[dropcap]I[/dropcap]n diesem Artikel werden wir das Papier „Über die post-politische Demokratie“ auf Herz und Nieren prüfen. Dabei zeigt sich ein äusserst widersprüchliches Papier, das leider keinerlei Ansätze bietet, die Politik unserer Bewegung auf ein neues Level zu heben. Wo die grössten Mängel des Papiers liegen, und wieso eine marxistische Staatstheorie überlegen ist, erfahrt Ihr im Folgenden.

Mit dem Staatspapier von Clément et al. wurde nun noch ein dritter Beitrag zu dieser äusserst wertvollen Debatte um die Staatsfrage geliefert. So ist dieses Papier nicht zuletzt ein Beitrag zur parteiinternen Demokratie. Nur ausformulierte Argumente können widerlegt werden, und nur so lässt sich das theoretische Niveau der in der JUSO vertetenen Positionen heben. Wir begrüssen diesen Papier allerdings auch aus einem zweiten Grund: Es ist zwar genau so reformistisch wie das Papier der Geschäftsleitung, aber viel ehrlicher und direkter. Sieht man über die pathetische Rhetoriklektion hinweg, finden wir folgende 8 Thesen:

  1. Der Staat ist durch die Geschichte hindurch eine Institution, die den Zweck hat, gesellschaftliche Konflikte zu lösen.
  2. Es gibt kapitalistische Strukturen. Was der Text genau mit Struktur oder strukturell meint, definiert er nicht. Generell bedeutet der Begriff aber, dass etwas nicht Ausdruck eines Zufalls oder eines individuellen Entscheids ist, sondern systematisch erfolgt. Wenn etwas strukturell zusammenhängt, wird damit gemeinhin gesagt, dass etwas im Innern mit etwas anderem verbunden ist, dass die beiden Phänomene also nicht getrennt auftreten können.
  3. Kapitalistische Strukturen haben den bürgerlichen Staat als Effekt, welcher diese Strukturen ausdrückt.
  4. Diese Ordnung wird strukturell wiederhergestellt und hängt nicht vom bösen Bewusstsein der staatlichen Akteure ab.
  5. Diese Ordnung stützt sich nicht nur auf Zwang, sondern auch auf Hegemonie, das heisst – im Verständnis der AutorInnen – auf herrschende Ideen.
  6. Wir sollten fordern, dass Unternehmen von ihren Angestellten geführt werden.
  7. Wenn wir PolizistInnen, damit konfrontieren, dass der Mensch nicht, wie im bürgerlichen Staat behauptet wird, ein rein rationales, sondern ein stark emotionsgeleitetes Tier ist, wird er dieses System hinterfragen.
  8. Wenn wir die „überzeugtesten Akteure des Staates“ und eine grosse Mehrheit durch eine emotionale, inspirierende Vermittlung von sozialistischen Ideen überzeugen, wird die Revolution bzw. ein sozialer Staat möglich.

Darüber, ob diese Art der Vermittlung sozialistischer Ideen wirklich überlegen ist, möchten wir an der Stelle nicht debattieren – wir gehen davon aus, dass Clement et al. ihr Papier auch als Beispiel dieser Rhetorik sehen und überlassen eine Einschätzung dem bzw. der geneigten LeserIn. Lasst uns also die Thesen auf ihren Inhalt und ihre Kohärenz prüfen.

Konservative Ziele
Die erste These stützt sich auf die an sich völlig korrekte Beobachtung, dass unsere Gesellschaft von Interessenskonflikten durchzogen ist, die nur beigelegt werden können, wenn ein Lager über das andere herrscht. Der Fehler des Papiers ist dabei, dass er aus dieser Tatsache den Staat ableitet, ohne die herrschenden Interessenskonflikte wiederum aus den unversöhnlichen Widersprüchen der Klassengesellschaft abzuleiten. Daraus resultiert der konservative Charakter des Papiers: Nicht nur der Staat, sondern auch die unversöhnlichen Interessenskonflikte werden als zeitlos dargestellt. Die Autoren verwerfen damit das Ziel einer Gesellschaft, die eben ohne Klassengegensätze, ohne unversöhnliche Interessenskonflikte, ohne die Herrschaft eines Lagers über das Andere und ohne Staat auskommt.

Aus den Thesen zwei und drei lässt sich schlussfolgern, dass, wenn der bürgerliche Staat Effekt kapitalistischer Strukturen ist, er auch zusammen mit dem Kapitalismus verschwinden müsste. Wenn die beiden strukturell zusammenhängen, kann es also keinen bürgerlichen Staat ohne Kapitalismus und keinen Kapitalismus ohne bürgerlichen Staat geben. Es wird jedoch nirgendwo ein definitiver Bruch mit der bürgerlichen Herrschaft formuliert. Das ist symptomatisch für einen Text, der keine grundlegende Umwälzung der herrschenden Ordnung will, noch von deren Möglichkeit überzeugt ist, sondern lediglich versucht dieser ein menschliches Antlitz zu verpassen.

Was heisst hier Struktur?
In den Thesen drei bis fünf geht das Papier von einer strukturalistischen Weltsicht aus: Der bürgerliche Staat würde strukturell mit dem Kapitalismus zusammenhängen und sich strukturell reproduzieren, ohne dass dieser durch den bösen Willen einzelner Akteure bedingt wäre. Dies tut der Text jedoch nur zum Schein: Würde er diesen Gedanken zu Ende verfolgen, müsste er auch eingestehen, dass der bürgerliche Staat strukturell der Aufrechterhaltung des Kapitalismus dient und somit als Instrument für eine sozialistische Umwälzung völlig ungeeignet ist.
Wenn bürgerlicher Staat und Kapitalismus strukturell zusammenhängen, können sie nicht unabhängig von einander existieren. Sie stützen einander. In andern Worten: Wenn der Kapitalismus überwunden werden soll, muss auch der bürgerliche Staat weg. Genau deshalb müsste er eben zerschlagen und durch einen sozialistischen ArbeiterInnenstaat ersetzt werden. Mit einer solchen Schlussfolgerung wären wir völlig einverstanden, aber genau das will der Text eben nicht sagen.

Stattdessen benutzt das Papier den Strukturbegriff für folgenden Kartenspielertrick: Zuerst wird davon ausgegangen, dass der Staat nicht abhängig vom Bewusstsein seiner Akteure als TrägerInnen dieser Strukturen sei. So kann das Papier den staatlichen Akteuren, den PolizistInnen, OffizierInnen und BürokratInnen unterstellen, ohne böse Willen zu handeln. Es ist zwar richtig, dass staatliche Strukturen Herrschaftsstrukturen sind, und damit über dem Willen Einzelner stehen. Übergangen wird dabei jedoch, dass diese Apparate aktiv auf das Bewusstsein ihrer Akteure einwirken. Die Polizei, die Ausbildung der Offiziere, die oberen Etagen der Gerichte und der Verwaltung sind neben ausführenden Organen regelrechte Schulen für ein reaktionär-kleinbürgerliches Klassenbewusstsein.

Als erster Schritt suggeriert das Papier also, die Agenten, Helfer und Helfershelfer der bürgerlichen Politik hätten nicht notwendigerweise auch eine reaktionäre Einstellung. Dann fährt der Text damit fort, dass diese staatlichen Akteure überzeugt werden müssen. Dies würde ausreichen, um den Staat als Hindernis für die sozialistische Revolution aus dem Weg zu räumen. Welche 180° Wendung! Plötzlich sind die staatlichen Strukturen doch vom Bewusstsein ihrer TrägerInnen abhängig.

Fassen wir also zusammen: Der bürgerliche Staat braucht kein bürgerliches Bewusstsein zu kultivieren. Ein kritisches oder sozialistisches Bewusstsein, welches der bürgerliche Staat laut AutorInnen in seinem innersten Kern natürlich problemlos tolerieren wird, reicht jedoch, um seinen Klassencharakter und damit den Staat als bürgerlichen Staat aufzuheben. Und all das kann das Papier behaupten, weil es zuerst (korrekt) feststellt, dass sich der Staat auf Zwang und Zustimmung der Unterdrückten (im Papier als Hegemonie beschrieben) stützt, aber dann fortfährt, in dem er so tut, als ob sich der Staat sich nur auf die Zustimmung stützt. Dies, obwohl wir jeden Tag ganz vielen ökonomischen Zwängen ausgeliefert sind, denen wir uns unterwerfen, weil wir die direkte Konfrontation mit der Polizeigewalt scheuen, oder eben noch nicht stark genug sind, um dieses System zu stürzen und uns von den besagten Zwängen zu emanzipieren. Wie begründet der Text das? Weil der Staat ja nicht Zwang gegen eine Mehrheit der Bevölkerung einsetzen kann. Warum nicht? Jedenfalls erzählt die (de facto) Militärregierung in Ägypten, die Türkei oder die faschistischen Staaten des 20. Jahrhunderts eine andere Geschichte, welche tatsächlich Gewalt zur Unterdrückung einer Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt hat, auch wenn nicht jedes einzelne Individuum der unterdrückten Mehrheit davon betroffen ist. Und selbst die stabilsten bürgerlichen Staaten, wie die Schweiz, können es sich nicht leisten, alleine auf das Element der Zustimmung der Unterdrückten zu setzen, sondern benötigen “in der Hinterhand” nach wie vor eine bewaffnete Instanz, die im Zweifelsfall auf nackte Repression gegen die Bevölkerung zurückgreifen kann. Deswegen notierte Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften auch, Hegemonie einer herrschenden Gruppe beruhe auf “Konsens, gepanzert mit Zwang”.

Ob die UnterstützerInnen dieses Papiers jemals tatsächlich politische Agitation bei PolizistInnen (die vielleicht Sympathien für den Faschismus haben) versucht haben und dabei auch die „überzeugtesten Akteure des Staates“ überzeugt haben, wissen wir nicht. Ebenso wenig, wie effektiv sich das Argument erwiesen hat, dass der bürgerliche Staat auf das Menschenbild des rationalen Wesens setzt, wenn der Mensch sich doch auch von Gefühlen lenken liesse. Was wir wissen, ist, dass sich bürgerliche Ideologie im innersten Kern des bürgerlichen Staates, im Repressionsapparat, immer in der konzentriertesten Form vorfindet und diese Ideologie auch durch diverse Zwangsformen aufrechterhalten wird, etwa durch die Entlassung von kritischen BeamtInnen oder die Inhaftierung von „Landesverrätern“. Konkret heisst das z.B.: Falls sich irgendwann mal in einem Mitglied der Kantonspolizei Bern ein sozialistisches Bewusstsein regen würde (und das obwohl er regelmässig an Demos in physische Auseinandersetzungen mit der Linken gerät) und er auch nur Anzeichen machen würde, dass er sich (wie im Beispiel des Textes) weigern würde, den hungernden Dieb zu verhaften, würde dieser sofort entlassen und durch loyalere Untergebene ersetzt werden. Der Polizeiapparat kann eben nichts anderem dienen als der Aufrechterhaltung der herrschenden bürgerlichen Ordnung und damit des Kapitalismus. Genau deshalb muss dieser Staat zerschlagen werden.

Soziale Marktwirtschaft oder Sozialismus
Den eindeutigsten Beleg für seinen Reformismus liefert das Papier aber mit seiner Forderung nach einer „demokratischen Organisation der Unternehmen“. Das Problem bei dieser scheinsozialistischen Lösung: Einerseits operieren die Unternehmen immer noch auf dem Markt, sind also den Marktgesetzen ausgeliefert. Andererseits wird damit das Eigentumsverhältnis eben nicht notwendig verändert (nirgendwo wird von Enteignung gesprochen, es geht nur um die Verwaltung!). Das bedeutet, die KapitalistInnen besitzen das Unternehmen weiterhin, können entscheiden, wie viel investiert wird und damit in letzter Instanz trotzdem alles bestimmen, was im Betrieb läuft. Dieser Scheinsozialismus verkommt von selbst zur selben Farce wie das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte in Deutschland, es ist kein Mittel zur Überwindung des Kapitalismus, sondern ein Mittel, um einen Teil der Arbeiterklasse direkt in die Ausübung der kapitalistischen Herrschaft miteinzubeziehen. Somit schafft man höchstens eine Schicht von privilegierten und von Kapitalinteressen korrumpierten ArbeiterInnen, welche sich in der Ausübung ihrer Mitbestimmungrechte trotzdem nach den Profitzwängen und den Zwängen der kapitalistischen Konkurrenz (in der sich die Unternehmen ja nach wie vor befinden würden) unterwerfen müssten. Dann müssen Dir halt deine MitarbeiterInnen erklären, warum Du entlassen wirst.

Der Text schliesst mit einem Stück zynischem Pessimismus: Weder die Öffentlichkeit noch die JUSOs würden die Staatspapiere lesen. Die regen und breiten Diskussionen in den MVs haben jedoch gezeigt, dass sich die JUSOs auf jeden Fall für die Staatsfrage interessieren. Die breiten Massen lernen tatsächlich nicht aus Büchern oder Resolutionen, aber nicht weil sie irrationale Wesen sind, wie der Text andeutet, sondern weil Lohnabhängige meistens keine Zeit oder Perspektive haben, eine Partei zu organisieren und dazu politische Theorie studieren. Genau in dieser elitären, zynischen Attitüde wurzelt der Reformismus des Papiers.

Der Text endet mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Zukunft in der die ReformistInnen auch die „überzeugtesten Akteure des Staats“ und die „grosse“ Mehrheit überzeugt haben, und der Sozialismus endlich eine Chance haben wird. Dabei übertragen sie Gewohnheiten aus der Parlamentsarbeit – dass man, um etwas durchzusetzen, eine Mehrheit braucht – auf die Politik im Allgemeinen. Niemand wusste besser auf diese alte reformistische Leier zu antworten als Rosa Luxemburg in ihrem Buch zur russischen Revolution:

„Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d. h. vorwärtszutreiben versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft.“

Vom Weitertreiben der Klassenkämpfe, davon, dass diese Klassenkämpfe mit der bürgerlichen Staatsmacht konfrontiert werden, oder dass die ArbeiterInnenklasse auf diese Konfrontation vorbereitet werden muss, von all dem will dieses Papier jedoch nichts wissen. Es schlägt der JUSO lediglich vor, „ihre Ideen immer wieder auf neue Art und Weise zu vermitteln“, was auch nichts anderes bedeutet als „weitermachen wie bisher“. Das Papier führt daher auch nicht zu einer revolutionären Taktik, sondern lediglich zur Fortführung der bisherigen reformistischen Taktik der Sozialdemokratie. „Glauben wir an eine bessere Welt!“ als politische Strategie. Dass dabei am Schluss noch verschämt das Wörtchen Revolution in den Mund genommen wird, um den Text in ein linkeres Licht zu rücken, ändert daran rein gar nichts. Wer sich eine JUSO wünscht, die theoretisch gewappnet ist, um den Kapitalismus nicht nur in Worten, sondern auch in Taten herauszufordern, kann dieses Papier genau so wenig unterstützen wie das der Geschäftsleitung.

Frank Fritschi
JUSO Basel-Stadt