Im folgenden Dokument analysieren wir die aktuelle politische Situation in der Schweiz. Dies geschieht aber nicht als akademische Übung. Wir wenden die marxistische Methode auf die heutige Situation an, um daraus die richtigen Einschätzungen und Schlüsse für unsere politische Praxis als revolutionäre Strömung abzuleiten.

Wir publizieren hier das politische Perspektivendokument vom Kongress der Marxistischen Strömung der Funke von Februar 2018.

Die heutige politische Situation bleibt unverständlich, wenn man nicht den Krisenverlauf in der Schweiz und dessen Einfluss auf die Wirtschaft genau anschaut. Deshalb zeigt dieses Papier zunächst, dass die Krise auch in der Schweiz nach wie vor ein bestimmender Faktor ist und bestimmt dann die Krisenpolitik der Schweizer Bourgeoisie seit Ausbruch der Krise. Wir weisen dabei auf wichtige Veränderungen innerhalb des hiesigen Produktionsapparats hin. Der zweite Teil befasst sich mit der Krisenpolitik der Bürgerlichen, den wichtigsten politischen Akteuren, ihrer Rolle im realen Klassenkampf und ihren internen Widersprüchen.

«Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.» (Karl Marx, 18. Brumaire) Es sind diese Umstände, welche wir für den spezifischen Fall der Schweiz einer präzisen Untersuchung unterziehen. Um Umstände bewusst umgestalten zu können, dazu braucht es eine Organisation, eine revolutionäre Partei. Dem Aufbau einer solchen Organisation hat sich unsere Strömung verschrieben. Und diesem Ziel soll auch das Verfassen dieser Perspektive dienen.

Trügerischer Optimismus

Die herrschende Klasse in der Schweiz und international scheint gegenwärtig optimistischer als auch schon. Der Grund: 2016 wuchs das BIP um 1.4% und die Prognosen für 2017 lagen im Herbst laut SECO bei 0.8%. Die ca. 5% Erwerbslosen sind im europäischen Vergleich tief. Das lässt jedoch keineswegs den Schluss zu, dass die Krise überwunden ist. Seit Ausbruch der Krise haben Lohnabhängige keine Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen erlebt, während die KapitalistInnen ihr Vermögen massiv vergrössern konnten. Gleichzeitig wurde keines der grundsätzlichen Probleme der aktuellen Krise gelöst. Der moderate Optimismus der herrschenden Klasse zeugt nicht von echter Zuversicht, sondern schlussendlich nur von der Kurzsichtigkeit der KapitalistInnen. Solange sie auch nur kurzfristige und spekulative Profite scheffeln können, sind sie zufriedengestellt.

Das momentane Wachstum des Schweizer Kapitalismus bedeutet keineswegs ein Ende der Krise, wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden. Dies rührt nicht bloss von der permanenten Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise her. Wir werden anhand einer kurzen Darlegung der weiterhin bestehenden Widersprüche des Kapitalismus auf Weltebene und einiger Kernelemente der Entwicklung des schweizerischen Kapitalismus in der jüngeren Vergangenheit aufzeigen, dass die Krise nicht überwunden ist und dass sie heute weltweit nicht eine zyklische, sondern eine strukturelle und organische Krise ist.

Die Krise ist weiterhin bestimmend

Wir haben immer wieder betont, dass der Krisenausbruch 2007/2008 einen Epochenwandel einläutete. Damit meinen wir nicht einen permanenten Einbruch des Kapitalismus, also quasi eine Endkrise. Denn eine solche gibt es nicht. Konjunkturelle Einbrüche, Instabilität und ungleiches Wachstum, aber auch wieder Phasen kurzzeitiger Aufschwünge über Länder und Sektoren hinweg, sind heute durch die Krise nicht einfach ausgehebelt. Im Gegenteil werden Schwankungen durch die Spekulation sogar noch ausgedehnt und die Krisenhaftigkeit verschärft. Die Entwicklungen des Kapitalismus auf wirtschaftlicher Ebene übersetzt sich in gesellschaftliche und politische Instabilität. Umgekehrt wird jeder Akt bürgerlicher Demokratie (zum Beispiel Wahlen) zum potentiellen Krisenfall mit jeweils an Panik grenzenden Reaktionen der herrschenden Klasse auf den Finanz- und Währungsmärkten.

Der Sattel der herrschenden Klasse wankt zwar jeweils gewaltig, die ArbeiterInnenklasse ist jedoch noch nicht in der Lage, sie davon runter zu stossen. Daher folgen auf Phasen des Einbruchs, Phasen der Stabilisierung und neuerliche Einbrüche. Die Krise entwickelt sich ungleich nach Sektoren und Weltregionen, sie ist aber auch kombiniert durch die Dominanz des Weltmarktes. Die Planlosigkeit, die anarchische Ausdehnung und Schrumpfung der Produktion, geleitet von der Suche nach schnellen Profiten, ist dem Kapitalismus eigen. In der aktuellen Epoche wird dies noch verschärft. Laut OECD sind die „unter den normalen Werten verharrenden Wachstum […] bei Investitionen, Handel, Produktivität und Lohnentwicklung weiterhin zu spüren.“[1] Auf Weltebene wuchs das BIP jährlich nur gerade mal um 2.5% (2008-2016), verglichen mit 3.8% in den Jahren 2000-2007. Noch dramatischer ist der nachhaltig Rückgang des Wachstums in den entwickelten kapitalistischen Ländern: Diese fielen von jährlich 2.6% (2000-2007) auf nun noch 1.25% (2008-2016).[2]

Seit rund zwei Jahren befinden sich die Weltwirtschaft und besonders die entwickelten kapitalistischen Länder, in einer Phase der relativen Stabilisierung. Letztere hat zu einem grossen Teil zwei Quellen. Einerseits wälzte die herrschende Klasse die Krise in den entwickelten kapitalistischen Ländern erfolgreich auf die Lohnabhängigen ab (Arbeitsrechtsreformen, Lohnkürzungen, Ausdehnung der prekären Anstellungsverhältnisse). Andererseits fand eine neuerlich massive Ausdehnung der Verschuldung statt. Laut IWF stieg die private Verschuldung in den entwickelten kapitalistischen Ländern zwischen 2008 und 2016 von 52% auf 63% des BIP,[3] ganz zu schweigen von der weiterhin enormen Staatsverschuldung. Dieser „Geniestreich“ der KapitalistInnen, die Profitbedingungen in der Produktion wiederherstellen und parallel die Absatzmärkte mittels Ausdehnung der Kredite zu stabilisieren, wird sich schliesslich gegen sie wenden.

Letztendlich führen diese Massnahmen der momentanen Stabilisierung zu einer ökonomischen und politischen Destabilisierung. Ein neuerlicher Einbruch ist nicht etwa ein Ding der Zukunft. Die Entwicklung dieser Widersprüche ist ein Prozess, in welchem wir unmittelbar drin sind. Egal, wie er ausgelöst wurde, die Konsequenzen werden auf den Finanzmärkten, in der Produktion und im Handel zu spüren sein. Die Ausdehnung der Kredite wird sich in ihr Gegenteil verkehren und deren Rückzahlung wird gefordert werden. Dies wird ein mächtiger Hebel sein, welcher alle Bereiche der kapitalistischen Produktionsweise betreffen wird.

Ein wichtiger Teil der KapitalistInnen ist sich dieser Fragilität bewusst. Ihre Kurzsichtigkeit ist nicht etwa Ausdruck von Naivität. Sie drückt bloss die fehlende Profitabilität in der realen Produktion und einem aus der Konkurrenz entspringender Hang zum Opportunismus, wenn es um die Möglichkeit kurzfristiger Gewinne geht, aus. Dies zeigt sich besonders krass anhand der Entwicklung der weltweiten Börsenkurse, die weder in einem erkennbaren Verhältnis zur Entwicklung der Gewinne, noch in einem vernünftigen Verhältnis zur eigentlichen Entwicklung der Produktivkräfte stehen. „Lieber den Fasan im Bauch als den Spatz in der Hand“, dürften sie sich wohl sagen.

Die Überproduktionskrise ist weltweit weiterhin das bestimmende Element der Entwicklung des Kapitalismus. Dies drückt sich global in rückläufigem Welthandel, einer historischen tiefen und stagnierenden Investitionsquote und tiefer Wertschöpfung in der Industrieproduktion aus, jedoch besonders in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Diese fundamentalen Probleme der aktuellen kapitalistischen Krise sind heute keineswegs überwunden. Durch den bescheidenen zyklischen Aufschwung werden sie zwar gedämpft und wieder unter die Oberfläche gedrückt, mittelfristig werden sie jedoch nur noch weiter verschärft.


[1] OECD, Wirtschaftsausblick, Ausgabe 2017/2

[2] Eigene Berechnungen auf Grundlage von: World Bank, „GDP (constant 2010 US$)“

[3] IMF, „Global Financial Stability Report October 2017: Is Growth at Risk?“

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Schweizer Kapitalismus. Spezifische Widersprüche – gleiche Taktik

Um zu verstehen, in welcher Phase der Krise sich der Schweizer Kapitalismus befindet, müssen wir zwei miteinander verwobene Aspekte verstehen. Dass wären einerseits die Massnahmen zur Krisenbekämpfung in der Schweiz. Diese sind andererseits wiederum eng verbunden mit seiner Position in der Weltwirtschaft und der Frankenstärke als Übertragungsriemen der Krise des Weltkapitalismus. Diese zu verstehen wird uns ermöglichen, den aktuellen „Aufschwung“ zu charakterisieren und zeigen, dass die vorher beschriebene organische Instabilität der Weltwirtschaft nicht nur auf den Schweizer Kapitalismus wirkt, sondern sich auch hier reproduziert.

Der Schweizer Kapitalismus ist enorm exportabhängig: Er ist in guten wie in schlechten Zeiten mit dem Weltkapitalismus vermählt. Die Strategie der Exportindustrie war bei Krisenausbruch klar: Den Einbruch der Nachfrage dank Kurzarbeit (Teilzeitarbeitslosigkeit, welche durch die Arbeitslosenkasse bezahlt und zur Hälfte mit Arbeitnehmerbeiträgen finanziert wird) aussitzen und Teile der Produktion auslagern. Diese Strategie mussten sie mit dem Erstarken des Franken besonders nach Aufhebung des Mindestkurses 2015 und der entsprechenden Bedrohung der Profite ändern. Der starke Franken hat drei weitreichende Folgen: Angriffe auf die ArbeiterInnen, eine beschleunigte Spezialisierung und geografische Streuung der Exporte sowie eine expansive Geldpolitik der SNB.

Die Angriffe auf die Lohnabhängigen in den Betrieben übersetzt sich auch in eine gründlichere Ausbeutung und beeinflusst somit ihr Wohlergehen. Der Job Stress Index 2016 der Gesundheitsförderung Schweiz gibt an, dass 1.3 Millionen, oder beinahe jedeR vierte Lohnabhängige in der Schweiz, am Arbeitsplatz gestresst ist. Zudem schafft es beinahe die Hälfte der ArbeiterInnen knapp den Anforderungen am Arbeitsplatz zu entsprechen. All dies betrifft junge ArbeiterInnen überproportional.[4] Die verstärkte Ausbeutung durch die Chefs stellt also eine direkte Schädigung der physischen und psychischen Integrität der ArbeiterInnen dar, die sich seit Krisenausbruch verschärft hat.

Massnahmen der Exportindustrie, um gleichzeitig ihre Absatzmärkte und ihre Profite zu halten, wurden bei Aufhebung des Mindestkurses dringender. Die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen in der Exportindustrie verallgemeinerten sich, wie wir dies von Beginn weg festgehalten haben. Mittlerweile haben sich die Angriffe auf die gesamte Industrie ausgebreitet. Die Arbeitszeit im gesamten verarbeitenden Gewerbe wurde um durchschnittlich 17 Minuten pro Woche erhöht.[5] Die KOF der ETH Zürich stellt für 2016 „ein historisch tiefes Niveau“ an Wachstum der Nominallöhne fest und geht für 2017/18 von einer Stagnation der Reallöhne aus.[6] Und trotz aktuell sinkender offizieller Arbeitslosigkeit, stagniert das Stellenwachstum. In einem erfrischenden Anfall von Ehrlichkeit schreibt die Crédit Suisse, dass es den Unternehmen bei der Zurückhaltung in der Schaffung neuer Stellen darum gehe, ihre „Gewinnsituation“ zu verbessern.[7] Trotz all diesen Angriffen auf die Arbeitenden blieb der Konsum die wichtigste Stütze der Binnenwirtschaft, was sich jedoch grösstenteils durch den spekulativen Immobilienboom erklärt (siehe unten).

Neben der gestiegenen Ausbeutung der ArbeiterInnen steigt die Spezialisierung der Exporte, wobei besonders die pharmazeutische Industrie kontinuierlich an Gewicht gewinnt. Dies hängt mit einer stabileren Nachfrage und somit sichereren Profiten zusammen: Medikamente werden einfacher abgesetzt als Maschinen. Die Maschinenexporte fielen zwischen 2008 und 2016 absolut um 30%. Die Exporte von pharmazeutischen Produkten dagegen wuchsen zwischen 2008 und 2016 um rund einen Drittel auf über 94 Milliarden CHF und ihr Anteil an den Gesamtexporten stieg von einem Drittel auf beinahe 45%.[8] Zudem ist, wie Unia-Ökonom Beat Baumann zeigt, die “Mehrwertrate” – also der produzierte Wert verglichen mit dem Lohn – in der pharmazeutischen Industrie schon beinahe absurd hoch.[9] Laut Baumann beträgt der Gewinn 364’000 Franken pro Jahr und Mitarbeitenden. Dies zeigt, dass die KapitalistInnen den starken Franken auf die ArbeiterInnen überwälzen und gleichzeitig eine nachhaltige Verschiebung des Schwerpunkts des Schweizer Kapitalismus in die profitabelsten Branchen der Exportindustrie stattfindet.

Für die Entwicklung der Exporte ist letzten Endes jedoch nicht bloss der Frankenkurs entscheidend, sondern auch die Weltkonjunktur. Dies bestätigt nun eine Studie des SECO[10] und ein Blick auf die Entwicklung der wichtigsten Absatzmärkte verdeutlicht dies. Zwar werden noch immer die Hälfte aller Schweizer Exporte in der EU abgesetzt, bei Krisenausbruch waren es jedoch gut zwei Drittel. Asiatische Absatzmärkte wuchsen dagegen massiv und machen nun rund einen Drittel aller Ausfuhren aus. Die Exporte nach China wuchsen von 2008 bis 2016 um das 4.3-fache, nach Indien versechsfachten sie sich sogar. Dies widerspiegelt letzten Endes das Wachstum in diesen Weltregionen: Während in Indien und China das BIP um rund 80% wuchs, fiel das der EU-Mitgliedsstaaten um 15%.[11]

Die stärkere Spezialisierung der Exporte und ihre zunehmende geographische Verstreuung sind wichtige Erklärungen der relativen Stabilität des schweizer Kapitalismus. Während die Spezialisierung hin zur Pharma-Industrie den parasitären Charakter der Schweizer Bourgeoisie (durch die Abschöpfung von Superprofiten, mittels des Verkaufs von Lizenzen und ihrer Quasimonopolstellung aufgrund von Patenten) aufzeigt, birgt die geografische Streuung angesichts einer langfristig ungleichen Entwicklung das Risiko längerer Stagnation der Schweizer Exporte. Wenn die Volkswirtschaften in Asien auf Grund ihrer eigenen inneren Widersprüche einbrechen, was mittelfristig bestimmt realistisch ist, wird dies nur bedingt in Europa kompensiert werden können. Oder noch schlimmer: Der Zusammenbruch der asiatischen Wirtschaft könnte eine noch grössere Wirtschaftskrise als die von 2008 auslösen. Diese Krise würde die Weltwirtschaft und somit die Schweizer Wirtschaft mit sich reissen.

Eine wichtige Konsequenz der Zinssenkung der SNB, wodurch der Franken abgewertet wurde, um so die Exportindustrie zu unterstützen, war eine enorme Ausdehnung der Verschuldung in der Schweiz. In den letzten 10 Jahren stieg die private Verschuldung um rund 40% und sie liegt nun mit einem Wert von 130% des BIP weltweit am höchsten. Sie besteht grösstenteils aus Hypotheken und kaum aus Konsumkrediten.[12] Mehr als ein Drittel der aktuellen Hypotheken wurden in den letzten 5 Jahren vergeben[13] und steht somit in engem Zusammenhang mit der Tiefzinspolitik der SNB.

Der private Konsum ist seit Krisenausbruch die wichtigste Stütze des Binnenmarktes in der Schweiz, wobei neben Gesundheitsausgaben die Bauwirtschaft zentral ist. Letztere Branche erreicht zunehmend seine Grenzen und es wird von einer bedeutenden Überproduktion ausgegangen. Laut Crédit Suisse betrifft dies rund 10% der jährlich neu errichteten Wohnungen (5’000-6’000) und einen Wert von 3.3 Milliarden CHF.[14] Dies ist nur teilweise auf den privaten Wohnungsbau zurückzuführen, sondern vor allem auch auf spekulative Investitionen in Wohnungen und Häusern als Renditeobjekte für Finanzgesellschaften. Diese sind laut SNB die Triebfedern der aktuellen Hausse[15] auf dem Immobilienmarkt.[16] Obwohl mit über 53’000 leerstehenden Mietwohnungen ein Überangebot herrscht, das so gross ist wie seit 20 Jahren nicht mehr (BfS, „Leerwohnungen“), sinken die Mietpreise kaum. Besonders in den Städten sind die Mieten weiterhin sehr teuer. Gleichzeitig gibt es in eben diesen Zentren, besonders in Genf und Zürich, weiterhin hunderttausende Quadratmeter leerstehender Büroflächen. „Mangels Anlagealternativen“ wird jedoch weiterhin überdurchschnittlich viel in Büros investiert.[17] Die Planlosigkeit und die verheerenden Auswirkungen der von Renditensuche getriebenen Investitionen der KapitalistInnen, werden im Immobilienmarkt deutlich. Diese Entwicklungen bekommen die ArbeiterInnen und Jugend zu spüren, denn steigende Mieten (in den Städten) und fehlender bezahlbarer Wohnraum treffen sie direkt. Wohnungsfrage und kapitalistische Stadtaufwertung sollten entsprechend als Herd politischer Radikalisierung der ArbeiterInnen und Jugend im Auge behalten werden.

Es ist nicht die Frage ob, sondern vielmehr wann es zu einem Platzen der Immobilienblase kommt. Es ist hier zweitrangig, was die Blase zum Platzen bringt, entscheidend sind dessen Konsequenzen. Erstens wird die Baubranche einbrechen, was heftige Folgen für die BauarbeiterInnen und die gesamte Volkswirtschaft mit sich bringen wird. Zweitens würde sich der Privatkonsum zusätzlich reduzieren, da viele Haushalte sich mit einer Verteuerung ihrer Hypotheken konfrontiert sehen werden. Dies wird wohl auch zu teilweise Zahlungsausfällen führen und eine wichtige konjunkturelle Stütze wird flöten gehen. Die Schweizer Banken sind im internationalen Vergleich ausserordentlich stark auf Hypotheken fokussiert (85% aller Bankenkredite). Deshalb stünde uns drittens eine erneute Bankenkrise bevor, deren Kosten die KapitalistInnen auf die Lohnabhängigen abzuwälzen versuchen müssten. Momentan dürfte die spekulative Aufblähung in der Bauwirtschaft jedoch noch weitergehen, sie ist jedoch ein chronisch instabiler Sektor des Schweizer Kapitalismus.

Die Taktik des schweizer Kapitals zur Bekämpfung der Krise unterscheidet sich also nicht von derjenigen der Bourgeoisie in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern: ausharren, verstärkte Ausbeutung der ArbeiterInnen und erhöhte private Verschuldung. Die entsprechenden Widersprüche sind ebenfalls dieselben. In Anbetracht der Bedeutung der Exporte ist die vorige Charakterisierung der Weltkonjunktur als inhärent instabil wichtig, der Weltmarkt dominiert weitgehend auch die Krise des Schweizer Kapitalismus.


[4] Gesundheitsförderung Schweiz, Job Stress Index 2016

[5] „Tatsächliche Jahresarbeitszeit und tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit nach Geschlecht, Nationalität, Beschäftigungsgrad“, BFS 2016.

[6] „Die Lohnentwicklung in der Schweiz: Die Löhne stagnieren, die Glasdecke bleibt“, KOF Bulletin, Oktober 2017

[7] Crédit Suisse, “Monitor Schweiz 3. Quartal 2017”, 9/2017

[8] Alle diese Daten beruhen auf eigenen Berechnungen nach: BfS „Aussenhandel nach Waren“, je-d-06.05.02

[9] Ralph Hug, „So viel Kohle pro Kopf machen Firmen mit uns.“, Work, 19.10.2017

[10] Tobias Erhardt, Christian Rutzer, Rolf Weder, “Konzentration bei Exporten: Währungseinfluss ist gering”, Die Volkswirtschaft, 11/2017

[11] Eigene Berechnungen auf Grundlage von: World Bank, „GDP (current US$)“

[12] “Die privaten Haushalte in der Schweiz weisen eine rekordhohe Verschuldung auf”, NZZ, 04.10.2017

[13] SNB, „Bericht zur Finanzstabilität 2017“

[14] Crédit Suisse, “Monitor Schweiz 3. Quartal 2017”, 9/2017

[15] „Hausse: Nachhaltiger Anstieg der Wertpapierkurse einzelner Marktbereiche oder des Gesamtmarktes über einen mittleren bis längeren Zeitraum. Die Hausse ist von einer „freundlichen Kursentwicklung“, die nur von kurzer Dauer ist, nicht exakt abzugrenzen.“ FAZ.NET Börsenlexikon

[16] SNB, „Bericht zur Finanzstabilität 2017“

[17] Crédit Suisse, “Immobilienmonitor Schweiz 3. Quartal 2017”

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Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Fessel der Produktivkräfte

Während der Kapitalismus in Boomphasen wie etwa in den «dreissig goldenen Jahren» des Nachkriegsaufschwungs einen relativen materiellen Wohlstand für breite Schichten der Bevölkerung in den entwickelten kapitalistischen Ländern generierte, ist dies heute keineswegs mehr der Fall. Während sich die Blochers dieses Landes pervers bereichern, erleben die Arbeitenden erhöhte Ausbeutung und haben zusehends Schwierigkeiten, den gestiegen Ausgaben für Wohnen, Transport und Gesundheit nachzukommen.

Das Aufrechterhalten des Kapitalismus rechtfertigt sich historisch gesehen jedoch letzten Endes daraus, inwiefern und inwieweit er die Produktivkräfte entwickelte und somit die Bedingungen für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft legte. Diese relativ fortschrittliche Rolle des Kapitalismus steht im Widerspruch zu seiner aktuellen Rolle weltweit, aber auch in der Schweiz.

Die Entwicklung der Produktivkräfte ist zu einem Teil mit derjenigen der Ausrüstungsinvestitionen gleichzusetzen. Nach einem starken Einbruch 2009, erreichten diese Investitionen erst 2016 wieder ein höheres Niveau als vor dem Krisenausbruch 2008. Vor der Krise, 2000-2008, wuchsen die Ausrüstungsinvestitionen insgesamt um 24%. Heute, acht Jahre nach Krisenbeginn, sind sie gerade mal 2% höher als vor dem Ausbruch der Krise.[18] Die Schweizer KapitalistInnen investieren zwar weiterhin jedes Jahr, sie erhöhen diese Investitionen jedoch nicht markant.

Dies ist aus zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen widerspiegeln die tiefen Investitionen den Pessimismus der Schweizer Bourgeoise. Es fehlt nicht an Kapital, davon haben sie mehr als genug oder haben reichlich Zugang dazu auf den Finanzmärkten. Da sie keinen Profit aus produktiven Investitionen erwarten, drückt sich ihr Pessimismus über die Zukunft der kapitalistischen Produktionsweise in spekulativer Börseneuphorie und Renditensuche im Bau aus.

Zum anderen zeigt dies, dass die KapitalistInnen die Produktivkräfte eben nicht mehr weiterentwickeln, im Gegenteil. Gemäss BfS nahmen die Maschinen und Ausrüstungsgüter in der Schweiz zwischen 2008 und 2016 um 11% ab.[19] Die getätigten Ausrüstungsinvestitionen reichen also nicht einmal aus, um das Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte zu halten – es wird Kapital vernichtet, was das Fortbestehen der Überproduktionskrise unterstreicht. Laut Umfrage sind denn auch der grösste Teil der geplanten Investitionen der kommenden Jahre blosse Ersatzinvestitionen.[20] Die kapitalistische Produktionsweise stellt nicht nur eine relative, sondern auch eine absolute Bremse für die Entwicklung der Produktivkräfte dar. Es scheint, dass sich das Kapital bloss einfach reproduziert. Der erwirtschaftete Mehrwert wird also nicht zur Akkumulation von produktivem Kapital eingesetzt, sondern entweder unproduktiv (als Dividenden etc.) konsumiert bzw. in spekulative Finanzprodukte angelegt.

Nun könnte man entgegnen, dass die Produktivkräfte vielleicht nicht in ihrem monetär fassbaren Wert weiterentwickelt werden, in ihrer technischen und organisatorischen Komponente jedoch schon. Dies wäre dann, in der bürgerlichen Statistik mit der Arbeitsproduktivität zu messen. Doch auch hier sehen wir eine seit Krisenausbruch gesamtwirtschaftlich stagnierende Tendenz.[21] Das liegt jedoch nicht daran, dass es keine Möglichkeiten gäbe die Produktivkräfte zu entwickeln. Das technologische Potenzial für Produktivitätssteigerungen durch die Digitalisierung ist enorm. Am Weltwirtschaftsforum 2016 wurde die These aufgestellt, dass netto drei Millionen Arbeitsplätze dadurch überflüssig werden. Doch dies ist immer mit Investitionen verbunden, welche sich für die KapitalistInnen auch lohnen müssen.

Diese Darstellung dieser gesamthaft rückschrittlichen Rolle des Schweizer Kapitalismus heisst nicht, dass er die Produktivkräfte nirgends entwickelt. Das oben dargelegte Wachstum der Pharmabranche schlägt sich auch in den Investitionen in Forschung und Entwicklung nieder (+37% seit 2008), welche zu einem bedeutenden Teil dieser Branche anzurechnen sind.[22] In der gesamten Exportbranche wurde die Ausbeutung und mit ihr die Arbeitsproduktivität am stärksten gesteigert.[23]

Die Bourgeoisie wird in der kommenden Jahren Branchenübergreifend vor der Wahl stehen: entweder die Ausrüstungsinvestitionen steigern, oder eben die Arbeitsproduktivität direkt auf Kosten der ArbeiterInnen erhöhen. Die Forderungen des Gewerbeverbands nach einem flexibleren Arbeitsgesetz und insbesondere einer Höchstarbeitszeit von bis zu 50 Stunden, zeigt, welche Option die herrschende Klasse verfolgen will. Und auch die MEM-Industrie will eindeutig die Ausbeutung erhöhen. Die dortigen Unternehmen warten laut Swiss-MEM Präsident Hans Hess auf „eine länger Wachstumsphase mit besseren Margen“ bevor sie wieder „in die Zukunft investieren können“.[24] Dies wird nur über eine Verstärkung der Ausbeutung möglich sein, was wiederum den Klassenkampf anhand von unmittelbaren Verteilkämpfen anfeuern wird.

Der Kapitalismus ist weltweit in einer organischen Krise, die sich auch in der Schweiz verdeutlicht. Auch hier drückt sich dies, wenn auch auf tieferem Niveau als in anderen Ländern, in einer gegenseitigen Destabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, wie wir in den kommenden Abschnitten sehen werden, aus. Die Bourgeoisie hierzulande versucht die Lohnabhängigen gründlicher auszubeuten und steigert den materiellen Wohlstand der Gesellschaft nicht oder nur marginal. Sie wurde von einer relativ fortschrittlichen zu einer parasitären und bremsenden Klasse. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht weiter im Zuge der ungleichen Entwicklung der Krise auf Weltebene weiter Waren absetzen und Profite erwirtschaften kann. Doch die gesamtwirtschaftliche Tendenz geht in die entgegengesetzte Richtung und die Widersprüche häufen sich auf einem höheren Niveau als vor dem Krisenausbruch an.

Besonders parasitär ist die Schweizer Bourgeoisie zusätzlich via die Grossbanken, Holdings und internationalen Handelsgesellschaften. Die Zahlungsbilanzüberschüsse, also die Transfers an gesellschaftlichem Reichtum vom Rest der Welt in die Schweiz, sind sehr hoch. Lokale KapitalistInnen verwalten einerseits ausländisches Kapital und beuten andererseits Arbeitende in anderen Ländern aus um hier die Profite einzustreichen. Dazu kommen die Grosskonzerne mit Hauptsitz in der Schweiz. Zusammen mit der Handelsverflechtung trägt das zum internationalen Charakter des Schweizer Kapitalismus und damit auch des Schweizer Klassenkampfes bei.


[18] Alle diese Daten beruhen auf eigenen Berechnungen nach: BfS, „Bruttoanlageinvestitionen nach institutionellen Sektoren“, je-d-04.02.05.02

[19] Eigene Berechnungen nach: BfS, „Nichtfinanzieller Nettokapitalstock“, je-d-04.04.01

[20] Crédit Suisse, “Monitor Schweiz 3. Quartal 2017”, 9/2017

[21] Siehe: “Entwicklung der gesamtwirtschaftlicher Arbeitsproduktivität”, BfS, gr-d-04.07.01.01-je

[22] Eigene Berechnung nach: BfS, “Ausrüstungsinvestitionen nach Vermögensgüter-Klassifikation”, je-d-04.02.05.04

[23] Laut Crédit Suisse um 40% zwischen 1997 und 2015: Crédit Suisse, “Monitor Schweiz 3. Quartal 2017”, 9/2017

[24] MEM-Industrie: Erholungstrend bestätigt, 20.11.2017

[nextpage title=“Die scheinbar unerschütterliche Kontrolle der Bourgeoisie“]

Die scheinbar unerschütterliche Kontrolle der Bourgeoisie

Wie wir gesehen haben, sieht sich auch der Schweizer Kapitalismus im Rahmen der organischen Krise in tiefen Widersprüchen verstrickt. Dennoch hat sich der Schweizer Kapitalismus in den letzten Jahren im internationalen Vergleich durch eine relative Stabilität ausgezeichnet. Ähnliches gilt auch für die politischen Verhältnisse in der Schweiz. Schaut man aber auf die letzten Jahre zurück, kann man durchaus wichtige politische Verschiebungen und Brüche ausmachen. Seit Ausbruch der Krise 2008, den Schwierigkeiten der Schweizer Grossbanken, der Rettung der UBS und dem steigenden Druck auf den Finanz- und Bankenplatz Schweiz, hat die Schweizer Bourgeoisie so einige heikle Situationen durchmachen müssen. Eine politische Krise bahnt sich in erster Linie dann an, wenn die Widersprüche sich in der herrschenden Klasse offen manifestieren. Dies hatte sich zeitweise insbesondere in der Europafrage und der Umsetzung der MEI abgezeichnet. Heute scheint die Bourgeoisie jedoch geeinter wie seit langem nicht mehr und sitzt einigermassen fest im Sattel. Wichtigstes Merkmal der Situation ist, dass die Bürgerlichen ihre Krisenpolitik grösstenteils ungehindert umsetzen konnten. Aber das sollte nicht über die tieferliegenden Widersprüche hinwegtäuschen.

Die politische Sattelfestigkeit der Bürgerlichen hat drei Haupterklärungen. Erstens schlägt sich der Schweizer Kapitalismus trotz Krisensymptomen doch noch immer verhältnismässig gut. Zweitens, das Ausbleiben eines koordinierten schweizweiten Widerstandes und eines politischen Ausdruckes durch eine linke Partei (siehe Kapitel SP). Durch die Schwäche der Linken haben die Bürgerlichen viel Spielraum um die Massnahmen umzusetzen, ohne in direkte Konfrontationen mit der organisierten ArbeiterInnenschaft zu geraten. Drittens konnte die Schweizer Bourgeoisie den Spielraum nutzen um seit den Neunzigern eine bewusste und aggressive Strategie der Ausgabenbegrenzung durchzuführen. Darin waren sie sehr erfolgreich und konnten insbesondere die Staatsverschuldung tief halten. Diese frühe Krisenpolitik ist heute, parallel zur generellen wirtschaftlichen Situation, mitverantwortlich, dass die Bourgeoisie einen grösseren Manövrierraum für ihre Politik hat.

Nach dem sogenannten „historischen Rechtsrutsch“ der Nationalratswahlen von 2015 (siehe Perspektive 2016) preschten die Bürgerlichen mit radikalen Konterreformen wie z. B. der USR 3 vor. In der Volksabstimmung kriegten sie aber eine schallende Ohrfeige – das klare Nein verdeutlichte, dass die Bevölkerung eben nicht einfach „bürgerlich“ wählt und ist. Dadurch, dass jede Branche ihren Extrawunsch in die Vorlage packte, erkannte ein grosser Teil der Bevölkerung, dass eine Annahme immense Kosten verursachen würde, die sie selber zu tragen hätten. Denn die Abbaumassnahmen der letzten Jahre haben merkliche Spuren hinterlassen. Die Lügen der USR 2 halfen mit, diese Auswirkungen aufzuzeigen. Seither arbeitet das Parlament auf Hochtouren an einer neuen Steuerreform, welche mit wenigen Änderungen in die gleiche Richtung gehen wird – massive Steuersenkungen für die Grosskonzerne.

Die Schweizer Bourgeoisie ist etwas vorsichtiger als viele ihrer europäischen Pendants. Die Dringlichkeit der Konterreformen ist geringer und ihr materieller Spielraum momentan noch etwas grösser. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier weitere grössere Konterreformen auf dem Menu stehen werden. Mit den Diskussionen um die Aufhebung der Begrenzung der Wochenarbeitszeit wird das Terrain in diese Richtung ausgetestet, die Strommarktliberalisierung ist eines ihrer nächsten Projekte.[nextpage title=“Radikale Fundamentalisten“]

Radikale Fundamentalisten

Nach der überraschenden Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) und ihrer komplizierten Nichtumsetzung im Parlament ist es auch um die SVP ruhiger geworden. Um die Widersprüche in der SVP und damit der ganzen Bourgeoisie zu verstehen, müssen wir uns den Aufstieg dieser AfD „avant l’heure“ genauer ansehen.

Das letzte Mal als die strukturelle Wirtschaftskrise in der Schweiz aufbrach, war Ende 80er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt entschied sich ein gewisser, aggressiverer Flügel der Zürcher Bourgeoisie, die strukturellen Probleme der Kapitalverwertung in der Schweiz mit einer härteren Gangart zu lösen. Dazu übernahmen eine Clique um Christoph Blocher die damals noch kleinbürgerlich dominierte SVP und begannen sie sukzessive in einen Rammbock des Grosskapitals umzuwandeln.

Dieser Flügel kündigte den lange überfälligen „sozialen Frieden“ und fuhr einen harten Kurs gegen Gewerkschaften und soziale Errungenschaften. Auf Grund der strukturellen Krise konnten und wollten die Industriellen den „Arbeitsfrieden“ mit den Gewerkschaften (gute Gesamtarbeitsverträge im Tausch gegen den Verzicht auf Streiks und jegliche kämpferische Gewerkschaftspraxis) nicht mehr länger bezahlen.

20 Jahre vor dem Aufstieg der rechten AfD entschied die Blocher-Clique den Kampf um die bürgerliche Hegemonie für sich. Hauptursache war, dass diese offensivere Klassenpolitik objektiv nötig war, um die Profitabilität der Schweizer Unternehmen zu erhöhen. Die FDP trägt in allen wichtigen Fragen die SVP-Politik im Interesse des Kapitals mit. Letztere ist heute jedoch die konsequenteste Verteidigerin der Interessen der Grossbanken und der Multinationalen Konzerne. Zu beachten ist jedoch, dass es der SVP nie gelungen ist, sich in der Westschweiz und im Tessin in gleicher Weise durchzusetzen wie in der Deutschschweiz. In Regionen, in denen die SVP schwach ist, bleibt die Bedeutung der FDP grösser, und selbst wenn sie abnimmt, bleibt sie die wesentliche Partei für das Kapital. Gleichzeitig sind es lokale Parteien wie das MCG und die Lega, die hier die Rolle der „radikalen Fundamentalisten“ einnehmen.

Zur Durchsetzung dieser Politik bezieht sich die SVP auf der ideologischen Ebene auf die lange ausländerfeindliche Tradition des Schweizer Bürgertums. Auf die Stagnation des Lebensstandards antwortete sie mit millionenteurer nationalistischer, europa- und ausländerfeindlicher Propaganda. Dies spaltet die ArbeiterInnenklasse und erleichtert die Angriffe der herrschenden Klasse auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen. Diese Politik hatte lange Erfolg, seit 1991 hat sie ihre Parteistärke um das 2.5-Fache gesteigert. Seit 2007 ist ihr Wachstum aber unvergleichbar kleiner als in den 90ern. In der heutigen Periode treten die internen Widersprüchen offener an die Oberfläche.

Dass der Ex-Bundesrat Blocher die Lancierung der Initiative zur Einschränkung der Personenfreizügigkeit (ihre „Rache“ auf die Nichtumsetzung der MEI) in die Länge zieht, zeigt auf, dass die Kombination aus gespielter Oppositionspolitik und Ausländerfeindlichkeit eine Grenze erreicht hat. Die SVP ist die bedeutendste Partei im Staatsapparat – in der Legislative, aber auch am Bundesgericht. Laut dem CS-Sorgenbarometer 2017 sind die wichtigsten fünf Sorgen materielle Fragen wie Altersvorsorge und Arbeitslosigkeit, welche klar vor das (vage formulierte) Thema „AusländerInnen“ gesetzt werden. Das bestätigt einen längerfristigen Trend (siehe Perspektive 2017). So erklärt sich, wieso die SVP-Führung es nicht wagt, noch vor den Wahlen 2019 eine Abstimmung zu diesem Thema zu provozieren.

Auch innerhalb der SVP verschärft die strukturelle Krise die Widersprüche. Während die Führung eine bürgerliche Politik für die GrosskapitalistInnen macht, kommen die mittleren Parteikader aus einer Schicht von Kleinbürgern (KMU-Besitzern, Bauern etc.). Zwischen diesen Schichten besteht bereits ein materieller Widerspruch, denn ein Grossteil der KMUs sind Zulieferer von Konzernen und dadurch diesen schlussendlich ausgeliefert. Gerade die Kosten der Frankenaufwertung wurden von den grossen Industriefirmen an ihre Zulieferer weitergegeben. Darüber hinaus können die fremdenfeindlichen Vorschläge der SVP, insbesondere bei den Exporten, den Interessen des Großkapitals und der KMU zuwiderlaufen, auch wenn sie der Bourgeoisie dienen, indem sie die ArbeiterInnenklasse spalten. Dies haben die Diskussionen mit der EU über die Anwendung der MEI deutlich gezeigt. Trotz diesen Widersprüchen ist der Gewerbeverband eine SVP-Hauptstütze und vertritt eine aggressive liberale Wirtschaftspolitik.

Ein noch grösserer Widerspruch besteht gegenüber der lohnarbeitenden Wählerschaft. Dass die SVP deren Unterstützung gewinnen konnte, ist selbst Ausdruck einer tieferen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise, die zu Unzufriedenheit und Ängsten in breiten Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung geführt hat. Die SVP konnte dem einen Ausdruck geben, indem sie mit ausländerfeindlicher Propaganda die Ängste instrumentalisiert und mit ihrer Positionierung als „Opposition“ die Entfremdung gegenüber der Politik in „Bundesbern“ kanalisiert hat. Beides war nur möglich durch das Ausbleiben einer echten – konsequent linken – Opposition. Gegen die ArbeiterInnenklasse fährt die SVP objektiv die härtesten Attacken. Die fortschreitende strukturelle Krise wird diesen Widerspruch weiter aufladen. Dass ihre Wählerbasis mehrheitlich gegen die USR 3 gestimmt hat, zeigt diesen Widerspruch einmal mehr auf.

Auf der Basis der der Klassenposition, hätte man die MEI schlagen können. Die ausländischen Lohnabhängigen sind für das Lohndumping nicht verantwortlich, die KapitalistInnen aber schon. Somit kann nur der vereinte Kampf der ArbeitendenVerbesserungen für alle herbeiführen. Auf Grundlage dieser Position basierte die Genfer Gewerkschaft ihre Antwort um sich der MEI entgegenzusetzen. Gleichzeitig gingen sie durch eine kantonale Initiative in die Offensive, um die Kontrolle innerhalb der Firmen und um somit die Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben zu verstärken. Daraus resultierte eine massive Ablehnung der MEI und eine Orientierung der Gewerkschaften zugunsten einer Verankerung in den Firmen.

Durch den frühen Umschwung auf eine rechts-aussen Ideologie fehlt den Bürgerlichen heute ein wichtiges Ventil im Prozess der politischen Polarisierung. Die SVP braucht schon lange die Argumentation einer AfD. Deshalb gibt es rechts von der SVP keine Partei, welche die Wähler auffangen könnte, die sich enttäuscht von der offensichtlichen 1%-Politik der SVP abwenden werden.

Hauptverantwortlich dafür, dass die SVP überhaupt einen Anschein an „Opposition“ beibehalten kann, ist die SP. Sie versagt in den wichtigsten politischen Fragen, beispielsweise um die Personenfreizügigkeit oder der Rentenreform, und ist meilenweit davon entfernt, die Interessen aller Lohnabhängigen konsequent zu verteidigen. Wer gegen die Frauenrentenaltererhöhung war, dem blieben an offiziellen Abstimmungsargumenten (zumindest in der Deutschschweiz) nur solche der SVP. Nach der MEI-Abstimmung verteidigte die SP nicht die Interessen aller Lohnabhängigen, sondern übernahm die xenophobe „Inländerpräferenz“ des Gewerkschaftsbundes. Durch den Reformismus der SP-Führung verrät die Partei regelmässig die grundlegendsten Interessen der arbeitenden Klasse in der Schweiz und praktisch ausnahmslos jene der internationalen ArbeiterInnenklasse, für die sie eigentlich einstehen sollte.

Einen Keil zwischen die SVP-Elite und ihre Wählerbasis zu schlagen ist möglich. Die Abstimmungsresultate zur USR 3 und der Rentenreform (aber auch der MEI), welche auch für die Bürgerlichen unerwartet kamen, zeigen auf, dass die Lohnarbeitenden die bürgerliche Politik nicht gleichmütig schlucken. Um diesen Umstand zum Aufbau einer politischen Kraft zu nutzen, braucht es aber gerade eine konsequente Verteidigung der Interessen der Arbeitenden. Die Ablehnung der Rentenreform hatte einen anti-bürgerlichen Charakter. Dass dieses Abstimmungsresultat in einen bürgerlichen Sieg uminterpretiert werden konnte, ist einzig und allein auf das skandalöse Verhalten der SP und der Deutschschweizer Gewerkschaften zurückzuführen.

Die Westschweizer Gewerkschaften und Kleinparteien gaben uns ein löbliches Beispiel von konsequenter Klassenpolitik. In der Frage der Rentenreform erklärten sie schon früh ihre Opposition und markierten so klar die politischen Trennlinien: Fast alle Westschweizer Arbeitgeberorganisationen und die bürgerlichen Lokalparteien verteidigten die Reform, während die lokalen Gewerkschaftsbünde, die Genfer Kantonal-SP und die linken Kleinparteien dagegen kämpften. Den Erfolg dieser konsequenten Position erkennt man auf Gemeindekarten der Abstimmungsresultate. Im Kanton Genf stimmten die ArbeiterInnenquartiere massiv gegen die Reform, während die rechten Landgemeinden sie nur mit kleineren Mehrheiten ablehnten – in starkem Kontrast zur Deutschschweiz. Dort blieb die SP auf verlorenem Posten stehen, zwischen SVP und JUSO.

Wie wir bereits in den letzten Jahren schrieben, hat die wacklige wirtschaftliche Grundlage auch in der Schweiz einen politischen Polarisierungsprozess angestossen, der sich jedoch widersprüchlich ausdrückt. Ein Teil der Radikalisierung wird von den Demagogen der SVP kanalisiert, schlussendlich gegen die Lohnabhängigen selbst. Die heutige objektive Situation intensiviert jedoch die Widersprüche innerhalb dieser Partei. Daraus erwachsen die Möglichkeiten für eine konsequente Linke, das verlorene Terrain in der ArbeiterInnenklasse zurückzugewinnen.

Die bürgerlichen Antworten auf die Krise sind für uns falsch, nicht weil sie ungerecht oder „neoliberal“ sind, sondern weil sie die Klasseninteressen der Herrschenden vertreten. Diese sind unvereinbar mit den Interessen der Lohnabhängigen und bedeuten für die grosse Mehrheit nichts als Verschlechterung des Lebensstandards. Das liegt daran, dass der Kapitalismus in der heutigen Situation keine Verbesserungen zulässt. Nur ausserhalb der kapitalistischen Logik gibt es einen Weg für Fortschritt und einen höheren Lebensstandard. Nur der Bruch mit dem Kapitalismus kann erneut zu Verbesserungen führen. Diese Schlussfolgerung müssen wir in der ArbeiterInnenbewegung verteidigen.[nextpage title=“Das Ende der mutigen Gewerkschaften / Der Spezialfall der SP“]

Das Ende der mutigen Gewerkschaften

Durch die Krise der 80er- und 90er-Jahre hat sich der Produktionsapparat der Schweiz kräftig verändert. Die Gewerkschaften verbüssten einen radikalen Einbruch der Mitgliederzahlen, was zu einer Reorganisation der Gewerkschaftslandschaft führte. Eine Reihe von Gewerkschaften aus Bau und Industrie fusionierten zur heutigen Unia. Der Gewerkschaftsbund (SGB), unter Führung der nun grössten Gewerkschaft Unia, stand für eine Periode klar links von der SP.

Am Gründungskongress der Unia 2004 wurde entschieden, eine Reihe von „politischen“ Initiativen zu lancieren (“Für ein flexibles AHV-Alter”, Mindestlohn, später die Lohnkontrollen in Zürich). Diese Projekte und ihre Forderungen stellten eine klare Abkehr der traditionellen Sozialpartnerschaft dar, war doch deren Hauptpfeiler über 70 Jahre lang die Nicht-Einmischung des Staates in betriebliche Fragen gewesen. Die objektiven Bedingungen und die praktische Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch die SVP-getriebene KapitalistInnenfraktion hatte die organisierte ArbeiterInnenbewegung zu einer radikaleren Praxis gezwungen.

In Fragen der Betriebsführung sind die Schweizer KapitalistInnen historisch geeint durch die Forderung der totalen Nichteinmischung des Staates. Die Initiativen trafen somit einen wunden Punkt. Das erklärt die Aggressivität ihrer Reaktion und das Ausmass der Abstimmungskampagnen.

Indem der Gewerkschaftsapparat die Kampagnen jedoch reformistisch ausrichtete, verfehlte er es, die Initiativen als Kampagnen zum gewerkschaftlichen Aufbau und zur Verankerung in den Betrieben zu nutzen. Die Initiativen erbaten schliesslich die Hilfe des bürgerlichen Staates. Diese Illusionen in eine Reformierbarkeit des Kapitalismus in der Krise, und nicht etwa die Forderungen per se, führten letztendlich zu einer Reihe von Abstimmungsschlappen. Die Initiativen hätten klassenkämpferisch genutzt werden sollen, sodass eine bewusste Basis geschaffen und der Aufbau der Organisation vorangetrieben hätte werden können. Ohne künstlich geschürte Illusionen in den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus in der Krise, hätte ein kleiner Schritt vorwärts gemacht werden können. Durch die weitverbreitete Desillusionierung und Enttäuschung nach den Abstimmungsniederlagen wurden jedoch zwei Schritte zurück gemach. Das Überleben des Kapitalismus – und der KapitalistInnen – bedingt heute eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft. Bei der Institution, welche Engels treffend den „Gesamtkapitalisten“ nannte, Schutz vor dieser Ausbeutung zu suchen, bleibt eine Illusion. Anstatt diese Schlüsse zu ziehen, verwendete die Bürokratie die Niederlagen, um den Rückzug aus dieser offensiveren Praxis zu legitimieren.

Die Verteidigung der Rentenreform hat bestätigt, dass die Unia ihrer Rolle als fortschrittlichste politische Kraft (mindestens in der Deutschschweiz) nicht mehr gerecht wird. Mit der Aufgabe ihrer politischen Rolle befindet sich die Unia nun in einer Zwickmühle: Sie beschränkt sich vermehrt auf eine rein defensive Rolle in den Betrieben und Branchen. Somit werden die Kerninteressen der Gewerkschaftsbürokratie bedient, die relativ unmittelbare materielle Privilegien aus dem Abschluss von Branchenverträgen und dem Einsitz in Verhandlungskommissionen schöpft. Ohne kämpferische Kampagnen, mit denen ihre Verankerung in den Betrieben gestärkt werden könnte, schwindet aber die Basis, welche die Unia als Manövriermasse für diese Strategie benötigt. Die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen in der Industrie im Nachgang der Aufhebung des Franken-Euro-Mindestkurses haben das Scheitern dieser rein defensiven Strategie aufgezeigt.

In der Romandie hingegen gibt es spannende Projekte zur gewerkschaftlichen Verankerung in verschiedenen Branchen. Bei verschiedenen Externalisierungsversuchen in Pflegeinstitutionen in Genf und Fribourg betonen die Gewerkschaften vehement den politischen Charakter dieser Massnahmen und befürworten die aufkommenden Streikbewegungen. Als die ersten Gerüchte bezüglich der Massenentlassung bei ABB Sécheron durchsickerten, antworteten die Angestellten von ihrer kämpferischsten Seite mit einem sechstägigen (eigentlich illegalen) Streik. Die Unia Genf war vorgeprescht und unterstützte sowohl die frühen Organisationsformen der Belegschaft als auch den Streik. Dies steht in krassem Widerspruch zum Verhalten der Gewerkschaften beispielsweise im Aargau bei General Electrics. Diese Beispiele zeigen die fortschrittlichere Rolle, welche die Westschweizer Gewerkschaften gegenüber ihren Pendants in der Deutschschweiz spielen. Sowohl im Arbeitskampf als auch auf politischer Ebene wie bei der Rentenreform. Allerdings scheint auch klar, dass der Druck seitens der nationalen Führung weiter zunehmen wird.

Der Spezialfall der SP

Die Schweizer SP ist eine reformistische Partei, die eine sehr wichtige staatstragende Rolle spielt. Gleich wie in den meisten anderen kapitalistischen Ländern ist auch die Schweizer Sozialdemokratie heute de facto die wichtigste politische Stütze der bürgerlichen Ordnung. Im internationalen Vergleich befindet sich die SP aber am linken Rand der Sozialdemokratien. Heute steht sie politisch klar linker als ihre deutsche Schwesterpartei und vom Schicksal der Französischen Sozialdemokraten trennt sie noch einige Verrate. Diese Einschätzung ist wichtig, um ihre widersprüchliche Politik zu verstehen. Diese Sonderposition lässt sich aus den folgenden Punkten erklären.

In den Regierungen (Bundesrat sowie allen anderen Exekutiven) sind SP-VertreterInnen immer Teil von Koalitionsregierungen. So können sie sich hinter den anderen Parteien und der „Kollegialität“ verstecken. Da die SP nie die Alleinverantwortung für die Regierungspolitik und deren Angriffe trägt, wird sie auch nicht zu einer konsequent arbeiterInnenfeindliche Politik gedrängt, für die sie dann geradestehen müsste (anders als beispielsweise die sozialdemokratischen Regierungen in Frankreich oder Deutschland in jüngerer Vergangenheit). Zudem ist, wie ausgeführt, die Notwendigkeit für Konterreformen in der Schweiz weniger dringlich als andernorts. Die SP ist entsprechend weniger dem Druck des Kapitals ausgesetzt, Kürzungen zu unterstützen und mitzutragen. Die SP schürt jedoch auch immer wieder Illusionen in den Staat, wenn sie sich stolz als letzte Verteidigerin des liberalen Rechtsstaates präsentiert. Dies geschieht durch die Logik des bürgerlichen Systems, dem sich die SP vollständig ergeben hat. Die Bürgerlichen setzen ganz den von ihnen vertrenen Interessen entsprechend, Privatisierungen oder fremdenfeindliche Themen auf die Agenda. Die SP geht zur Gegenposition über, jedoch aus staatlicher Perspektive. Sie kontert die fremdenfeindlichen Initiativen nicht mit den Interessen der Arbeitenden auf Klassenzusammenhalt , sondern argumentiert, dass dies die Gewaltenteilung ausser Kraft setze. Dieses Verhalten sorgt dafür, dass auch sie von der diffusen Ablehnung der nationalen Politik erfasst wird.

Da sich diese Regierungen auf breite Koalitionen in den Parlamenten stützen, muss die Parteiführung die Parlamentsfraktionen weniger zur Fraktionsdisziplin zwingen. Gesetze brauchen nicht die Unterstützung der gesamten Fraktion, um durchzukommen. Deshalb ist ein breiteres Spektrum an Orientierung in der Partei vertreten (von xenophoben Sozial-Liberalen wie Fehr, hinzu den LinksreformistInnen der Ex-JUSO-Führungen). Die Rentenreform war hier eine erste Ausnahme.

Die Referendumsmöglichkeit erlaubt der Parteibasis, auch Referenden gegen ihre eigenen ExektutivpolitikerInnen zu ergreifen. Dadurch kann interner Druck abgelassen werden (ohne diese Politiker intern angreifen zu müssen). Ein Beispiel dafür war das Referendum gegen die Unternehmenssteuersenkung in Basel. Dieses hat die JUSO gegen die SP-Finanzdirektorin Herzog initiiert. Gegen aussen kann damit wieder Goodwill gewonnen werden.

Diese Elemente erklären die politische Heterogenität innerhalb der SP. Mit dieser Politik hat die SP das Entstehen einer grösseren Alternative links von ihr bisher abgewendet. Nichtsdestotrotz verteidigt die SP mit dieser Strategie lediglich den Status Quo – und dieser wird von den Lohnabhängigen zunehmend hinterfragt. Deswegen schafft es die Partei derzeit nicht, der zunehmenden Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse und der Jugend einen Ausdruck zu verleihen.[nextpage title=“Wer diktiert die Politik der Partei? Das Beispiel der Rentenreform“]

Wer diktiert die Politik der Partei? Das Beispiel der Rentenreform

Die Orientierung in der täglichen Politik und den Exekutivämtern ist aber ausnahmslos diejenige des rechten Flügels. In der Praxis ist es eine linkere Version der Verwaltungspolitik innerhalb des bürgerlichen Rahmens – im Grunde genommen bürgerliche Politik. Durch das nicht vorhandene Kräfteverhältnis innerhalb des nationalen Parlaments (lokal sieht es oftmals gleich aus), sind in ihren Augen keine Verbesserungen und wirkliche Reformen, sondern nur sogenannte „Kompromisse“ möglich . Diese Analyse ist durchaus korrekt. Der Reformismus erklärt nun aber die Not zur Tugend und die «bestmöglichen Kompromisse» zur Maxime der eigenen Politik, anstatt mit einem radikalen sozialistischen Programm eine linke Alternative zur bürgerlichen Krisenpolitik aufzubauen. Damit nähren sie die Illusionen in einen vermeintlich neutralen, über der Gesellschaft stehenden Staat und in einen „gutschweizerischen Interessenausgleich“, der nichts anderes als Zugeständnisse an die Bourgeoisie bedeutet.

Im Frühling 2016 hat die SP lautstark den Gang in die Opposition angekündigt. Als Minderheit im Parlament erklärte Levrat diesen Schritt korrekterweise für den einzig Möglichen. Wir zeigten auf, dass dieser jedoch einen Wandel in der herkömmlichen politischen Arbeit bedeuten muss, damit man dadurch wieder das Vertrauen der Lohnabhängigen zurückgewinnt. Die Reaktion der SP war weit davon entfernt. Kurz darauf verteidigte sie fast als einzige Partei mit Bersets Rentenreform eine Regierungsvorlage, welche genau einen solchen – oben beschriebenen – faulen Kompromiss darstellt. Dieses Anschauungsbeispiel zeigt uns die Logik der SP-Parlamentsfraktion exemplarisch auf.

Bundesrat Berset und Ständerat Rechsteiner wussten, dass ohne Unterstützung der SP und der Gewerkschaften die Anforderungen der Bürgerlichen (Umwandlungssatzsenkung und Rentenaltererhöhung) am Referendum scheitern würden. Deshalb versuchten sie dies auf zynische Art auszunutzen, um eine Reform hinzuzaubern, die den Reformisten ohne Reformen wieder eine Daseinsberechtigung geben würde. Dass es sich bei der „Sanierung“ des Rentensystems, wie bei aller Politik um einen Teil des Klassenkampfes handelt, wird von diesen Politikern natürlich nicht anerkannt. Eine Reform wird immer entweder von den KapitalistInnen (und ihrem Staat) oder von den Lohnabhängigen bezahlt. Wer dies nicht anerkennt, verschleiert die Herrschaftsverhältnisse in dieser Gesellschaft und verteidigt damit schlussendlich die Interessen der KapitalistInnen – macht also bürgerliche, nicht linke Politik.

Obwohl die Vorlage keine Verbesserung war, bewies die Parlamentsfraktion der SP ihre Macht und trimmte die ganze Partei, sowie die SGB-Gewerkschaften auf Unterstützung. Während der Kampagne schlachtete die Partei und die SP-Frauen sogar die heilige Kuh der heutigen Reformistinnen – ihren Feminismus. Die Argumentation von Natasha Wey war, dass es keine autonomen Frauenmobilisierungen gäbe und mandeshalb die Rentenaltererhöhung der Frauen akzeptieren müsse. Gleichzeitig ordnete sie die Interessen der arbeitenden Frauen bedingungslos der Logik der Karrieristen unter. Wey liess ausser Acht, dass sie selber, als Präsidentin der grössten linken Frauenorganisation der Schweiz, jede kämpferische Mobilisierungen aktiv unterdrückte.

Als die Vorlage an der Urne scheiterte, zog es die SP-Führung vor, auf die linken Nein-Vertreter zu schiessen. Das Nein hätte aber auch als Protest der Frauen anerkannt und für die zukünftige Bekämpfung des Frauenrentenalters genutzt werden können. Anstatt sich so mehr oder weniger angeschlagen aus der Affäre zu ziehen, bevorzugen sie, die einzigenin diesem Thema Rückgrat zeigenden, politisch anzugreifen: die JUSO, einige Westschweizer Gewerkschaften und die Genfer SP-Sektion.

Die Haltung der SP in der Rentenreform reiht sich ein in einen schon länger andauernden Prozess der faulen Kompromisse, aufgrund dessen em die SP einen Grossteil ihrer Legitimität bei den Lohnabhängigen verspielt. Die Frage ist: Welche Praxis verfolgt man als linke politische Minderheit, um aus dieser Position herauszukommen? Dafür braucht es als erstes Vertrauen darin, dass man als ArbeiterInnenpartei eigentlich die Lohnabhängigen und damit die grosse Mehrheit der Gesellschaft vertritt. Eine solche Partei muss im Parlament aufzeigen, dass die Bürgerlichen den ganzen Staat und das Parlament dazu brauchen, ihre Geschäfte zu verwalten und den Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Sie muss aufzeigen, dass linke Politik dem direkt entgegengesetzt ist. Es ist einzig und alleine eine konsequente ArbeiterInnenpartei mit klarem Klassenstandpunkt, die die Interessen der Mehrheit verteidigen kann. Da man dies nicht alleine aus dem Parlament heraus machen kann, muss diese Arbeit mit den bestehenden Kämpfen verbunden werden, um eine breit verankerte Partei mit aktiven und kämpferischen Mitgliedern aufzubauen.

Reformismus gegen die Reformen

Wir kritisieren die reformistische Politik nicht nur, weil sie sich mit dem Kampf für Reformen begnügt. Wir kritisieren den Reformismus, weil er in der heutigen Situation nicht einmal für wirkliche Verbesserungen kämpft, geschweige denn solche durchsetzen kann. Um in der heutigen Situation handgreifliche Reformen durchzubringen, welche die KapitalistInnen etwas kosten, braucht es eine revolutionäre Politik. Die Zeiten, in denen isolierte Gewerkschaftsbürokraten (oder Bundes- und Ständeräte) die KapitalistInnen zu Zugeständnissen überreden konnten, sind schon lange vorbei. Nur unter Druck der mobilisierten und organisierten ArbeiterInnenklasse wird die Bourgeoisie überhaupt noch Zugeständnisse machen. An dieser objektiven Realität beissen sich die Reformisten täglich die Zähne aus.

Am kleinen Rest an Parteibasis, welcher der SP bleibt – also den aktiven Mitgliedern ohne gewähltem Amt oder Lohnverhältnis zur Partei – lässt sich keine Opposition zu diesem Kurs ausmachen. Unter den ParteiarbeiterInnen befinden sich jedoch zahlreiche linkere Ex-JUSOS. Wie die Rentenreform-Kampagne gezeigt hat, sind diese weder politisch gewillt noch genügend organisiert, als dass sie im Kampf um die Orientierung der Partei der Parteirechten wirklich die Stirn bieten könnten.

Heute ist eine grundlegende Veränderung der politischen Orientierung der SP nur im Zuge einer breiteren Radikalisierung in der ArbeiterInnenschaft möglich. Eine solche wird sich unweigerlich produzieren. Wie wir weiter oben gezeigt haben, werden die Widersprüche des Systems auch in der Schweiz das politische Bewusstsein der Lohnabhängigen verändern. Dieser Prozess wird seinen Effekt auch auf die SP ausüben, was zu Differenzierungen und politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei führen wird. Ob dies einen radikalen Kurswechsel der Partei herbeiführen und die SP in ein Werkzeug der ArbeiterInnenklasse umgewandeln wird, oder aber sich die Klasse enttäuscht von der Partei abwenden und ein anderes «Ventil» für die politische Artikulation suchen wird, ist noch offen.

Bis dahin hemmt die aktuelle politische Linie der SP diesen politischen Bewusstseinsprozess und verstärkt die Apathie der Klasse. Deshalb hat die JUSO die Verantwortung, den Kampf gegen diesen Kurs in der SP zu organisieren. Alle Legislativ- und Exekutivpolitiker müssen vor den SP-Mitgliedern Rechenschaftspflicht ablegen oder: rechenschaftspflichtig werden! Konsequente Oppositionspolitik ist die einzige Möglichkeit, das Vertrauen der ArbeiterInnenklasse zurückzugewinnen. Das Ziel muss sein, alle linken SP-Mitglieder zu organisieren und ihnen einen politischen Kurs aufzuzeigen, der mit der Logik der faulen Kompromisse und der Logik des «kleineren Übels» für immer bricht.[nextpage title=“Die JUSO als Stachel im Arsch“]

Die JUSO als Stachel im Arsch

Das erste Jahr unter der neuen Präsidentin Funiciello war ein turbulentes. Die neue Präsidentin gab der Partei einen positiven linken Impuls. Trotzdem hat die Parteiführung nicht durch ihre klare Linie gestrahlt. Begonnen hat es mit dem Kampf um die Ablehnung von Bersets Rentenreform. Trotz ausreichenden Argumenten war die Geschäftsleitung zunächst nicht in der Lage, sich für eine klare Position auszusprechen und die Partei ist einer entsprechenden Resolution gefolgt.

Die Verweigerung der Geschäftsleitung, die politischen Differenzen klar als solche vor die Delegiertenversammlung zu tragen, führte dazu, dass die JUSO in der entscheidenden Periode innerhalb der SP keine Position hatte. Die JUSO-Delegierten enthielten sich an der SP-DV zur Reform und während der «Basisabstimmung» nahm die JUSO keine Position ein. Deshalb gab es in der SP niemanden, der eine klare Opposition gegen die Parteiführung aufbaute und konsequent für ein linkes «Nein» an der Parteibasis agitierte. Dies raubte den linken SP-Mitgliedern eine ausformulierte Position, welche nur von der JUSO hätte geliefert werden können.

Dank der resoluten Intervention der MarxistInnen in einigen JUSO-Sektionen konnte aufgezeigt werden, dass die von der GL vertretene Position nicht der Mehrheit in der Partei entsprach und an der nächsten DV wurde diese Frage mit einer klareren Resolution erneut traktandiert und mit einer Nein-Parole beantwortet.

Das erklärt, wieso die SP-Leitung das ganze Jahr hindurch Druck auf die JUSO-Führung, respektive ihren linken Flügel, ausgeübt hat. Die Angriffe der letzten Präsidenten der JUSO gegen die derzeitige Führung in offenen Briefen und Artikeln in der deutschsprachigen Zeitung «Blick» waren nur der sichtbarste Teil davon. Dabei darf man das SP-Veto zum ursprünglichen Initiativtext zur 99%-Initiative nicht aus dieser Frage ausklammern. Dem SP-Präsidenten Levrat ging es nicht um technische Argumente, sondern um die politische Kontrolle. Die  SP-Führung fügte sich dem Druck der Bürgerlichen und wollte die JUSO an die Zügel nehmen. Deshalb beweist die steigende Spannung gerade die Korrektheit eines kämpferischen JUSO-Kurses.

Dank diesem Kurs ist die JUSO weiterhin die mit Abstand grösste Partei, an der sich die radikalisierten Jugendlichen in der Schweiz orientieren. Dies gilt immer noch vor allem für die Deutschschweiz. Doch auch in der Westschweiz hat sich die JUSO trotz der Konkurrenz weiter verankert.

In der Rentenreform hat sich Funiciello schlussendlich vorbildlich der giftigen Kritik aus den eigenen Reihen gestellt. Tortzdem muss ihr Lavieren in politischen Richtungsstreits in der JUSO hinterfragt werden. Gibt es über gewisse Fragen in der GL zwei verschiedene Positionen, versucht Funiciello, sich aus diesen politischen Debatten herauszuhalten und bringt die Konflikte nicht offen vor die Delegiertenversammlungen. Gerade in den Fragen, bei denen man der gesamten SP-Rechten an den Karren fahren muss, ist es vordringlich, dass alle JUSO-Mitglieder über diese Fragen und die verschiedenen Einschätzungen Bescheid wissen. In solchen Situationen ist es nötig, dieses vermeintliche Kollegialitätsprinzip innerhalb der GL zu brechen. Richtungsstreits in der GL zu verstecken hilft schlussendlich nur den ReformistInnen, welche die Kraft des SP-Parteiapparats auf ihrer Seite wissen. Das einzige Gegengewicht sind kritische und politisch gebildete JUSO-GenossInnen.

Dass die Basis sehr linke Positionen verteidigt, zeigte das Resultat der «Staatsdebatte». Im Sommer wurde eine theoretische Debatte ausgetragen, welche sich mit der Rolle und dem Charakter des bürgerlichen Staates befasste. Das Papier «Grundsätze des sozialistischen Staatsverständnisses» wurde von der marxistischen Strömung verfasst und bildete die Basis für eine solide theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema. Es wurde zuerst in den Sektionen von insgesamt über 150 aktiven GenossInnen diskutiert und dann an der Sommer-DV dem GL-Paper «10 Thesen zum Staat» gegenübergestellt. Das endete zuerst in einem Unentschieden, dann mit einer Stimme mehr für das reformistische Papier. Die Hälfte der Delegierten stimmte für eine revolutionäre Position.

Dies zeigt auf, dass es in der Parteibasis in den letzten Jahren interessante Prozesse gegeben hat. Eine klare Verschiebung nach Links ist eine Voraussetzung dafür, dass sich ein konsequenter linker Oppositionskurs in der JUSO-Führung längerfristig halten kann. Damit die JUSO definitiv mit dem Reformismus brechen kann, muss die Parteibasis der Geschäftsleitung einen revolutionären Kurs aufzwingen. Die marxistische Strömung spielt bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle.

Weltweit sind es gerade die reformistischen Linksparteien, welche eine Bremse für die politische Reifung der ArbeiterInnenklasse  darstellen. Die JUSO darf sich nicht in diese verfehlte Tradition einreihen. Um mehr als nur ein «Stachel im Arsch der SP» zu werden, kann sie nicht auf externe Hilfe zählen und muss sich auf die eigene Kraft und die ihrer Mitglieder verlassen.

Wie kämpft man mit der 99%-Initiative?

Die Praxis der JUSO wird im nächsten Jahr durch die neue Volksinitiative «99%» bestimmt werden. Diese fordert, dass Kapitaleinkommen massiv höher besteuert werden sollen, um die Arbeitenden bezüglich Steuern oder Sozialstaat zu entlasten. Wie die Initiative genutzt wird, ist ein Indikator dafür, in welche Richtung die JUSO künftig gehen wird. Eine fortschrittliche Forderung muss den Interessen der KapitalistInnen widersprechen. Um sie umzusetzen, benötigen wir ein Kräfteverhältnis, das noch nicht existiert. Initiativen helfen also nur etwas, wenn wir unsere Kräfte damit stärken.

Die Themenwahl birgt grosse Brisanz. Durch die Gegenüberstellung von Lohn und «Kapitaleinkommen» wird am wesentlichen Charakteristikum des Kapitalismus angesetzt! Jede ehrliche Erklärung dieses Unterschieds dreht sich um Ausbeutung und die Quelle des Mehrwerts. Alle «Kapitaleinkommen» entspringen direkt oder indirekt der kapitalistischen Ausbeutung. Der Ausgangspunkt der Initiative erhöht also das Klassenbewusstsein und ist fortschrittlich. Hat man aber die «Kapitaleinkommen» erklärt, wird die aufgestellte reformistische Forderung sogleich disqualifiziert. Hat man das Konzept der Ausbeutung verstanden, erkennt man, dass «Kapitaleinkommen» niemals «gerecht besteuert» werden können .

Hier zeigt sich exemplarisch, welche Optionen die JUSO hat: Zeigt sie den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auf, hilft die Initiative, eine revolutionäre Partei aufzubauen; wird die 99% hingegen als reformistische Steuerinitiative konfiguriert, dient sie lediglich einigen KarrieristInnen, einen Parlamentssitz zu ergattern. Tatsächlich sollte jedeR JUSO die Radikalität der Initiative betonen, anstatt zu versuchen, sie in den Augen der Bürgerlichen «realisierbar» zu machen, indem er oder sie an die Moral der Bürgerlichen appelliert. Das Ziel der Initiative besteht nicht darin, die Kompromissfähigkeit und den Parlamentarismus der JUSO unter Beweis zu stellen. Ansonsten wird die Initiative der JUSO niemals helfen , diejenigen Ideen in die ArbeiterInnenklasse und die Jugend zu tragen, welche diesen wirklich helfen, sich zu emanzipieren.

Genau dies ist aber die Voraussetzung dafür, um längerfristig ein Kräfteverhältnis aufzubauen, welches erlaubt, solche Forderungen in Zukunft wirklich umsetzen zu können. Um eine Partei aufzubauen, welche diesen Kampf erfolgreich führen kann, darf die JUSO sich in der Praxis nicht auf eine Initiative, jene Kampagne oder die Unterstützung isolierter Kämpfe beschränken. Ihre Aufgabe ist es, die Zusammenhänge all dieser Kämpfe aufzuzeigen, deren gemeinsame Ursache und Fortbestehen im Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft liegen. Gleichzeitig muss sie sich aktiv dafür einsetzen, diese Kämpfe zu vereinen. Die künstliche Trennung der Kämpfe nach Kantonsgrenzen, Berufszweigen, Geschlechtern, der Aufenthaltsbewilligung etc. muss aufgebrochen werden. Denn nur vereint kann das herrschende Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, überwunden werden.

Die Effekte der Sparmassnahmen

Wie oben erklärt, konnten die Bürgerlichen ihre Krisenpolitik ungestört umsetzen. Die Sparmassnahmen konnten so aufgeteilt werden, dass sie nie zu nationalen Protesten führten. Ein Grossteil der Kürzungen wird auf kantonaler Eben durchgeführt, sodass sie immer nur die Bevölkerung des jeweiligen Kantons betreffen. Gleichzeitig werden oft Kompetenzen vom Kanton an die Gemeinden übergeben, ohne entsprechendes Budget. So sind die Konsequenzen erst verzögert in der Gemeinde zu spüren, wo für diese Leistungen einfach kein Geld vorhanden ist. Durch diese zeitliche, geographische und thematische Zerstückelung konnten grössere Widerstandsbewegungen weitgehend verhindert werden.

Das heisst aber nicht, dass der Widerstand einfach ausblieb. Gerade bei den Staatsangestellten kam es übers ganze Land verteilt zu Widerstand. Auch 2017 kam es flächendeckend zu Demos gegen die Austerität. In der Bildung, speziell in der Volksschule, ging er am weitesten. SchülerInnen und Lehrpersonen organisierten zahlreiche Proteste und lancieren Referenden. Die öffentlichen Angestellten, organisiert durch ihre Gewerkschaften und Verbände, konnten die Sparmassnahmen zum Teil sogar kurzfristig aufhalten, z. B. in Genf nach den grossen Mobilisierungen vom Dezember 2015. Häufig waren aber, gerade in der Deutschschweiz, diese Gewerkschaften (z.B. der VPOD) unfähig zur Mobilisierung der Betroffenen. Daher bilden sich Bewegungen gegen Sparmassnahmen derzeit noch weitgehend spontan und zersplittert.

Längerfristig sitzt die Bourgeoisie durch ihre Position in der Wirtschaft am längeren Hebel. Der Staat ist in letzter Instanz ihr Instrument. Deshalb dürfen die Ausgabenreduktionen nicht als «falsche, neoliberale Politik» verstanden werden. Die Steuerreduktionen für Unternehmen und auf das Privatkapital der Bourgeoisie sind ein zentrales Standbein der bürgerlichen Krisenstrategie. Durch die Reduktion der Steuerbelastung auf die Unternehmen stehen diese auf dem Weltmarkt besser da als ihre Konkurrenz, bei denen die Steuerabgaben die Profitabilität reduzieren. Das produziert Löcher in den Budgets. Diese werden rücksichtslos durch Kürzungen bei den Angestellten, der Bildung, dem Gesundheitswesen und den Sozialleistungen kompensiert.

Deshalb werden diese Proteste weitergehen. Sie stellen in der aktuellen Periode einen der wichtigsten Kampfherde dar, weil sie einen sehr direkten Einfluss auf das politische Bewusstsein der Betroffenen haben. Aus den Erfahrungen und den Resultaten der vergangenen Mobilisierungen werden Schlüsse gezogen, welche die nächste Mobilisierungsrunde beeinflussen. Durch das aktuelle niedrige Kampfniveau in der Privatwirtschaft sind heute die Kämpfe gegen die Sparmassnahmen zum zentralen Schauplatz des Klassenkampfes geworden.

Jugend politisiert sich (oder die apolitische Haltung der Jungen in den Mülleimer der Geschichte)

Die Jugend ist ein sensibles Barometer für die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. Sie leidet unter den Folgen eines Systems, das nicht in der Lage ist, ihre gegenwärtigen Bedürfnisse zu befriedigen, geschweige denn ihrnen eine Zukunft zu garantieren. Da sie weniger von der Last vergangener Niederlagen betroffen sind, sind junge Menschen eher bereit, Widerstand zu leisten und den Rest der ArbeiterInnenbewegung in den Kampf zu ziehen. Deshalb müssen wir diese, wenn auch begrenzten, Kämpfe als Auftakt zu großen Mobilisierungen sehen.

Das vergangene Jahr hat einmal mehr bewiesen, dass die Jugend sehr aufmerksam die internationalen Entwicklungen verfolgt. Der Women’s March vom März 2017 illustrierte dies eindrücklich. Einige Schülerinnen wollten nach US-amerikanischem Vorbild ebenfalls gegen Trump demonstrieren. Ihr Facebook-Event geriet ausser Kontrolle und hatte in kurzer Zeit mehrerer tausend TeilnehmerInnen. Der Women’s March wurde eine der grössten Demos des Jahres.

In den Schülergruppen, welche sich vor zwei Jahren in Zürich gebildet hatten (siehe Perspektive 2017), gab es interessante Entwicklungen. Einerseits bestehen diese spontanen SchülerInnenkollektive weiter und haben auch im Frühjahr 2017 Proteste gegen Bildungsabbau organisiert. Den Höhepunkt erreichten die Mobilisierung, als die Luzerner SchülerInnenvertretung einen schweizweiten Aktionstag unter dem Slogan #KeLoscht anriss. Es kam zu den grössten SchülerInnendemos seit dem Irakkrieg vor 15 Jahren. Damit sind die SchülerInnen spontan ein Problem angegangen, an dem die Gewerkschaften noch immer scheitern: die nationale Verbindung der Anti-Abbau-Kämpfe.

Die Kämpfe an den Unis sind erwähnenswert, gerade weil es an den hiesigen Hochschulen keine kämpferische Tradition gibt. Im Winter 2016-2017 konnte an der Uni Genf eine Studiengebührenerhöhung durch Mobilisierungen, Vollversammlungen und eine Rektoratsbesetzung erfolgreich verhindert werden. Die marxistische Strömung war aktiv an diesem Kampf beteiligt. Im Herbst 2017 kam es erstmals zu Studiengebührenerhöhungen an drei Unis gleichzeitig. Darauf folgten Bewegungen in Basel (die von der marxistischen Strömung initiiert wurde) und in Fribourg. Es gibt derzeit Versuche der nationalen Organisation dieser Bewegungen gegen die national koordinierten Sparmassnahmen, die in ihrer Absicht korrekt sind. Die JUSO hätte das Potential, diese Versuche langfristig weiterzuführen. Diese Bewegungen zeugen davon, dass heute eine breitere Schicht an Studierenden auf solche Angriffe reagiert und sich am Widerstand beteiligt. Die Bewegungen lernen schnell von den Erfahrungen an anderen Orten. Insbesondere die Praxis der Vollversammlungen verbreitet sich, was immer eine unserer Hauptforderungen gewesen ist.

Obwohl der Kampf gegen die Sparmassnahmen in der Bildung der einzige in allen Landesteilen auftretende Widerstand darstellt, gibt es keine Organisation, welche die verschiedenen Kämpfe zusammenführt. Einzig die JUSO wäre aufgrund ihrer Verankerung in der Jugend und ihrer nationalen sowie regionalen Strukturen aktuell dazu in der Lage.

Die an diesen Kämpfen Beteiligten dürfen sich aber unter keinen Umständen isolieren von der ArbeiterInnenklasse. Ihre Interessen sind unmittelbar mit den Interessen der Lohnabhängigen verbunden und die ihre Durchsetzung erfordert den gemeinsamen Kampf. Die Aufgabe einer revolutionären Organisation ist es, die fortgeschrittensten Schichten dieser Bewegungen zu organisieren und eine gemeinsame Strategie des Kampfes zu entwickeln. Diese Bewegungen kommen und gehen, ohne dass wir auf ihr Timing Einfluss haben können. Um aber in den Bewegungen intervenieren zu können, wenn sie da sind, braucht es eine schlagkräftige und breit verankerte Organisation. Nur so können sie ihr volles Potential entfalten. Eine solche Organisation müssen wir heute aufbauen.