kampf erringen kann, ist wieder eine Frage des Organisationsgrades und damit der Vorbereitung und Überzeugungsarbeit auf den Abteilungen. 

Wie weiter nach dem Streik?

Der Streiktag am 23. Juni hat bereits einen ersten Sieg erreicht: Nach monatelanger Weigerung, bot die Waadtländer Gesundheitsdirektorin Rebecca Ruiz am Vorabend des Streiks ein Verhandlungsgespräch in der darauffolgenden Woche an – wahrscheinlich in der Hoffnung den Streik noch abzuwenden. Auch wenn dies ein erster Erfolg darstellt, wäre es illusorisch zu glauben, dass die Kantonsregierung so schnell einknicken wird. Das zeigen nicht nur die letzten Monate. Rebecca Ruiz (SP) gab ein Interview am Streiktag das an Arroganz kaum zu übertreffen war: Die Gesprächsbereitschaft hätte nichts mit dem Streik zu tun. Und zur Frage der Legitimation der Forderungen der Streikenden: Sie verstehe die Müdigkeit des Personals, aber wir seien alle müde.

Nur Forderungen wie der substantielle Personalausbau und die Verbesserung der Lohn- Arbeitsbedingungen werden die akute Krisensituation am CHUV wirklich verbessern. Gegen solche Investitionen stellt sich der Kanton allerdings mit allen Mitteln. Im Gegenteil war es bis anhin Praxis, den Kostendruck über die Senkung der Personalkosten auszutragen, die in einem Spital etwa 70 % des Gesamtaufwandes ausmachen. Im direkten Konflikt zeigt sich immer klarer, dass sich das CHUV-Personal und die Kantonsregierung unversöhnlich gegenüberstehen. Verhandlungen oder gar Zugeständnisse entsprechen nur einem temporären Waffenstillstand. Schlussendlich können die Forderungen des CHUV-Personals nur im härtesten Kampf gegen die Kantonsregieriegrung und die Spitalleitung durchgesetzt werden. Der Streiktag am 23. Juni war erst ein Anfang. Nun müssen weitere Vollversammlungen organisiert, Kerngruppen in allen Abteilungen aufgebaut und so die Vorarbeit für einen Streik des gesamten CHUV-Personals geleistet werden. Schlussendlich muss sich das CHUV-Personal längerfristig organisieren, um heute nicht nur Verbesserungen zu erkämpfen, sondern sie morgen auch verteidigen zu können.

Kämpfen wie in Lausanne

Der CHUV-Streik markiert einen erster Meilenstein im Klassenkampf im Schweizer Gesundheitswesen. An den Schweizer Spitälern und Pflegeeinrichtungen herrschen ähnlich prekäre Bedingungen und es stellen sich somit auch ähnliche Aufgaben. Ein kleiner Beweis dafür war die Solidaritätskampagne zum CHUV-Streik, welche die Funke-Strömung in der Deutschschweiz und Romandie durchführte und welche auf breite Unterstützung bei den PflegerInnen in Ausbildung stiess. Es zeigt sich auch an der nationalen Pflegeinitiative, welche in die selbe Kerbe schlägt wie die Forderungen des CHUV-Personals: Bessere Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung des Pflegeschlüssels. Auch das nationale Parlament und der Ständerat haben mit ihrer Ablehnung der Initiative bereits Farbe bekannt. Sowohl in Lausanne als auch schweizweit zeigt sich: Diese Forderungen können nur im härtesten Klassenkampf gegen die bürgerlichen Parlamente und Regierungen durchgesetzt werden. 

Die Abstimmung dazu am 28. November bereitet das Terrain vor für einen heissen Herbst im Gesundheitswesen. Der Abstimmungskampf bietet die Grundlage, um das Gesundheitspersonal rund um die Forderungen der Initiative zu organisieren, die gewerkschaftliche Verankerung voranzutreiben und auf einen Generalstreik zur tatsächlichen Durchsetzung der Initiative hinzuarbeiten. Die Streikerfahrung in Lausanne weist dem Rest der Schweiz den Weg: Die hier gezogenen Lehren müssen verbreitet und in die kommenden Kämpfe getragen werden.