Das Tessin schloss Baustellen und Industrien. Damit wurde die Verfassung gebrochen. Der Tessiner Staatsrat hielt dem Druck des Bundesrats stand und blieb in der Illegalität, bis der Bundesrat einlenken musste. Erklärungen über eine Verfassungskrise.


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Zwischen dem Bundesrat und der Tessiner Regierung entbrannte während der Coronakrise ein offener Konflikt. Dieser wurde zwischenzeitlich beigelegt. Doch er könnte wieder aufflammen. In solchen Krisensituationen müssen wir Klartext sprechen:  Auch der föderalistische Staat bleibt ein Klassenstaat. Keine lokale oder nationale Bourgeoisie ist irgendwie “fortschrittlicher”. 

Die Tessiner Kapitalisten sind genauso rücksichtslos wie die Deutschschweizer. Die gesundheitliche Krise zwang die Tessiner Regierung, die Wut und die potentielle Kraft der Arbeiterklasse als Druckmittel gegen den Bundesrat auszunutzen. Ihr Ziel war jedoch ausschliesslich, ihre eigene Haut zu retten.  Wir müssen aufzeigen, welche Macht unsere Klasse hätte, würde sie dieses Potential unabhängig und für ihre eigenen Interessen einsetzen!

Die Lombardei als Alptraum

Im März galt für das Tessin das norditalienische Szenario: ein potentieller Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Der Druck in der Bevölkerung für effektive Massnahmen, wie die Schliessung von Schulen und Teilen der Wirtschaft, nahm zu. Doch die Regierung zauderte. Gewisse Ärzte unterstützten den Unmut der Bevölkerung und setzten die Regierung öffentlich unter Druck. 

Die Kombination von hohen Ansteckungszahlen und dem Druck der Bevölkerung zwang die Kantonsregierung weiter zu gehen, als vom Bundesrat vorgesehen. Um den Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden, war der Staatsrat gezwungen, kostspieligen Massnahmen zu ergreifen. Er verordnete die Schliessung von Fabriken und Baustellen. Dies führte in der Deutschschweiz zu einer Panikreaktion. Solche Einschnitte in den freien Fluss der Profite durften um keinen Preis die Alpen überqueren! 

Panik in der Deutschschweiz

Der föderalistische Schweizer Bundesstaat hatte die Aufgabe, dies zu verhindern. Seine Exekutive, der Bundesrat, hat die Aufgabe, die Gesamtinteressen der Bourgeoise zu verteidigen. Doch im Gegensatz zu seinem Pendant in Bellinzona spürte der Bundesrat weniger den heissen Atem der Tessiner Arbeiterklasse, dafür umso mehr den Mundgeruch der Deutschschweizer Unternehmer! 

Auch die Tessiner Exekutive spielt nach den bürgerlichen Regeln. Ihr Ziel war es nicht, die Arbeiterklasse vor der Rücksichtslosigkeit der kapitalistischen Ausbeutung zu bewahren. Sie verfolge ihre eigenen Interessen. Deshalb spielte sie den Tessiner Kantönligeist hoch und appellierte an den klassenübergreifenden Zusammenhalt der Tessiner Bevölkerung. Deshalb wurde die Einzigartigkeit der Tessiner Situation hervorgehoben, welche für andere Kantone nicht gelte. Das, obwohl die Fallzahlen zum Beispiel im Waadtland ähnlich hoch waren und die Massnahmen überall die Ansteckungsrate gesenkt hätten.

So zeigte sich der reaktionäre Charakter der Politik des Staatsrats und des Föderalismus. Die Tessiner Regierung trug damit dazu bei, die Ausweitung von effizienten Massnahmen auf die Deutschschweiz zu verhindern. Nur unter dieser Bedingung war der Bundesrat  bereit, die Schliessung gewisser Industrie- und Baubetrieben im Tessin zu akzeptieren. Mit einer improvisierten Lex Ticino und strikten Bedingungen wurde verhindert, dass andere Kantone von der gleichen juristischen Basis profitieren konnten. Das ad hoc Gesetz garantierte den Tessiner Kapitalisten rückwirkend Millionen an Kurzarbeitsgeldern aus den Töpfen des Bundes. Ein kleiner Preis für die Offenhaltung von Bau und Industrie ennet des Gotthards. 

Den Zweck des Föderalismus kennen

Marxisten haben keine Illusionen über den Föderalismus. Wir erkennen in ihm die spezifische Form der Machtausübung der Schweizer Bourgeoisie und ihrer Art, den Nationalstaat zusammenzuhalten. Jede Krise entblösst jedoch die Klassennatur hinter den Institutionen und damit den Bundesrat als konsequentester Vertreter der Schweizer Bourgeoisie als Ganzes. 

Die Coronakrise und die Ausflucht der Lex Ticino schafft einen Präzedenzfall. In den Augen der Tessiner Lohnabhängigen war es völlig legitim, die Verfassung zu brechen. In den Augen der Herrschenden ist das eine gefährliche Situation. 

Wenn die Herrschenden sich bei der Ausübung ihrer Herrschaft in die Haare geraten, ist das oftmals ein erstes Anzeichen tiefer liegender Spannungen im Regime. Die Aufgabe von Sozialisten ist es nicht, via Föderalismus bei der Aussöhnung dieser Konflikte mitzuhelfen. Unsere Aufgabe ist es, anhand solcher Risse aufzuzeigen, welche Interessen der Staat wirklich verteidigt. Wir müssen aufzeigen, dass die Lohnabhängigen sich nur auf sich selber verlassen können.

Die Lehren von Genf und die Lehren aus dem Tessin

In Genf war es die direkte Wut der Bauarbeiter, welche die vorübergehende Schliessung der Baustellen erzwang. Das entscheidende Element ist die gewerkschaftliche Tradition in diesem Sektor. Diese sorgt für ein Selbstbewusstsein, welches die Maurer nicht jeden Angriff auf ihre Gesundheit akzeptieren lässt. Nur deshalb kam es zum Baustellenstopp.

Die Massenorganisationen der ArbeiterInnen, die Gewerkschaften und die linken Parteien haben die Aufgabe, dieses Selbstverständnis schweizweit zu verbreiten. Die Lohnabhängigen brauchen Kampforganisationen als Instrument, um ihre Interessen durchzusetzen.  Die Arbeiterklasse hat mehr Macht als alle Sesselkleber im Bundeshaus und ihre Gesetze. Doch sie muss sich dieser Macht bewusst sein. Dafür müssen wir Revolutionäre sorgen! 

Caspar Oertli
der Funke Schweiz