Die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare durch die «Ehe für alle» ist ein Fortschritt. Doch Homophobie ist tief in der Gesellschaft verankert. Der Kampf für die Befreiung der LGBT ist der revolutionäre Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.

Die diesjährige Pride steht ganz im Zeichen der Volksabstimmung zur «Ehe für alle» (26.9.). Die rechtliche Gleichstellung homo- und bisexueller Paare in der Schweiz ist damit greifbar nahe. Das ist ein wichtiger Fortschritt und wir rufen alle Stimmberechtigten auf, «Ja» zu stimmen. 

Aber Homophobie und Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung werden auch noch bestehen bleiben, wenn LGBT-Paare rechtlich eine Familie gründen dürfen. Dass bei vielen LGBT-Paaren ihre finanzielle Lage eine Familiengründung nicht zulässt, weil sie auch weiter auf dem Job- und Wohnungsmarkt diskriminiert werden, steht bei der Abstimmung gar nicht zur Diskussion. Wir zeigen auf, wie Klassengesellschaft und Homophobie zusammenhängen und wie wir das Problem an der Wurzel packen.

Reaktionäre Vorurteile

Angeführt wird das Gegenkomitee zur Ehe für alle von einer Dreifaltigkeit aus EDU, SVP und Mitte (ehemals CVP + BDP). Es verwundert nicht, dass fundamentalistische Christen eine tragende Rolle spielen. Die christliche Kirche hat über hunderte von Jahren eine konservative Sexualmoral, patriarchale Verhältnisse und Homophobie gelehrt. Viele Menschen sind nicht mehr sonderlich religiös, aber die reaktionären Vorurteile, dass LGBT irgendwie pervers, abartig oder sündig seien, sind geblieben. Dieser ganze Satz an rückschrittlichen Ideen und Empfindungen wird nun von den reaktionärsten Vertretern des Bürgertums gegen die LGBT-Bewegung mobilisiert.

LGBT werden diskriminiert, weil sie auf unterschiedliche Weise aus dem steifen Korsett der traditionellen Geschlechterrollen herausfallen. Das sind Vorstellungen, wie «echte» Männer und Frauen sind – genau das, was LGBT im Allgemeinen abgesprochen wird. Diese Geschlechterrollen haben einen Zweck: Frauen zu schaffen, die unterwürfig, anspruchslos und sexuell gefügig sind. Das Ergebnis dieser Geschlechternormen: Frauen arbeiten mehr, erhalten weniger Lohn, sind der Doppelbelastung aus Lohn- und Hausarbeit ausgesetzt und sind oft betroffen von sexueller Gewalt. In der bürgerlichen Gesellschaft werden die Menschen darauf getrimmt, diese Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit zu verinnerlichen und sich den entsprechenden Regeln zu unterwerfen. Das schürt Verachtung gegenüber jenen, die abweichen. Weil Homo-, Bi- oder Transphobie Ergebnis patriarchaler Familien- und Geschlechterverhältnisse sind, hängt die Befreiung der LGBT aufs engste mit der Befreiung der Frau zusammen. Und diese wiederum erfordert den Sturz des Kapitalismus.

Wem nützt Homophobie?

Die Unterdrückung der Frau entstand mit den ersten Klassengesellschaften und kann nur durch die Überwindung der Klassen aufgehoben werden. Letztlich ist die Grundlage aller sozialen Konflikte und Gegensätze die materielle Knappheit. Eine Gesellschaft, die einen guten Job, eine Wohnung, Gesundheit und Bildung für alle bereitstellen kann, wird nicht mit Hass und Diskriminierung «andere» dafür verantwortlich machen müssen, dass es nicht genug für alle hat. Im entwickelten Kapitalismus ist diese Knappheit aber künstlich. Heute könnte problemlos genügend für ein gutes Leben für alle Menschen hergestellt werden. 

Doch in der kapitalistischen Klassengesellschaft eignen sich ein paar wenige Kapitalisten den Grossteil des gesellschaftlichen Reichtums an, während sich die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung um den Zugang zur oft nur elementarsten Versorgung streiten soll. Diesen Streit befeuern die Kapitalisten, indem sie diskriminierende Haltungen wie Sexismus, Rassismus und Homophobie nützen und schüren, um verschiedene Teile der Arbeiterklasse und der Unterdrückten gegeneinander auszuspielen und so ihre Herrschaft zu sichern.

Deswegen fordern wir MarxistInnen die Enteignung der Kapitalisten, der Banken und der Grosskonzerne, damit wir den Reichtum der Gesellschaft im Interesse der Mehrheit nützen können. Wenn jeder und jede eine gesicherte Lebensgrundlage, garantierten Wohnraum etc. haben kann, fördert das die Unabhängigkeit und vermindert zum Beispiel häusliche Gewalt, wovon insbesondere auch LGBT profitieren. Nur durch den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft können wir die materiellen Wurzeln der Spaltungen und der damit verbundenen diskriminierenden Haltungen überwinden. Der Kampf gegen jede Unterdrückung ist folglich ein Kampf für bessere materielle Lebensbedingungen, der auf die sozialistische Revolution abzielen muss. 

Im Gegensatz zur herrschenden Klasse zieht die Arbeiterklasse keinerlei Vorteile aus der Spaltung der Klasse in verschiedene Gruppen. Ein weisser, heterosexueller Arbeiter erfährt zweifellos weniger Unterdrückung, aber die Unterdrückung anderer – wie LGBT – verschafft ihm keine bessere Stellung. Im Gegenteil: Die zusätzliche Unterdrückung gewisser Schichten der Arbeiterklasse ist ein Mittel, den Druck auf die Lebensbedingungen aller Ausgebeuteten zu erhöhen und schwächt damit die Stellung jedeR einzelnen ArbeiterIn. Davon profitiert letztlich nur die herrschende Klasse. Deswegen muss sich unser Kampf für die Befreiung der LGBT auf die Methoden des vereinten Klassenkampfes gegen die Kapitalistenklasse stützen. Für die sozialistische Revolution brauchen wir die Einheit der gesamten Arbeiterklasse unabhängig von Geschlecht, Identität oder Sexualität.

Russische Revolution und sexuelle Befreiung

Die marxistische Tradition nach Marx, Engels, Lenin und Trotzki war immer an der vordersten Front, wenn es um den Kampf für die Rechte unterdrückter Minderheiten und die Etablierung befreiter, fortschrittlicher sozialer Verhältnisse ging. So hatte die Russische Revolution auf einen Schlag das alte zaristische Gesetz mitsamt seiner homophoben (aber auch frauenverachtenden, antisemitischen, rassistischen) Paragrafen aufgehoben. Ihr Bekenntnis zur rechtlichen Gleichstellung aller ArbeiterInnen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie und Sexualität, bezeugten die Bolschewiki erneut mit dem Strafgesetzbuch von 1922, das Homosexualität ebenfalls entkriminalisierte. 

Die Sowjetunion förderte auch die Rechte der Frau und führte beispielsweise das Stimmrecht und das Recht auf Abtreibung und Scheidung ein. Zum Vergleich: Die Schweiz entkriminalisierte Homosexualität im Jahr 1942, aber nur für Erwachsene ab 20 Jahren. Das Frauenstimmrecht führte die Schweiz erst 1971 ein (und auf kantonaler Ebene in Appenzell Innerrhoden erst 1991). Dass für eine Scheidung die gegenseitige Einwilligung genügt, ist sogar erst seit dem Jahr 2000 der Fall. Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert – und Wochen in denen ganze Jahrzehnte geschehen, sagte Engels einst. So eine Zeit war die Russische Revolution! Die sozialistische Revolution schaffte in einem rückständigen Land innert kürzester Zeit, was die bürgerliche Gesellschaft in Jahrzehnten nicht erreichte. Wer braucht noch einen besseren Beweis für die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution für die Befreiung aller Unterdrückten?

Erst als der Stalinismus die politischen Rechte der ArbeiterInnen mitsamt der alten Garde der Bolschewiki und dem Geist der Revolution beerdigte, wurde Homosexualität wieder kriminalisiert und die traditionelle heterosexuelle Familie als Pfeiler der Gesellschaft auch in der Sowjetunion wieder etabliert.

Klassenkampf und LGBT-Befreiung: eine Ehe fürs Leben

Wir KommunistInnen knüpfen an die besten Traditionen der LGBT-Bewegung an. Die erste Pride Parade, auch bekannt als Christopher Street Day, fand 1970 in New York statt, um den Stonewall Riots zu gedenken. Die Stonewall Riots waren eine Reihe von Protesten rund um die Razzia einer Schwulenbar an der Christopher Street, bekannt als Stonewall. Solche Razzien, also unangekündigte polizeiliche Masseninhaftierungen, waren in Schwulenbars damals üblich. Der Christopher Street Day sollte von da an ein Tag sein, an dem LGBT sich offen zu ihrer Lebensweise bekannten und sich gegen Vorstellungen stellten, dass sie krank, unmoralisch oder abnormal wären. Es war eine Demo grösstenteils linker schwuler bzw. lesbischer Männer und Frauen, viele davon ArbeiterInnen, gegen die Polizei, die konservative Rechte und die Kirche.
Die Schwulenbewegung entwickelte sich während einer Phase des Aufschwungs des Klassenkampfs. Gruppen wie die Gay Liberation Front in den USA und in Grossbritannien, die «Homosexuelle revolutionäre Aktionsfront» in Frankreich und Belgien oder die Fronte Unitario Omosessuale Rivoluzionario Italiano (FUORI – «Raus») wurden gegründet. Sie vertraten ein antikapitalistisches, anti-imperialistisches Programm. Die sozialistische Revolution versuchten sie mit einer sexuellen Revolution zu ergänzen. In der Schweiz gründeten sich die Homosexuellen Arbeitsgruppen (wie die HABS in Basel oder die HAZ in Zürich), die zwar kein Programm jenseits des Engagements für Schwulenrechte vertrat, jedoch auch links tickten.
Als die Minenarbeiter 1984-85 in Grossbritannien gegen die Thatcher-Regierung streikten, gründete der Kommunist Mark Ashton die Organisation «Lesbians and Gays support the Miners», um die Streikkassen mit über 22’000 Pfund (heute etwa das dreifache) zu füllen. Wir empfehlen dazu den wunderschönen Film «Pride» (2014). Die Minenarbeiter sandten im Gegenzug eine Delegation an den Christopher Street Day 1985 in London und wurden zu den entschiedensten Verbündeten der LGBT-Bewegung. Das zeigt klar: die Methode des vereinten Klassenkampfs ist der entscheidende Weg, um auch konservative und homophobe ArbeiterInnen zu überzeugen, dass Homophobie sinnlos und schädlich ist. Beide Gruppen konnten wechselseitig Vorurteile abbauen. Die Einheit von LGBT- und Arbeiterbewegung stärkte sowohl die Position der Arbeiterbewegung wie jene der LGBT. Das zeigt uns den Weg vorwärts.

Nicht unsere Tradition

Doch die Homophobie des Stalinismus und der Konservatismus der reformistischen Sozialdemokratie trieben in Europa letztlich einen Keil zwischen die LGBT- und die Arbeiterbewegung. Die bis heute präsente Homophobie in der Arbeiterbewegung und die fehlende revolutionäre Perspektive trieb die LGBT-Bewegung von der Arbeiterbewegung weg, was sowohl die Arbeiterbewegung wie die LGBT-Bewegung zurückwarf. 

Der Klassenkampf, der seit den späten 1960er Jahren einen weltweiten Aufschwung kannte, ebbte spätestens mit der Niederlage des Streiks der Minenarbeiter ab. Die Periode der Ebbe des Klassenkampfes und die Abkehr von der Arbeiterklasse öffneten der LGBT-Bewegung Tür und Tor für desillusionierte kleinbürgerliche Schichten und deren Ideologie. Das Kleinbürgertum ist im Unterschied zur Arbeiterklasse nur indirekt den Angriffen der Kapitalisten ausgesetzt und tendiert dazu, gesellschaftliche Fragen losgelöst vom Klassenkampf zu betrachten. Revolutionäre und sozialistische Ideen wurden zurückgedrängt. Stattdessen hielten die idealistischen Theorien des Postmodernismus Einzug, die kleine, lokale, temporäre Macht- und «Diskursverschiebungen», statt grosse Revolutionen versprach. Die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution durch die Arbeiterbewegung wird von postmodernen Intellektuellen wie Lyotard, Foucault, Derrida oder Butler abgelehnt. 

Postmoderne Ideen wie die Queer Theorie erklären den LGBT, dass nur sie selbst ihre Unterdrückung verstehen würden und dass heterosexuelle weisse Männer, auch wenn sie Arbeiter seien, privilegiert und damit ihre Gegner wären, wie wir besonders bei Judith Butler und ihren AnhängerInnen sehen. Diese Ideen spalten die Arbeiterklasse und stärken damit die Herrschaft des Kapitals. Statt die Arbeiterbewegung und die LGBT-Bewegung in einem revolutionären Kampf für eine sozialistische Gesellschaft zu vereinen, zerstören diese Ideen die Klassensolidarität und behindern damit den Kampf aller Unterdrückten und Ausgebeuteten gegen ihre Unterdrückung.

Mit der Abkehr vom Klassenkampf und seinen revolutionären Methoden musste der Befreiungskampf notwendigerweise auf eine Frage der Kultur und der Ideen reduziert werden. Damit einher gehen die Versuche, die Ziele der Bewegung auf kleine Zugeständnisse zu beschränken, die vereinbar sind mit dem übrigen ausbeuterischen Funktionieren des Kapitalismus. Das öffnet die LGBT-Bewegung für Verteidiger des Kapitalismus. Doch genau der Kapitalismus vergiftet die menschlichen Verhältnisse und sorgt für Spaltung, Hass und Diskriminierung. 

So kommt es, dass heute auch schwule PolizistInnen und SVP-ler an der Pride Parade  mitmarschieren, während gleichzeitig die Schweiz Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht als Asylgrund anerkennt. Ein Staat, in dem Homosexualität unter Strafe steht, ist beispielsweise Saudi Arabien, mit dem Credit Suisse und UBS Geschäfte machen – zwei der wichtigsten Financiers der hiesigen Pride Parade. Die Regenbogenflagge wird so zu einer zynischen PR-Angelegenheit degradiert. Mit dieser Tradition müssen wir brechen und die besten, sozialistischen Traditionen der LGBT-Bewegung fortführen!

Sag «Ja» – zur Revolution!

Am 26. September stimmen wir über die Ehe für alle ab. Als MarxistInnen verteidigen wir selbstverständlich das Recht auf Ehe für alle. Aber wir haben aufgezeigt, dass wirkliche Befreiung der LGBT eine Veränderung der materiellen Basis der Gesellschaft erfordert. Deswegen führen wir den Kampf für jegliche Gleichstellung und gegen jegliche Unterdrückung mit den Methoden des revolutionären Klassenkampfes. Wenn das dazu führt, dass bürgerliche LGBT, die sich nur für rechtliche Gleichstellung interessieren, sich dann aus der Bewegung verabschieden, soll uns das nur recht sein.

Die LGBT-Bewegung kann nur gewinnen, wenn sie sich auf die Methoden des Klassenkampfes stützt und den Kampf für rechtliche Gleichstellung und gegen Homophobie mit dem allgemeinen Kampf für bessere Lebensbedingungen ohne Ausbeutung verbindet. Und die Arbeiterbewegung kann nur gewinnen, wenn sie den Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung zu ihrem Kampf gegen den Kapitalismus macht. Das erfordert ein revolutionäres sozialistisches Programm. 

Nur eine vereinte Arbeiterklasse hat die Macht, diese ausbeuterische und unterdrückerische Klassengesellschaft zu verändern. Ohne Hunger, Mangel und Ausbeutung verschwindet die Grundlage von Hass, Eifersucht und Diskriminierung. Kämpfen wir für eine sozialistische Revolution, die Schluss macht mit all den alten Mustern der Diskriminierung und Unterdrückung!

Frank Fritschi,
Marxist Society Uni Basel

Beat Schenk,
Unia Thurgau

26.08.2021