[dropcap]I[/dropcap]mmer wieder taucht nach Anschlägen des sogenannten „Islamischen Staates“ die Forderung auf, mit Bombenangriffen gegen die Gruppe vorzugehen. Eine Antwort darauf gibt Florian Keller.

Kontrollierte Gebiete in Syrien (Stand: Januar 2016, Wikipedia)
Kontrollierte Gebiete in Syrien (Stand: Januar 2016, Wikipedia: Bürgerkrieg in Syrien)

Blutige Terroranschläge des IS wie in Paris sorgen dafür, dass die Medien und Politiker immer wieder ein „härteres Eingreifen“ gegen die Gruppe in Syrien und dem Irak durch Intensivierung des Krieges fordern. Aber nicht nur in den Korridoren der Macht gibt es diese Stimmung. Auch viele ArbeiterInnen und Jugendliche, die von der barbarischen Schreckensherrschaft des IS abgestossen sind, unterstützen so eine Vorgehensweise. Doch das ist eine gefährliche Sackgasse.

Der Ursprung des IS

Noch vor weniger mehr als einem Jahrzehnt hatte der islamistische Fundamentalsimus sowohl im Irak als auch in Syrien, den jetzigen Hochburgen des IS, keine wirkliche Basis. Das änderte sich erst mit der amerikanischen Invasion des Irak 2003. Schon damals schrieb sich die Armee der „ältesten Demokratie der Welt“ die Stabilität, den Kampf gegen den Terrorismus und die Menschenrechte auf die Fahne. Doch das Ergebnis der Invasion war das genaue Gegenteil der erklärten Ziele. Nach dem Sturz von Saddam Hussein ist die Region so instabil wie nie zuvor, Al Qaida bekam eine stabile Basis im Land und wer sagt, dass im Irak „Demokratie und Menschenrechte“ herrschen, wird jedeN irakischeN ArbeiterIn zum Lachen (oder Weinen) bringen. Wie ist so etwas möglich?

Zentral dafür ist (was auch für die heutige Situation enorm wichtig ist), dass die erklärten Ziele der USA (und der restlichen Westmächte in ihrem Schlepptau) nicht ihre eigentlichen Ziele sind. Doch imperialistische Interessen einer kleinen superreichen Minderheit kommen nicht gut an. Deswegen werden alle möglichen Rechtfertigungen hervorgekramt, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen. Das sind die Massenmedien auch durchaus bereit aufzudecken – aber natürlich nur, wenn es um die Ziele konkurrierender imperialistischer Mächte geht. Zu nennen ist hier etwa die Bombenkampagne Russlands in Syrien. Letztendlich geht es dem Imperialismus nie um Freiheit, sondern immer um Herrschaft.

Und diese Herrschaft waren die US-amerikanischen Generäle und PolitikerInnen bereit, mit allen Mitteln durchzusetzen. Konkret entwickelte sich im Irak im Jahr 2004 eine Aufstandsbewegung, die von den sunnitisch bewohnten Gebieten ausging, aber nicht auf diese beschränkt war und drohte, sich zu einem landesweiten Aufstand gegen die Besatzung zu entwickeln.

Um diese Bewegung zu besiegen und eine Vereinigung von Schiiten und Sunniten gegen die Besatzer zu verhindern, entfachten die US-Generäle einen Bürgerkrieg anhand religiöser Linien. Konkret wurden schiitisch-islamistische Milizangehörige, die bis dahin nicht in die neuen irakischen Sicherheitskräfte eintreten durften, zu „Spezialeinheiten“ zusammengefasst, die in den sunnitischen Aufstandsgebieten eingesetzt wurden, um Aufständische gefangenzunehmen und zu Geständnissen zu bringen. Tausendfaches Kidnapping, Folter und Mord (wie auch durch die US-Armee im Abu-Ghuraib-Gefängnis) an völlig Unbeteiligten waren dabei durchaus keine „Betriebsunfälle“, sondern als bewährte Aufstandsbekämpfungspolitik erwünscht. Das nutzen sunnitische Islamisten (konkret Al Qaida im Irak, kurz AQI) aus, um für ihre extreme Politik mit Massenmorden an schiitischen ArbeiterInnen und Jugendlichen eine Basis zu bekommen. Das alles entfachte einen jahrelangen Bürgerkrieg, auf dessen Höhepunkt mehr als 3000 Menschen im Monat starben. Das Land war in ein immer blutigeres Chaos gestürzt, doch ein geeinter Aufstand von Sunniten und Schiiten gegen die Besatzung war verhindert worden.

Aus ähnlichen Gründen konnte sich AQI, später zu ISIS (Islamischer Staat im Irak und der Levante) und dann IS umbenannt, in Syrien verankern. Auch hier war wieder eine Aufstandsbewegung der Ausgangspunkt, nämlich die Massenproteste und revolutionären Bewegungen, die ab 2011 durch die gesamte arabische Welt schwappten und einen Despoten nach dem anderen hinwegfegten.

Der syrische Bürgerkrieg

Die USA, Europa und deren Verbündete in der Region, die Golfemirate um Saudi Arabien, Israel und die Türkei, hätten wegen der Nähe zum Iran und Russland am liebsten den Sturz des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gesehen, um ihre eigene Marionette an seine Stelle setzen zu können. Doch in einer Sache waren sie sich mit ihm einig, der arabischen Revolution musste ein Schlag versetzt werden.

Daher begannen sie damit, Milliarden US-$ in reaktionäre, islamistische Gruppen zu pumpen. Nicht nur die Golfemirate und die Türkei rüsteten offen terroristische Gruppen wie die syrische Sektion der Al-Qaida, die Al Nusra Front, hoch. Auch die USA und die EU hatten keinerlei Probleme damit, diese Gruppen zu dulden und über den CIA auch teilweise direkt zu unterstützen und auszubilden. So fliesst bis heute ein ständiger Strom von amerikanischen Panzerabwehrwaffen an ausgewählte Rebellengruppen, die immer mehr zu Marionetten der Islamisten werden.

Das gab Assad erst die Möglichkeit, seine eigene Machtbasis zu konsolidieren. Die Revolution wurde aufgrund ihrer programmatischen Schwäche erstickt und durch die Intervention der Imperialisten ein blutiger Bürgerkrieg anhand nationaler und religiöser Linien entfesselt, der bis heute herrscht.

Ein auf Wikileaks veröffentlichtes geheimdienstliches Dokument vom August 2012 zeigt das deutlich auf: Darin wird analysiert, dass AQI (also der spätere IS) und andere salafistische Terrororganisationen eine treibende Rolle in den bewaffneten Aufständen spielen. Trotzdem sollten sie gegen Assad unterstützt werden, auch wenn das zu einem „erklärten oder auch unerklärten salafistischen Fürstentum in Ostsyrien führen würde“. Nachdem der IS das in den nächsten Jahren wie vorhergesagt umgesetzt hatte, war das so lange kein Problem, bis sich die Aktivität hauptsächlich auf Syrien beschränkte. Erst mit der wieder vermehrten Aktivität im Irak, und speziell der Blitzoffensive im Juni 2014 gegen die Millionenstadt Mossul, wurde der IS wieder zu einer direkten Bedrohung für westliche Interessen und damit zum Hauptfeind auch in Syrien, weswegen jetzt sogar eine Einigung mit Assad nicht mehr ausser Frage steht.

Bomben gegen den IS?

Das Problem für die USA und ihre westlichen Verbündeten ist aber, dass sie in Syrien keine Marionetten haben, die ihre Interessen druchsetzen könnten. Bombenangriffe können zwar töten und zerstören, aber nicht besiegen.

Eine „starke, säkuläre Freie Syrische Armee (FSA)“ ist eine Illusion, im Rebellenlager dominieren mittlerweile islamistisch-salafistische Kräfte wie Al-Nusra oder Ahrar al-Sham, die sich vom IS in ihrer Ideologie nur wenig unterscheiden und in ihren Methoden nur insoweit, wie das für ihre internationale Unterstützung notwendig ist. Die US-gesponserte Aufstellung eigener FSA-“Brigade“, die nur gegen den IS kämpfen sollten, scheiterte spektakulär. In dieser Situation suchen die Westmächte eine Einigung mit dem Iran und Russland und damit auch mit dessen Marionette Assad, der spätestens seit der verstärkten iranischen Intervention mit eigenen Milizen und dem Beginn der russischen Bombenangriffe im letzten Herbst jede eigenständige Handlungsfähigkeit verloren hat.

Auf der anderen Seite sind sie auch immer mehr gezwungen, sich im Kampf gegen den IS auf dessen effektivsten Gegner zu stützen, die kurdische YPG, die mit der heroischen Verteidigung von Kobane das erste Mal in den Blick der Weltöffentlichkeit rückte und grosse Gebiete im Norden des Landes kontrolliert. Erst kürzlich gelang ihr ein weiterer Sieg gegen den IS mit der Überschreitung des Euphrat über den Tishrin-Staudamm. Doch die YPG, die aus der politischen Tradition der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) stammt, ist der Türkei ein Dorn im Auge und potentiell auch für deren Interessen in der Region gefährlich. Sie stammt aus einer sozialistischen Tradition und hat sich mit einer progressiven Politik gegenüber Frauen und den verschiedenen Nationalitäten und Religionen Nordsyriens eine Massenbasis erarbeitet. Es ist kein Zufall, dass die kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, die vom Stammesfürsten Barzani diktatorisch regiert werden, Waffenlieferungen und Militärausbildner erhalten, während die YPG nur mit Luftangriffen indirekt unterstützt wird.

Die Imperialisten, egal woher, haben nichts gegen Krieg, Chaos, Ausbeutung und Leid, im Gegenteil. Aber sie wollen Ausbeutung zu ihren eigenen Bedingungen. Deswegen werden sie versuchen, die kurdische Befreiungsbewegung zu ihrer Marionette zu machen, indem sie die alten Lügen über Demokratie und Menschrechte ins Feld führen. Sollte es ihnen trotzdem nicht gelingen, ihr ihren Willen aufzuzwingen, werden sie sie bei der ersten Gelegenheit für politisches Kleingeld verkaufen, wie sie das in der Vergangenheit schon so oft getan haben.

Wir müssen unsere GenossInnen in der YPG und generell die syrischen ArbeiterInnen und Jugendlichen deswegen davor warnen, sich auf die Unterstützung der USA zu verlassen. Der IS selbst ist so schwach wie lange nicht mehr. Nicht nur die Luftangriffe schwächen ihn, sondern vor allem die Erkenntnis der BewohnerInnen der vom IS kontrollierten Gebiete, dass seine Herrschaft nur Brutalität, Hunger und Leid bedeutet. Die Antwort der Terrormiliz darauf ist immer grausamere Unterdrückung. Aber Unterdrückung allein kann eine Herrschaft auf Dauer nicht festigen. Doch nur ein Wiederaufflammen der Revolution im Nahen Osten, die auf das leidgeplagte Syrien übergreifen würde, kann dieses Krebsgeschwür wirklich beseitigen. Einen Sieg über den IS können nur die syrischen Massen selbst erlangen, und zwar mit Unterstützung, nicht der imperialistischen Mächte, sondern der ArbeiterInnen aller Länder.

Wir in Österreich und ganz Europa haben in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung. Wir müssen in erster Linie vor der eigenen Haustüre kehren, das heisst gegen die dauernde Einmischung der imperialistischen Mächte im Nahen Osten kämpfen. Wenn jetzt wieder Bombenangriffe gerechtfertigt werden und teilweise auch laut über Bodentruppen nachgedacht wird, müssen wir klar sagen: Ohne uns! Solange der Nahe Osten Spielball von Grossmachtsinteressen bleibt, wird das Leid nie aufhören!