Jahrzehnte rasanten Wachstums haben ihren Preis: die Widersprüche von Chinas Kapitalismus sind zum Bersten zugespitzt. Nicht zuletzt diejenigen zwischen den Klassen. ArbeiterInnen und Studis radikalisieren sich; der Staat antwortet mit Repression.

Das Werksgelände von JASIC ist durch Betonmauer und Elektrozaun geschützt. Das Unternehmen produziert Schweissgeräte. Es liegt in Shenzhen – einer südchinesischen Stadt, die in den letzten 40 Jahren durch Industrialisierung und Arbeitsmigration vom Land in die Stadt um das 200-fache gewachsen ist. Solche prekär beschäftigten ArbeitsmigrantInnen beginnen sich im Juni 2018 zu wehren gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in der JASIC-Fabrik: ausstehende miserable Löhne, Arbeitsunfälle, Gewalt vonseiten des Managements. Sie wollen sich gewerkschaftlich organisieren. Junge MarxistInnen reisen daraufhin von der Uni in Peking in die Fabrik, um die Arbeitenden zu unterstützen. Die Organisationsversuche werden für illegal erklärt. Der Staat reagiert mit Entführungen und Verhaftungen. Studierendengruppen von elf Universitäten sammeln gemeinsam mehrere Tausend Unterschriften für eine Petition zur Freilassung der JASIC-ArbeiterInnen. Sie organisieren Streikposten. Mehr als 40 Leute, davon die Hälfte Studis, sind noch bis heute in Haft, ohne Kontakt zur Aussenwelt. Ihre Verwandten werden von der Polizei unter Druck gesetzt, weder mit Medien noch mit Anwälten zu sprechen. Marxistische Studierendenvereine werden aufgelöst oder ihnen werden regierungstreue Mitglieder der Kommunistischen Partei China (KPCh) vorgesetzt. Studierende werden mit Videomaterial ihrer in Haft gefolterten Genossen eingeschüchtert.

Arbeitende und Studis radikalisieren sich und werden vom offiziell kommunistischen Staat niedergeschlagen: das wirft ein grelles Licht auf die Entwicklungen von Chinas Kapitalismus.

Wachstum … der Widersprüche

1978 entschied die KPCh, die chinesische Wirtschaft für ausländische Investitionen zu öffnen und Marktmechanismen einzuführen. China erlebt seither den vielleicht breitesten und schnellsten Aufschwung in der Geschichte des Kapitalismus. Heute ist China die zweitgrösste Volkswirtschaft und vollständig eingegliedert in den Weltmarkt.

Damit ging eine rasche Entwicklung der Produktivkräfte einher – und damit auch der «Hauptproduktivkraft», des «Menschen selbst» (Marx). Mit der Kapitalakkumulation vermehrte sich die chinesische Arbeiterklasse gewaltig. Die Urbanisierung ist Ausdruck davon: Seit Anfang der 80er Jahre sind die chinesischen Städte um 500 Millionen Menschen angewachsen. Heute hat China die grösste Arbeiterklasse der Welt.

Doch die Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb kapitalistischer Verhältnisse verläuft in Widersprüchen. Diese kulminieren in einer Überproduktion: Die Märkte sind überfüllt; die entwickelten Produktivkräfte werfen keine Profite mehr ab und liegen zum Teil brach. Das drückt sich in der Abkühlung des Wachstums seit 2010 aus: Das BIP-Wachstum und der jährliche Anstieg der Arbeitsproduktivität sanken beide von etwa zehn auf sieben Prozent.

Wo blieb die Krise?

Chinas Wirtschaft ist jedoch 2008/09 nicht eingebrochen wie im Rest der Welt. Im Gegenteil: Chinas Wachstum rettete den Weltkapitalismus vor einem noch härteren Einbruch. In China konnte der Ausbruch der latent bereits vorhandenen Überproduktion in eine Krise hinausgeschoben werden vermittels eines riesigen Programms zur Ankurbelung der Wirtschaft, primär über die staatlich kontrollierten Riesenbanken. Billige Kredite an KapitalistInnen sollte diese dazu bringen, trotz Überproduktion zu investieren und zu produzieren; der Staat schuf Aufträge durch den Ausbau der Infrastruktur. Nicht zuletzt sollten billige Kredite an die KonsumentInnen diesen erlauben, mehr zu konsumieren, als sie eigentlich vermöchten.

Durch das Konjunkturprogramm sind die Schulden von Unternehmen, Staat und Privatpersonen exponentiell gestiegen. Ihr Verhältnis zum BIP hat sich seit 2010 verdoppelt. Die Kreditspritzen wirken immer weniger: Die Menge an neuen Kapitalinvestitionen, die notwendig ist, um ein Prozent BIP-Wachstum zu generieren, hat sich seit 2007 mehr als verdoppelt. Heisst: Die billigen Kredite führen immer mehr nur noch zur Anhäufung von Schulden. Das wirkliche Ausmass dieses Schuldenproblems wird sich zeigen, wenn China versuchen wird, die Schuldenberge abzubauen – und früher oder später muss es das.

Krisen hinauszuschieben heisst also nicht, sie zu lösen. Im Gegenteil: Das Hinausschieben der Widersprüche verschärft sie und sie treten in anderer Form an die Oberfläche. Ihr Aufbrechen deutet sich an und hat das Potential, den globalen Kapitalismus in die Krise zu reissen. China wird die Weltwirtschaft nicht ein weiteres Mal «retten».

Gegensätzliche Klassen, gegensätzliche Entwicklung

China hat sich kapitalistisch entwickelt und unterliegt damit dem «allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation» (Marx): «Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist … zugleich Akkumulation von Elend … auf dem Gegenpol». Die Ungleichverteilung nahm von 1978 bis 2015 krass zu: Der prozentuale Anteil am Gesamtvermögen des reichsten Zehntels stieg von 27 auf 41; derjenige der reichsten 0.001% um das 40-fache. Der Anteil der ärmeren Hälfte der Bevölkerung nahm hingegen von 27% auf knapp 15% ab.

Bereits in der Periode vor Einbruch der globalen Krise provozierte das zunehmend Proteste. Der Slowdown seit 2010 verschärft die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit noch.

Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit

Auf die Kapitalüberproduktion in den arbeitsintensiven Bereichen reagierten Chinas KapitalistInnen zum Teil damit, Kapital in die High-Tech-Branche zu verschieben. U.a. dadurch provozierten sie einen Handelskrieg mit den USA. Chinesisches Kapital drang in Märkte ein, in denen US-amerikanische Unternehmen Monopolstellungen inne hatten. In einer Periode chronischer Überproduktion sind die Märkte aber überfüllt und darum aufs Härteste umkämpft: Die US-Regierung unter Trump reagierte mit Strafzöllen, um die Marktanteile von Apple und Co. auf Kosten chinesischer Unternehmen zu verteidigen. China antwortete seinerseits mit Zöllen. Ein Weiterdrehen der Protektionismus-Spirale droht den globalen Kapitalismus in einen Crash zu reissen.

Die Repression gegenüber den Studis bedeutet nicht Angst der herrschenden Klasse vor den Studentenorganisationen als solchen. Sondern Angst davor, dass durch sie revolutionäre Ideen in die Arbeiterklasse eindringen.

Die US-Strafzölle führen dazu, dass Teile der chinesischen Produktion nach Thailand, Kambodscha und v.a. Vietnam ausgelagert werden. Arbeitsplätze in China gehen verloren. Aber bereits die Verschiebung von Kapital in die High-Tech-Branche führt zu steigender Arbeitslosigkeit in den «alten» Industrien. Es erhöht sich durch diesen «Strukturwandel» auch tendenziell die Arbeitsproduktivität, was einen ähnlichen Effekt hat: menschliche Arbeit wird durch maschinelle ersetzt.

Streiks radikalisieren sich

Von 2011 bis letztes Jahr nahm die Anzahl Streiks um das Zehnfache zu. Am meisten gestreikt wurde in den Städten in Südchina und an den Küsten im Osten. Hier arbeitet eine prekäre Schicht der chinesischen Arbeiterklasse, die in den grossen Städten mittlerweile eine Mehrheit darstellt. Diese sogenannten ArbeitsmigrantInnen werden systematisch als eine Art Gastarbeitende gehalten: sie verfügen nicht über volle Rechte. Dadurch haben sie kaum Zugang zu Sozialleistungen. Viele arbeiten ohne Arbeitsvertrag und ihre Löhne sind wesentlich tiefer sind als diejenigen der ortsansässigen Lohnabhängigen.

Diese ArbeitsmigrantInnen werden nicht nur hart ausgebeutet, sie bekommen die miserablen Löhne oft noch nicht einmal ausbezahlt. Ausstehende Löhne – eine Reaktion einzelner KapitalistInnen auf die Abkühlung – waren der Hauptauslöser für die Streiks.

Die Streiks seit 2010 haben nicht nur zahlenmässig zugenommen, sie haben sich auch radikalisiert. Waren sie bis in die 00er-Jahre noch verzettelt und auf einzelne Betriebe beschränkt, breiten sie sich mittlerweile teilweise landesweit aus. Präzedenzfall war der landesweite Streik der Walmart-Arbeitenden 2016. Zwei Jahre später streikten sowohl Lastwagenfahrer, LebensmittelzustellerInnen als auch Kranführer landesweit. Die Arbeitenden kämpfen zunehmend nicht mehr als solche eines Betriebs, sondern als solche einer Klasse.

Gewerkschaften

Das ist umso erstaunlicher, als die Streikenden auf keine eigene Arbeiterorganisation zählen können. Die Gewerkschaften stehen direkt unter der Kontrolle der Regierung und der KapitalistInnen. Alle Gewerkschaften werden vom «Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbund» überwacht. Dessen mehr als eine Million Vollzeit-Funktionäre sind nichts anderes als Regierungsbürokraten, deren Rolle es ist, zwischen Arbeit und Kapital zu «vermitteln».

In diversen grösseren Streiks der letzten Jahre wurde für die unabhängige gewerkschaftliche Organisierung gekämpft. Die Arbeitenden drängen zunehmend darauf, von Staat und Bourgeoisie unabhängige Organisationen zu erschaffen – also Kampforganisationen der Arbeiterklasse.

Jugend, Studis

Unter den Umständen einer sich anbahnenden Krise radikalisieren sich verschiedene Schichten der Gesellschaft auf verschiedene Art und Weise. Geboren in den 90ern und später, wuchs eine Generation der Jugend in einer Periode des Aufschwungs und politischer Stabilität auf. Sie nimmt die Zuspitzung der Widersprüche im Zuge der Abkühlung von Chinas Kapitalismus besonders sensibel wahr.

Ein Professor einer Partei-Uni meinte letztes Jahr, dass die Verwandlung eines staatlichen Unternehmens in eine Aktiengesellschaft genau das sei, was Marx mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel gemeint habe. Er versuchte dreist, den Studis eine Privatisierung von Produktionsmitteln als deren astreines Gegenteil zu verkaufen: als die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, deren Vergesellschaftung. Der Fall ist symptomatisch: Der von der KPCh propagierte «Marxismus» und «Kommunismus» steht in hartem Widerspruch zur Wirklichkeit. Marxistische chinesische Studierendengruppen erkennen zunehmend die wahre Natur des propagierten «Marxismus»: blosse Ideologie, die das ausbeuterische, kapitalistische Wesen vor der chinesischen Arbeiterklasse verhüllen soll.

So radikalisieren sich chinesische Studis. Sie suchen den Kontakt mit der Arbeiterklasse: Die Studierendenorganisationen unterstützen die Lohnabhängigen auf den Campussen, wo sie für Lohnabhängige Abendkurse und Filmvorführungen organisieren und versuchen, ArbeiterInnen bei ihrer unabhängigen gewerkschaftlichen Organisierung zu unterstützen.

Ihre Angst, unsere Hoffnung

Die herrschende Klasse ist sich bewusst, dass der Stuhl wackelt, auf dem sie sitzt. Seit Jahren baut der chinesische Staat seine Repressionswerkzeuge aus. Das ist Ausdruck von Schwäche: fehlender Gehorsam der Unterdrückten muss kompensiert werden. Die Repression gegenüber den Studis bedeutet nicht Angst der herrschenden Klasse vor den Studentenorganisationen als solchen. Sondern Angst davor, dass durch sie revolutionäre Ideen in die Arbeiterklasse eindringen.

Die Angst von Chinas Herrschern ist berechtigt. Die potenzielle Macht der grössten Arbeiterklasse der Welt ist gigantisch. Unter den kriselnden Umständen erwachen die fast eine Milliarde chinesischer Lohnabhängigen immer mehr zu politischem Leben und beginnen in Ansätzen, ihre Macht zu fühlen. Wenn sie sich mit den revolutionären Ideen des Marxismus bewaffnen und sich organisieren, hat ihnen kein noch so repressiver Staatsapparat irgendetwas entgegenzusetzen.

 

Jannick Hayoz
JUSO Stadt Bern