[dropcap]V[/dropcap]or gut hundert Jahren betrat die Avantgarde die Bühne des Kunstgeschehens. In der russischen Avantgarde prägten Künstler wie Malewitsch, Kandinsky, Tatlin oder Majakowskij neue Kunstformen, -ismen: Futurismus, Supermatismus, Kubismus, Formalismus.

Revolution in Kunst und Gesellschaft
Fast zeitgleich mit der Revolution 1905 in Russland tritt die Kunst in das Zeitalter der Moderne – auch in Europa. Ihr Merkmal ist die Theorie, die hinter der Kunst steht und neuartig ist. Für Avantgardist*innen war die Aussage ihrer Kunst wichtig, sie schrieben Manifeste und theoretisierten damit ihr Schaffen.

Die avantgardistische Kunst folgt auf den Realismus, der die Wirklichkeit abbildete. Damit gibt sich die Avantgarde nicht mehr zufrieden. Ihre Kunstwerke sollen kein Abbild sondern selbst eigenständige Kunst und Wirklichkeit sein und in sich eine eigene Aussage besitzen. Die Form wird höher gewichtet als der Inhalt. Statt realer Gegenstände werden Abstraktionen zu Trägern von Eigenleben, Kraft und Energie. Die Kunstwerke sollen das Alltagsleben durchdringen und nicht mehr nur etwas Schönes, Ästhetisches für die Reichen sein. Die Kunst stellt das Leben selbst dar.

Avantgardistische Kunst umfasst verschiedenste Disziplinen – bildende Kunst, Literatur, Musik, Theater, Architektur, Photographie, Film, Design, Plakat- und Agitationskunst.

Zwei wichtige Figuren der russischen Avantgarde

Supermatismus-Begründer Malewitsch: Das schwarze Quadrat auf weissem Grund (von 1915)

Einer der wichtigsten Vertreter der russischen Avantgarde war der Maler Kasimir Malewitsch (1878-1935), der für die Entwicklung des Konstruktivismus entscheidend war und auch selbst eine neue avantgardistische Kunstrichtung gründete – den Suprematismus (von supremus – das Höchste). Sein Merkmal ist das Ungegenständliche: das Kunstwerk soll keinerlei Bezug mehr haben zu sichtbaren Gegenständen, auch nicht mehr zu abstrakt dargestellten Gegenständen. Einfache geometrische Formen sollen menschliche Erkenntnisse und Empfindungen veranschaulichen. Malewitsch, der aus einer armen Arbeiterfamilie stammte und in prekären Verhältnissen aufwuchs, war nach der Oktoberrevolution vorübergehend sogar Professor an den „Freien staatlichen Kunstwerkstätten“ in Petrograd. Sein wegweisendes Werk ist das aus dem Jahr 1915 stammende Gemälde mit dem Namen „Das schwarze Quadrat auf weissem Grund“. Im selben Jahr schrieb er das Manifest „Vom Kubismus zum Supermatismus. Der neue malerische Realismus“. Formen und Begriffe aus dem Kunstbereich bestimmen das Handeln des Menschen. Eine neue Formsprache, so Malewitsch, kann darum ein neues Weltbild erschaffen und die Gesellschaft erneuern. Unter der Stalinbürokratie wurde er des Formalismus bezichtigt und mehrmals ins Gefängnis gesperrt. 1935 starb er an Krebs.

Plakatentwurf von Dichter Majakowskij: Tritt ein. 1. Willst du die Kälte bezwingen? 2. Willst du den Hunter bezwingen? 3. Willst du essen? 4. Willst du trinken? Beeil dich und tritt in die Stossgruppe vorbildhafter Arbeiter ein.

In der Literatur wurde Wladimir Majakowskij (1883-1930) zur wichtigen Figur. Der Dichter war schon während der Revolution 1905 Sympathisant der Bolschewiki und im Folgenden früher Unterstützer der Oktoberrevolution. Die theoretische Grundlage seiner Kunst legte er in den futuristischen Manifesten, die er zusammen mit David Burljuk und Velimir Chlebnikov unterzeichnete. In den Manifesten ging es, in Abwendung von alter Kunst und klassischen Traditionen, um die Schaffung einer neuen dichterischen Sprache, so z.B. im Gedicht „Wolke in Hosen“ (1914/15): „im Hirn ist verweichlicht bereits, wie ein fetter Lakai auf dem speckigen Sofa, bis ich ihn erst einmal mit dem blutigen Fetzen des Herzens gereizt und mich sattgelacht, arrogant und bissig.“ Auf Lesereisen und an Massenveranstaltungen zeigte Majakovskij ein neues Bild eines Dichters. Er fand aber nicht die Anerkennung, die er sich wünschte. Gegen Ende der 20er Jahre kritisierte er die wachsende Bürokratie in der Sowjetunion. Enttäuscht nahm er sich 1930 das Leben, mit einem inszenierten Selbstmord, einem Pistolenschuss ins Herz. „Wie man so sagt, der Fall ist erledigt“, heisst es in seinem Abschiedsbrief.

Frühe Zeit (1917-1924)
Trotzki schreibt in „Kunst und Revolution“ (1939): „Die Oktoberrevolution hat der sowjetischen Kunst in allen Bereichen einen wunderbaren Aufschwung geschenkt. Die bürokratische Reaktion hat dagegen das künstlerische Schaffen mit ihrer totalitären Hand erstickt. Das ist nicht erstaunlich.“

Tatlin-Turm (5m hoher Entwurf aus Holz von 1919): Monument der dritten Internationale

Ein Aufschwung war es in verschiedener Hinsicht. Zum einen wurden die Kunstschaffenden gefördert und unterstützt, ohne in ihrem Schaffen instrumentalisiert zu werden, wie es dann in den 30er Jahren an der Fall war. Zum anderen und wichtiger wurde mit der Oktoberrevolution die Öffnung und der Zugang zu Kunst für die Massen, für die breite Bevölkerung erreicht. Kunst war nicht mehr an Adel und Reichtum gekoppelt, sie war nicht mehr schön und alltagsfern.

Die Kunstschaffenden identifizierten sich mit dem revolutionären Arbeiterstaat. Einige entwickelten eine persönliche Sympathie zu Trotzki, dessen Schriften über Literatur und Politik vor sowie nach der Revolution in intellektuellen Kreisen hohes Ansehen genossen. Trotzki war sich der Wichtigkeit der Unabhängigkeit der Kunst bewusst. So verlieh er keiner der wetteifernden Kunstrichtungen einen Titel wie „kommunistische Kunst“. Trotzki kritisierte die Avantgarde aber auch und wies in seiner Schrift „Literatur und Revolution“ auf eine generelle Schwierigkeit hin, die sich natürlicherweise ergibt – die Schwierigkeit, neue Erkenntnisse und ein neues Bewusstsein in literarische und künstlerische Werke einfliessen zu lassen, wo doch diese neuen Gedanken noch nicht im Menschen verinnerlicht seien.

Stalinistische Bürokratie (1924/27-53)

Ljubow Popowa: Kubofuturistische Komposition mit Geige, 1915

Unter Stalin wurden die Künstler zusehends unter Druck gesetzt. Schon kurz nach Lenins Tod verschärfte sich die staatliche Kulturpolitik. 1925 wurde gegenständlich-figürliche Kunst zur Pflicht. Die vorgeschriebene Ästhetik des „Sozialistischen Realismus“ blieb bis in die 50er Jahre bestehen. Stalin nutzte sie dazu, sich und seine Gefolgsleute gut und legitimiert darzustellen und seine Machtposition als Nachfolger Lenins zu manifestieren. Für seinen Personenkult konnte er keine Abstraktion gebrauchen. Seine Forderungen standen in schärfstem Widerspruch zum theoretischen Ansatz der Avantgarde. Viele ihrer Kunstschaffenden flüchteten ins westliche Exil, einige nahmen sich das Leben, andere versuchten, sich anzupassen. Wer sich nicht fügte oder zumindest geschickt anpasste, fiel der Grossen Säuberung (1936-38) zum Opfer oder endete in einem Arbeitslager. Trotzki äussert sich in „Kunst und Revolution“ (1939) zur Umsetzung des „Sozialistischen Realismus“ so:

„Es ist nicht möglich, ohne ein Gefühl physischen Ekels und Entsetzens sowjetische Verse oder Romane zu lesen oder Reproduktionen sowjetischer Gemälde und Plastiken zu betrachten: in diesen Werken verewigen mit Feder, Pinsel oder Meissel bewaffnete Funktionäre unter der Aufsicht von Funktionären, die mit Mauserpistolen bewaffnet sind, „große“ und „geniale“ Führer, die in Wirklichkeit nicht einen Funken von Grösse oder Genialität besitzen. Die Kunst der Stalinepoche wird als schärfster Ausdruck des tiefsten Niedergangs der proletarischen Revolution in die Geschichte eingehen.“

Ein wichtiger Grundsatz der russischen Avantgarde war die Eigenständigkeit der Kunst. Sie soll nicht mehr Abbild sein sondern einen eigenen Ausdruck und Sinn erhalten. Stalin unterband dies mit der Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“ und instrumentalisierte die Kunst. Damit Kunst aber wirkliche Kunst ist, muss sie frei sein. Laut Trotzki enthält jedes echte Kunstwerk einen Protest gegen die Wirklichkeit. Und jede neue Kunstrichtung habe mit einer Rebellion eingesetzt, sagt er in „Kultur und Revolution“ (1939). Die Menschheit besitzt grosses kulturschaffendes Potential, wir dürfen auf dessen Enthüllung gespannt sein!

Edmée M.
JUSO Baselland