[dropcap]I[/dropcap]n der westlichen Welt wurde Südkorea lange als Paradebeispiel für den Erfolg des Kapitalismus in Asien, ähnlich wie Japan oder China, wahrgenommen. Im letzten Jahr wurde jedoch deutlich, dass die Widersprüche des Systems auch in diesem Land mit aller Macht an die Oberfläche drängen. Besonders im November und Dezember fand dort ein erbitterter Kampf zwischen der rechtskonservativen Präsidentin Park Geun-hye und dem Gewerkschaftsbund KCTU satt.

Am 14. November gab es in Seoul eine lange geplante, friedliche und legale Grossdemonstration gegen die Arbeitsgesetzreform der Regierung. Die Reform, die praktisch eine Wunschliste der grossen Unternehmen ist, hat eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts zum Ziel und würde den Kündigungsschutz massiv aushöhlen. So soll es mehr befristet Angestellte und Teilzeitjobs geben, was sich auf Löhne und Rechte der Betroffenen negativ auswirkt. Ältere Lohnabhängige sollen Lohneinbussen hinnehmen und das Rentenalter für öffentlich Angestellte wird erhöht. Zudem stehen Privatisierungen im Gesundheits- und Bildungssektor an. Trotz Parks Schönrederei lassen sich die Zahlen nicht ignorieren: Das Wachstum fiel zwischen 2010 und 2014 von 6.2 auf 2.7% und Junge finden schwieriger einen Job, wofür die regierende Saenuri Partei die Gewerkschaften verantwortlich macht.

Anders sehen das die Betroffenen. Am Protestzug beteiligten sich rund 130’000 ArbeiterInnen, StudentInnen, Bauern und Bäuerinnen; die grösste Massenaktion in Südkorea seit sieben Jahren. Nicht nur die Gesetzesreform brachte die Menschen auf, sondern auch Parks Entscheid, künftig nur noch ein einziges Geschichtsbuch für Schulen zuzulassen. Zurecht waren viele besorgt, dass Präsidentin Park, die Tochter des früheren Diktators Park Chung-hee, beabsichtigt, das Bild ihres Vaters reinzuwaschen. Dazu kam ihre nicht zufriedenstellende Aufarbeitung des Fährunglücks von Sewol, bei dem im April 2014 über 300 Personen ertranken, darunter viele Schulkinder.

Im Verlauf der Demonstration blockierte die Polizei den Weg zum „Blauen Haus“, dem präsidialen Sitz, mit Bussen und begann von hinter den Barrikaden mittels Wasserwerfern flüssiges Tränengas auf die Massen zu schiessen. Ein 69 jähriger Bauer wurde von einem Strahl so hart am Kopf getroffen, dass er noch Wochen später im Koma lag. Viele weitere Protestierende wurden verletzt oder festgenommen. Die Massen liessen sich jedoch nicht einschüchtern und reagierten während dem Versuch die Absperrungen zu überwinden teilweise mit Gewalt gegen die Polizeirepression,. Han Sang-gyun, Präsident der KCTU, wurde von engagierten Gewerkschaftern vor einer Festnahme gerettet und suchte daraufhin Schutz in einem buddhistischen Tempel. Hunderte Polizisten umstellten diesen anschliessend.

In den folgenden Wochen ging die Regierung noch schärfer gegen Gewerkschafter und Regimegegner vor. Die Büros der KCTU und verbündeter Gewerkschaften wurden auf den Kopf gestellt und Computer beschlagnahmt, sowie einige Sekretäre verhaftet. Für deren Freilassung engagierten sich der Internationale Gewerkschaftsbund IGB (bei dem auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund Mitglied ist), die Aktionsplattform LabourStart und Amnesty International mit einer Petition. Viele AktivistInnen waren geschockt, als ein führender Funktionär von Parks Saenuris Partei die Polizeigewalt gegen Demonstranten mit dem inflationären Einsatz von Gewalt durch Gesetzeshüter in den USA rechtfertigte. Präsidentin Park provozierte zudem mit dem Versuch, die nächste Demonstration am 5. Dezember zu verbieten. Im Kabinett sagte sie: „Wenn man bedenkt, dass die Extremisten des Islamischen Staats ihre Gesichter verhüllen, sollten wir vermummte Demonstranten in Zukunft verbieten.“ Dies steigerte die Wut der Massen nur weiter und das Versammlungsverbot wurde durch den Druck der Strasse von einem Gericht aufgehoben. Am 10. Dezember stellte sich Han Sang-gyun der Polizei, die zuvor gedroht hatte, den Tempel zu stürmen.

Autoritäre Tradition

Um die derzeitigen Entwicklungen zu verstehen muss man die vergangenen Kämpfe studieren. General Park Chung-hee ergriff 1961 mit Unterstützung der USA durch einen Militärputsch die Macht. Die Vereinigten Staaten sahen sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer revolutionären Welle in der koreanischen Bevölkerung konfrontiert und setzten autoritäre Marionettenregierungen ein, um die Bewegung auszulöschen, was bis nach dem Koreakrieg zwischen Norden und Süden von 1950 bis 1953 auch gelang. Park Senior regierte mit eiserner Faust und ignorierte Menschen- und ArbeiterInnenrechte geflissentlich. Ende der 70er Jahre gab es eine Zunahme an Protesten. Die Ermordung des Diktators durch seinen Geheimdienstchef kam jedoch einem Aufstand zuvor. Seine Tochter, die heutige Präsidentin, war unter ihrem Vater schon First Lady, da ihre Mutter bei einem Anschlag umkam. Ein demokratischeres System etablierte sich jedoch erst 1987, da ein zweiter Militärdiktator die militanten Arbeitermassen blutig niederschlug. Unter diesen drakonischen Bedingungen entwickelte sich in den 80er Jahren ein sehr radikalisiertes Proletariat, besonders auch bei den Frauen, die zu einer treibenden Kraft wurden.
Im bürgerlich-demokratischen Südkorea der 90er Jahre formierten sich als die zwei grossen Lager Liberale und Konservative heraus, während die Bemühungen um eine unabhängige, geeinte Arbeiterpartei immer schwierig war. Die antikommunistische Propaganda des Staates macht es schwierig für ArbeiterInnen und Linke, offen die Ideen des Sozialismus zu vertreten ohne als „Agent des Feindes“ gebrandmarkt zu werden. Das linke Lager spaltete sich einerseits in offene Unterstützer Nordkoreas, die in stalinistischer Tradition eine Volksfronttaktik verfolgten und mittlerweile mit den Liberalen fusioniert haben. Auf der anderen Seite standen Vertreter einer eigenständigen Arbeiterpartei, die aber nicht erfolgreich waren. Deren Überbleibsel sind heute der KCTU angegliedert.

Präsidentin Park Geun-hye wandert nun zusehends in den Fussstapfen ihres Vaters. Die oppositionelle liberale Partei wurde vor zwei Jahren verboten, angeblich wegen Kollaboration mit Nordkorea. Bei ihrem Angriff auf Gewerkschafter hat sie insbesondere auf die Angestellten im Service Public gezielt. Sowohl die Gewerkschaft der Lehrer als auch die der öffentlichen Angestellten wurden ebenfalls verboten.

Situation der Gewerkschaften

Auf einer übergeordneten Ebene gibt es zwei gewerkschaftliche Dachorganisationen: Die Korean Confederation of Trade Unions (KCTU) und die Federation of Korean Trade Unions (FKTU). 2007 waren bei einer Bevölkerung von über 50 Millionen 10.8% der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert, Tendenz steigend. Die FKTU wurde im Zuge der Machtergreifung General Parks gegründet und war vollständig vom Staat kontrolliert. Sie unterstützte in der Vergangenheit zwar auf Druck der Basis Streiks und Arbeitskämpfe, sucht grundsätzlich aber den Kompromiss mit der Bourgeoisie. Heute unterstützt sie die Arbeitsmarktreform der Präsidentin. Die KCTU wurde erst 1995 offiziell anerkannt und ist ein Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen aller Beschäftigungszweige, welche die FKTU auf Grund ihrer früheren Verbindung zu den Militärs als nicht vertrauenswürdig erachten und eine militantere Gewerkschaft wollen. In den 90er Jahren wurden mit der Devise „Erst streiken, dann verhandeln!“ enorme Verbesserungen des Lebensstandards vieler Menschen erkämpft. Dies während der Asienkrise 1997 und obwohl der Internationale Währungsfonds strikte Flexibilisierungsforderungen an sein 57 Million US$ Hilfsprogramm gebunden hatte. Bisherige Versuche die Gewerkschaft in Sozialpartnerschaft und Staat einzubinden sind an der Militanz der Basis gescheitert, weswegen die Regierung in den letzten Jahren klar auf Konfrontationskurs gesetzt hatte. Der Vorsitzende der Organisation Han Sang-gyun wurde erst vor einem Jahr gewählt und hat bis jetzt klar zum Ausdruck gebracht, dass er nicht klein beigeben wird. Ein wichtiger Grund, weswegen die KCTU eine solch wichtige Rolle auf der politischen Ebene einnimmt, ist sicher das Vakuum auf der Parteienebene. Es gibt wie oben beschrieben (noch) keine grosse linke Arbeiterpartei in Südkorea.

Kriselnde Wirtschaft

Die Wirtschaft Südkoreas setzt stark auf Exporte. Diese machen 41% des BIP aus, wovon mehr als 20% an China gehen. Wichtige Sektoren sind Auto- und Schiffsbau, Öl und Elektronik. Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 kam es zu einer schnellen Erholung. Das Wachstum ist in den letzten Jahren jedoch wieder auf unter 3% gesunken. Da die Märkte auf globaler Ebene schrumpfen, haben exportorientierte Länder wie Südkorea – oder die Schweiz – Schwierigkeiten, ihre Waren abzusetzen. Zudem hat besonders der Einbruch des chinesischen Marktes 2015 Südkorea hart getroffen. Die Bourgeoisie forciert die Umstrukturierung also nicht (nur), weil sie ArbeiterInnen hasst, sondern weil sie sich dazu gezwungen sieht, um ihre Profite zu sichern. Die bisherigen Rezepte sind nichts Neues: Senkung des Leitzinses durch die Nationalbank und keynesianische Kreditpakete, mit dem Ziel die Wirtschaft anzukurbeln. Dies verschafft ihnen im besten Fall Zeit, löst die Krise aber nicht ansatzweise. Man erinnere sich nur an Japans gescheiterte Investitionspolitik (nach dem Präsidenten Shinzo Abe „Abenomics“ genannt) oder verschiedene europäische Staaten. Auch Präsidentin Park dürfte sich dessen bewusst sein, was auch ihr scharfes Vorgehen gegen die organisierte ArbeiterInnenschaft erklärt. Wie Karl Marx schon im Kommunistischen Manifest erklärt hatte, versucht die Bourgeoisie immer, die Krisen u.a. durch gründlichere Ausbeutung der eigenen Märkte zu überwinden. Da steht eine kämpferische Arbeiterklasse nur im Weg. Unternehmer und Staat konnten in der Vergangenheit die Arbeiterklasse teilweise erfolgreich spalten. Da in Südkorea fast nur Südkoreaner leben, liess sich die Schuld für ausbleibende ökonomische Erfolge schlecht auf die Ausländer schieben. Dafür wurde quasi eine „Arbeiteraristokratie“ geschaffen, indem man einigen Angestellten im Industriebereich bessere Bedingungen und Löhne zugestand. Im Gegenzug haben diese dann ihre Privilegien gegen die unteren Schichten der Arbeiterklasse verteidigt und die Sache der Unternehmer vertreten. Im Zuge der aktuellen Krise kommen jedoch auch diese vermehrt wieder unter Druck und ergreifen Kampfmassnahmen.

Generalstreik

Die mächtigste Kampfmassnahme wurde von der KCTU und ihren Verbündeten (Bauern, Studenten) dieses Jahr bereits mehrmals genützt. Nachdem im April 250’000 und im Juli 45’000 die Arbeit niedergelegt und demonstriert hatten, fand der neuste Generalstreik am 16. Dezember statt. Die Mobilisierung war nicht mehr so gross wie in vergangenen Streiks, trotzdem beteiligten sich knapp 75’000 ArbeiterInnen aus 26 Gewerkschaften in 16 Provinzen. Mit dabei waren Angestellte wichtiger Firmen wie Hyundai und Kia Motors. Arbeitsminister Lee Ki-kwon nannte den Streik „illegal und politisch motiviert“ während sich die KCTU kämpferisch gab und betonte, man sei bereit für weitere Massnahmen und Streiks im neuen Jahr.

Düstere Aussichten und grosse Aufgaben

Eine Zukunft im Kapitalismus sieht für die Massen Südkoreas tatsächlich düster aus. Parallel zur Krise in China wird sich Südkorea nicht schnell aus der Stagnation befreien können. Unterzunehmender Präkarisierung und autokratischer Herrschaft werden Jugendarbeitslosigkeit (momentan 8%) und Altersarmut zunehmen, sowie Grundrechte weiter angegriffen werden. Die Massen Südkoreas müssen sich bewusstwerden, dass ein Generalstreik den Kurs von Park nicht ändern wird. Die Präsidentin und ihre Entourage sind entschlossen ihre Macht zu halten und nicht aus der Hand zu geben. Die KCTU muss ihr oppositionelles Bündnis erweitern und den politischen Kampf auch mit der verbündeten Arbeiterpartei führen. Die Hälfte der organisierten Arbeiter sind momentan bei der rechten FKTU. Auf diese muss ohne Furcht zugegangen werden und der Verrat ihrer Führung vor ihren Augen offengelegt werden. Es liegt in der Verantwortung der KCTU, einen 24-stündigen Generalstreik einzuberufen, damit das ganze Land merkt, wer die eigentliche Macht hat.