[dropcap]A[/dropcap]m 20. August 1940 wurde auf Leo Trotzki ein Mordanschlag verübt. Dieser erliegt am folgenden Tag seinen Verletzungen. Wer war Leo Trotzki?

Am 7. November 1879 wurde Leo Trotzki als Leo Davidowitsch Bronstein auf dem Gut Janowka in der Südukraine geboren. Er war das 5. Kind einer jüdischen Familie, die mit 200 ha Grundbesitz zur mittleren Bauernschaft gezählt werden konnte.

Sozialistische Untergrundarbeit in Odessa

Im Jahre 1888 siedelt Leo Davidowitsch nach Odessa am Schwarzen Meer über. Dort besucht er die Realschule. 1896 nimmt er Kontakt mit einer sozialistischen Gruppe auf, die sich zu den Narodniki ( „Volkstümlern“) bekennt. Er „verschlingt“ sozialistische Literatur und schreibt politische, anfänglich auch polemische Artikel gegen den Marxismus. Ein Jahr später jedoch liest er marxistische Schriften, bekennt sich zum Marxismus und nimmt Kontakt mit Industriearbeitern auf.
Er wird Mitbegründer des „Südrussischen Arbeiterbundes“. Auf einem selbstgebastelten Apparat vervielfältigen die jungen Revolutionäre eine Flugblattserie unter dem Titel „“Nasche Delo“ ( „Unsere Stimme“). In „Mein Leben“ beschreibt er „wie heisshungrig die Arbeiter die geheimnisvollen Blättchen mit den lila Buchstaben lasen, einander weitergaben und heiss darüber diskutierten“.

Die Flugblätter heizen die Unruhe in den Betrieben weiter an. Anfang 1898 fliegt der Arbeiterbund auf; der junge Bronstein wird am 28. Januar ins Gefängnis eingeliefert. Es folgt ein zweijähriger Gefängnisaufenthalt, den er dazu nutzt, um sich in wissenschaftlichem Denken zu schulen. Im Moskauer Gefängnis heiratet er die Genossin Alexandra Lwowna Sokolowskaja. Im Gefängnis trifft er auf einen Wärter namens Trotzki und beschliesst, fortan diesen Namen zu tragen.

Erste Verbannung, Flucht und Exil

1900 wird Trotzki zusammen mit seiner Frau und vielen anderen GenossInnen nach Ostsibirien verbannt. Unter den Verbannten blüht eine rege politische Diskussion. Trotzki verfolgt aufmerksam die Entwicklung der russischen Sozialdemokratie. Er arbeitet sowohl theoretisch als auch praktisch, indem er sich als Schriftsteller betätigt. In zahlreichen Debatten verteidigt er die Ideen des Marxismus gegen anarchistische und reformistische Strömungen.
Trotzki erfährt von der Arbeit Lenins, der im Londoner Exil die Parteizeitung „Iskra“ ( „Der Funke“) herausgibt. Sie ist das Organ der 1898 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Die neugegründete Partei schärft ihre theoretischen und politischen Waffen im Kampf gegen die Ideen des Terrorismus, des Anarchismus, des Ökonomismus, der Volkstümler und des sogenannten „legalen Marxismus“. So legt Lenin in seiner 1902 erscheinenden Schrift „Was tun?“ sein Konzept für die Tätigkeit einer revolutionären Arbeiterpartei dar, die sowohl in politischer als auch organisatorischer Hinsicht eine ernsthaft und diszipliniert arbeitende Organisation darstellt.

Lenin erfährt in London von dem begabten jungen Genossen, der schon durch die Qualität seiner Flugblätter bekannt geworden war. Er bittet ihn um einen Besuch in der Londoner Redaktion. Trotzki, der inzwischen aus Sibirien geflohen ist und in der russischen Stadt Samara Kontakt mit der dortigen Iskra-Gruppe aufgenommen hat, macht sich auf den Weg nach London. Über Wien, wo er Sozialistenführer wie Victor Adler aufsucht, und Zürich, wo er den russischen sozialistischen Veteranen Axelrod besucht, gelangt er schliesslich im Oktober 1902 nach London.
Lenin, damals schon ein einflussreicher Kopf der russischen Sozialdemokratie, erkennt sehr schnell die ausserordentliche Begabung des erst 23-jährigen Trotzki und setzt ihn für die politische Arbeit ein – als Verfasser von Artikeln, als Verteidiger des Marxismus in Veranstaltungen und als Vortragsreisenden in Belgien, Frankreich und Deutschland.

Lenins Vorschlag, Trotzki zur sechsköpfigen Iskra-Redaktion hinzuzuwählen, scheitert jedoch am Widerspruch Plechanows (Begründer des theoretischen Marxismus und damals noch eine unbestrittene theoretische Autorität in der russischen Sozialdemokratie).

Parteitag 1903 führt zur (ungewollten) Spaltung

Trotzki bleibt bis 1903 in London und nimmt als Delegierter am 2. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands teil. Der Parteitag ist nach Brüssel einberufen worden. Die Delegierten kommen von den verschiedenen Exil- und Untergrundgruppen in Russland. Der Verlauf des Kongresses zeigt, dass die junge Partei noch viele Unstetigkeiten aufzuweisen hat. Die Partei ist bis dahin noch föderalistisch organisiert gewesen und bietet ein buntes Bild aus unterschiedlichen Ortsgruppen und isolierten lokalen Zirkeln, Exilgruppen, dem jüdischen Arbeiterbund, den Ökonomisten, den Iskra-Genossen und anderen.
Dieser Parteitag reisst, von niemandem vorhergesehen oder herbeigewünscht, tiefe Gräben in der jungen Partei auf. Auch führt er zu einem Zerwürfnis zwischen Lenin und Trotzki, das bis zur Revolution von 1917 dauern sollte.

Lenin verfolgt auf dem Kongress das Ziel, die unterschiedlichen Gruppen zu einer straff organisierten Partei zusammenzuschweissen. Auch Trotzki stellt sich hierbei auf die Seite Lenins. Lenin bekämpft die Ansichten der Ökonomisten und die Versuche des jüdischen Arbeiterbundes, autonom und ohne Anleitung durch die Gesamtpartei unter den Arbeitern zu wirken.

Der Konflikt entbrennt letztendlich jedoch in der Frage der Zusammensetzung der Iskra-Redaktion. Lenins Antrag, die Redaktion auf drei Mitglieder zu begrenzen, um die Arbeit zu straffen, stösst auf die Empörung Trotzkis und vieler anderer, zumal er mit den davon Betroffenen freundschaftlich verbunden ist.
Dieser Konflikt entzweit Lenin und Trotzki. Trotzki schlägt sich zunächst auf die Seite der „Menschewiki“ (von denen er sich aber 1904 wieder trennt) und kritisiert in seiner Verbitterung scharf das Vorgehen Lenins. Lenin aber, dem es völlig unbegreiflich ist, warum es in einer zweitrangigen Frage zur Spaltung kommen konnte, sieht darin die Zerstörung eines hoffnungsvollen Anfangs und ist (laut Memoiren seiner Frau) so schockiert, dass er wochenlang nervlich am Ende und arbeitsunfähig ist.

Lenin war übrigens alles andere als ein blindwütiger Fraktionierer und Spalter. Er tritt als Chefredakteur der Iskra zurück und bietet diesen Posten den Menschewiki an. Später kommt es sogar zu einer vorübergehenden Wiedervereinigung der Partei. 1905 wehrt er sich mit Entschlossenheit gegen Vorwürfe, er plane „in der internationalen Sozialdemokratie eine besondere Richtung ins Leben zu rufen, die mit der Richtung Bebels und Kautskys nicht identisch wäre“.
Erst die Bewährungsprobe der Revolution selbst soll zeigen, dass Lenin und Trotzki eigenständig und unabhängig voneinander fähig sind, zu den gleichen richtigen politischen Schlussfolgerungen zu kommen und entsprechend zu handeln. Doch davor liegen noch lange Jahre der Emigration, nur unterbrochen durch die russische Revolution von 1905.

Revolution 1905

Im Januar 1905 löst der russisch-japanische Krieg in Russland Massenunruhen, Streiks und eine Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin aus. Der revolutionäre Funke erfasst schnell das ganze Land. Im Spätsommer wird in St. Petersburg aus den Massenkämpfen heraus ein Arbeiterrat (Sowjet) gegründet. Trotzki – erst 25 Jahre alt – gehört zwar keiner der beiden Fraktionen der Partei an, ist aber als Herausgeber der Zeitungen „Russkaja Gazeta“ und „Natschalo“, als unabhängiger Journalist und glänzender Organisator unter den Arbeitern angesehen. Der Arbeiterrat hat insgesamt eine Lebensdauer von 50 Tagen. Er macht sich daran, einen Generalstreik vorzubereiten, Verteidigungskomitees zu bilden und die Arbeiterklasse in den grossen Städten zusammenzubringen. Schliesslich wird Trotzki zum Vorsitzenden des Arbeiterrates gewählt. Während er eine Sitzung des Sowjets leitet, dringt die Polizei ein und verhaftet die Mitglieder des Arbeiterrates.

Seine (Trotzkis) Popularität im Petersburger Proletariat ist in jener Zeit sehr gross und steigt noch mehr infolge seines ungewöhnlich wirkungsvollen und heroischen Verhaltens vor Gericht. Ich muss sagen, dass die Jahre 1905-1906 Trotzki trotz seiner Jugend unter allen sozialdemokratischen Führern als am besten vorbereitet gefunden haben…“

schreibt später der Revolutionär Lunatscharski in seinem Buch „Silhouetten“.
Trotzki selbst schreibt über seine erste revolutionäre Bewährungsprobe:

Im Leben Russlands war die Revolution von 1905 die Generalprobe für die Revolution von 1917. Die gleiche Bedeutung hat sie auch in meinem Leben gehabt…“

Zweite Verbannung und Flucht

Das Jahr 1906 verbringt Trotzki, wie viele Revolutionäre, im Gefängnis. Er befasst sich ausführlich mit den Lehren der Ereignisse von 1905 und entwickelt daraus die Idee der „Permanenten Revolution“:

Ihren direkten und unmittelbaren Aufgaben nach ist die russische Revolution eine „bürgerliche“… Aber die Hauptantriebskraft dieser Revolution bildet das Proletariat – und daher ist sie ihrer Methode nach eine proletarische.“

Er kommt zu einer durch Klarheit und Weitsicht glänzenden Perspektive, wie sie von Lenin selbst erst Anfang 1917 voll erkannt wird.:

In einem wirtschaftlich rückständigen Land kann das Proletariat die Macht eher ergreifen, als in Ländern mit fortgeschrittenem Kapitalismus… Die Russische Revolution erzeugt Bedingungen, unter denen die Macht… in die Hände des Proletariats übergehen kann, bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus die Gelegenheit gehabt haben, ihre staatsmännische Weisheit zu zeigen.“

Im Oktober 1906 werden die Mitglieder des Petrograder Sowjets vor Gericht gestellt. Trotzki hält im Verlauf dieses Prozesses eine glänzende Verteidigungsrede und erklärt über den bewaffneten Aufstand:

Nicht die Fähigkeit der Massen, andere zu töten, sondern ihre grosse Bereitwilligkeit – das, meine Herren Richter, sichert von unserem Standpunkt aus in letzter Instanz den Sieg des Volksaufstandes.“

Die Angeklagten werden zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt, Anfang 1907 beginnt der Abtransport. Im Februar und März flieht Trotzki auf abenteuerliche Weise in mehreren Etappen aus Sibirien und kommt schliesslich im April in London an, wo er am 5. Parteitag der SDAPR teilnimmt und die Gelegenheit hat, seine Ideen der Permanenten Revolution vorzutragen.
Trotzkis Forderung nach einer Wiedervereinigung von Bolschewiki und Menschewiki ist nicht abwegig. Nach der Revolution von 1905 arbeiten sowohl Menschewiki wie Bolschewiki auf dieses Ziel hin. 1906 findet in Stockholm ein „Wiedervereinigungsparteitag“ statt. Doch die Verschärfung der diktatorischen Unterdrückungsmassnahmen in Russland fördert neue Spaltungstendenzen: Im „menschewistischen“ Lager machen sich Strömungen breit, die unter dem Druck der Diktatur die gesamte straff disziplinierte Partei auflösen und sich stattdessen nur noch auf legale parlamentarische und gewerkschaftliche Arbeit beschränken wollen ( „Liquidatorentum“). So gehen auch Lenin und Trotzki weiterhin getrennte Wege.

Trotzki hält sich in den Jahren bis zum Kriegsausbruch 1914 in Europa auf, hauptsächlich in Österreich und später in den Balkanländern. Er nimmt aktiv am Leben der örtlichen Arbeiterbewegung teil, gibt russische Emigrantenzeitungen heraus, schreibt Artikel für die sozialdemokratische Presse verschiedener Länder und nimmt an internationalen sozialistischen Kongressen (wie etwa in Stuttgart 1907) teil.

1912 kommt es in Russland erneut zu grösseren Klassenkämpfen, nachdem die Arbeiterklasse lange Jahre schwarzer Reaktion unter dem Diktator Stolypin durchlitten hat. Für Trotzki ist dieser rasche Aufschwung der Arbeiterbewegung ein neuer Anlass, um die Vereinigung der verschiedenen sozialdemokratischen Strömungen voranzutreiben. Er hofft, die neuen Entwicklungen in Russland werden auch die Menschewiki wieder in Richtung revolutionäre Politik treiben. Schon 1911 hatte Rosa Luxemburg gefordert, „eine aus Russland beschickte Konferenz zustandezubringen, denn die Leute in Russland…sind die einzige Macht, die die ausländischen Kampfhähne zur Raison bringen wird.“

Augustblock 1912

Trotzki ruft im August 1912 Vertreter der verschiedenen Strömungen zu einer Konferenz nach Wien zusammen. Lenin und die Bolschewiki sind nicht vertreten. Am ersten Tag nach der Konferenz fängt der „Augustblock“ wieder an auseinanderzubröckeln. Später erkennt Trotzki seinen Irrtum: Die Unmöglichkeit, die beiden Strömungen zu versöhnen, die sich fünf Jahre später in der Revolution als offen feindlich gegenüberstehen sollten.

Noch im selben Jahr wird der Bruch zwischen Bolschewiki und Menschewiki besiegelt. Nach den harten Jahren der Diktatur hat sich gezeigt, wer zur Arbeiterklasse steht und wer nur ein Schönwetter-Freund und kluger Exilratgeber ist. Für Lenin und die Bolschewiki ist die Zeit ist gekommen, um endgültig mit den menschewistischen Liquidatoren zu brechen und eine Partei auf der Grundlage der wirklichen Arbeiterkämpfe aufzubauen.

Das Jahr 1912 verschärft wieder das persönliche Klima zwischen Lenin und Trotzki. Aus jener Zeit lassen sich Dutzende von Zitaten anführen, in denen sowohl Lenin wie auch Trotzki kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn es darum geht, entsprechende Tendenzen des anderen zu kritisieren. (Jahrzehntelang dienten solche Zitate den offiziellen Geschichtsschreibern in Sowjetunion und DDR dazu, Trotzki als „Anti-Leninisten“ zu verunglimpfen!.)

Aber was letztendlich vor der Geschichte zählt, sind nicht isolierte Zitate, die unter speziellen Umständen und in der vergifteten Emigrantenatmosphäre entstanden sind. Die eigentliche Bewährungsprobe für Revolutionäre ist schliesslich die Revolution selbst. Ausserdem hilft ein Blick auf die „alten Bolschewiki“, um festzustellen wie hilflos sie, die immer treu und redlich alles, was Lenin sagte, nachredeten, waren, wenn es darum ging, in Lenins Abwesenheit Entscheidungen zu treffen.

Weltkrieg und Revolution

Die Entwicklung des 1914 ausbrechenden Weltkriegs bringt Lenin und Trotzki in politischer Hinsicht wieder einander näher. Beide kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Unterstützung der jeweiligen nationalen Kriegspolitik durch die sozialdemokratischen Parteien einem Zusammenbruch der Sozialistischen Internationale gleichkommt. Beide erkennen die Notwendigkeit, alle echten revolutionären Internationalisten zusammenzubringen. So nehmen im September 1915 beide an einer internationalen sozialistischen Konferenz im Schweizer Bergdorf Zimmerwald teil. Trotzki verfasst das Zimmerwalder Manifest:

Proletarier! Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft, euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache, für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf.“

1915/16 lebt Trotzki in Paris und gibt dort eine russische Migrantenzeitung heraus. Wegen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ wird er aus Frankreich ausgewiesen und über Spanien nach New York abgeschoben, wo er Anfang 1917 ankommt.
Er nimmt sofort wieder seine politische und journalistische Arbeit auf. Doch der Aufenthalt in den USA ist von kurzer Dauer. Wenig später erfährt die Welt vom Ausbruch der russischen Februarrevolution und dem Sturz der Zarenherrschaft. Noch im März 1917 bricht die Familie, an Bord eines norwegischen Schiffes, nach Russland auf.
Die Arbeiterklasse hat zwar die Februarrevolution durchgeführt und faktisch die Macht in ihren Händen, aber die Führer der Arbeiterparteien fördern über die Arbeiterräte die Bildung einer provisorischen Regierung des liberalen Bürgertums, der sie ihre Unterstützung zusagen. Andererseits jedoch verbleibt die entscheidende Kontrolle über die Betriebe, die Arbeiterviertel und eine wachsende Zahl von Armee und Marineeinheiten in den Händen der Arbeiterräte (Sowjets). Doch die neue provisorische Regierung erweist sich sehr schnell als völlig unfähig, auch nur ein grundlegendes Problem anzupacken (wie z.B.: den Frieden, die Aufteilung des Landes an die Bauern, die Abschaffung der Lebensmittelknappheit…).

Lenin und Trotzki kommen 1917 (durch einen Ozean voneinander getrennt und ohne Kontakt zueinander) zu ein und derselben Schlussfolgerung: Die Februarrevolution müsse zwangsläufig und unmittelbar zu einer zweiten russischen Revolution führen, nämlich zur Machteroberung durch die Arbeiterklasse.
Als Lenin Anfang April 1917 in Petrograd ankommt, muss er entsetzt feststellen, dass die bolschewistische Zeitung „Prawda“ zur „kritischen Unterstützung“ der provisorischen Regierung und zur Vaterlandsverteidigung aufruft. Lenin erreicht es durch harten und zähen Kampf, die Partei wieder auf die Linie der gnadenlosen Kritik an der provisorischen Regierung zu bringen.

Einen Monat später, am 17. Mai, kommt Trotzki in Petrograd an. Zunächst arbeitet er mit der um ihn gescharten Organisation („Zwischengruppe“) zusammen, in der mehrere Arbeiter und später bekannt gewordene Revolutionäre, wie Joffe, Uritzki und Lunatscharski, Mitglied sind. Lenin und Trotzki erkennen, dass Bolschewiki und „Zwischengruppe“ weitgehend auf derselben politischen Grundlage stehen; und Lenin spricht sich für eine Vereinigung der beiden Gruppen aus:

Unter diesen Umständen wäre unserer Meinung nach eine Zersplitterung der Kräfte, welcher Art auch immer, durch nichts zu rechtfertigen.“

Im Sommer vereinigen sich die Bolschewiki mit der „“Zwischengruppe“. Auf dem Parteitag im August 1917, der eine Weichenstellung für die Orientierung auf Machteroberung bringt, wird Trotzki in das Zentralkomitee gewählt.

Oktoberaufstand

Trotzki, dessen Popularität unter den Petrograder Arbeitern schon wegen seiner Rolle in der Revolution 1905 ungebrochen ist, wird am 6.Oktober zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. Inzwischen hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Bolschewiki gewandelt, weil nur sie es verstehen, in klaren und einfachen Parolen die Bedürfnisse der Arbeiter aufzugreifen. Das Zentralkomitee beschliesst die Durchführung des Aufstandes. Trotzki leitet, als Vorsitzender des revolutionären Militärausschusses, die Machteroberung in Petrograd. Der Aufstand greift schnell auf die anderen Industriezentren des Landes über.

Am ersten Jahrestag des Oktoberaufstandes kommt Stalin zu der Feststellung:

Die gesamte Arbeit der praktischen Vorbereitung des Aufstandes verlief unter der direkten Leitung des Petrograder Vorsitzenden der Sowjets, Trotzki. Man kann mit Bestimmtheit behaupten, dass die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die richtige Organisierung der Arbeit des revolutionären Kriegskomitees vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankte.“

In den Monaten und Jahren nach dem Oktoberaufstand wird die junge Sowjetrepublik vor schwere Bewährungsproben gestellt: Im Bürgerkrieg versucht die alte herrschende Klasse, die Macht zurückzuerobern. 21 imperialistische Armeen dringen von allen Seiten vor, um die Revolution zu zerschlagen, die Wirtschaft ist zerrüttet, Hungersnöte kosten unzählige Menschenleben. Gerade in diesen schweren Zeiten ist Leo Trotzki an den Brennpunkten im Einsatz. Zunächst als Aussenminister der neuen Regierung unter Lenin, dann bis 1925 als Kriegskommissar. Hier baut er sozusagen aus dem Nichts die Rote Armee auf. Den Grossteil der Jahre bis 1920 verbringt er in einem Sonderzug, mit welchem er von Frontabschnitt zu Frontabschnitt eilt und die Aktionen der Armee leitet.
Es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass ohne seinen unermüdlichen Einsatz die technisch schlecht ausgerüstete, dafür politisch hochmotivierte Rote Armee kaum den Sieg über den inneren und äusseren Feind erreicht hätte.

Kommunistische Internationale

Ab 1920 konzentriert sich Trotzki dann auf Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und erwirbt sich dabei besondere Verdienste durch die Aufrichtung des trostlos darniederliegenden Eisenbahnwesens. Lenin und Trotzki richten auch in dieser Zeit – neben der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften – ihr Hauptaugenmerk darauf, die internationale Revolution voranzutreiben. Und in der Tat kommt es nach Kriegsende in einer Reihe von Ländern zu revolutionären Situationen, die der in Russland 1917 ähneln. Aber diese erste Welle geht vorüber, ohne dass es in irgendeinem Land gelingt, nach russischem Vorbild den Kapitalismus zu stürzen. Überall werfen sozialdemokratische Führer ihre ganze Autorität in die Waagschale, um die Massen zu „mässigen“, und die echten Marxisten und Revolutionäre sind meistens in der Minderheit und vor allem zu unerfahren, um sich ähnlich wie Lenin, Trotzki und die Bolschewiki 1917 die Situation zunutze zu machen.

1919 wird in Moskau die Kommunistische „Dritte“ Internationale gegründet, die innerhalb weniger Jahre zu einem machtvollen Zusammenschluss zahlreicher kommunistischer Massenparteien wird und deren Führung und Massenbasis sich fast durchweg aus den Reihen der Sozialdemokratie heraus bildet. Trotzki findet neben seinen praktischen Aufgaben noch Zeit, um die Manifeste und Resolutionen der Komintern zu verfassen. Doch die Hoffnung auf eine Revolution in einem fortgeschrittenen Industrieland erfüllt sich nicht. 1923 muss Trotzki mit ansehen, wie eine erneute revolutionäre Situation in Deutschland vorübergeht, ohne dass die KPD daraus rechtzeitig praktische Konsequenzen zieht.

Rückschlag in Russland und Anfänge des Stalinismus

Die Isolation der russischen Revolution und die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit des Landes sowie die Erschöpfung der Arbeiterklasse und ihre Ausblutung durch Krieg und Bürgerkrieg schaffen Bedingungen, unter denen die Bürokratie des riesigen Staates Auftrieb bekommt und sich immer weiter verselbständigt. Karrieristen und dringend benötigte Fachleute, die 1917 entweder gegen die Revolution gewesen waren oder sich sonstwohin verkrochen hatten, strömen in die Partei und gewinnen immer mehr Einfluss. Lenin greift diese Tendenzen in den letzten Jahren seines Lebens offen und ehrlich auf. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass nicht die Kommunisten den riesigen Staatsapparat lenken, sondern der Apparat sich allmählich der Kommunisten bemächtigt. Unter diesen Bedingungen beginnt der Aufstieg Josef Stalins vom Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees und zunächst relativ unwichtigen „Generalsekretär“ zum Diktator eines Polizeistaats, der zynisch und rücksichtslos Machtpolitik betreibt und seine Gegner ausrotten lässt.

Stalin gehört zwar zur Gruppe der Altbolschewisten und Anhänger Lenins, ist aber weder vor noch während der Revolution durch eigenständige theoretische Beiträge hervorgetreten. Stalins Fähigkeiten liegen vielmehr im Bereich des Apparats. So nutzt er seine Position aus, um eine Gruppe von Anhängern um sich zu scharen. Trotzki wird immer weiter isoliert. Nach Lenins Tod im Januar 1924 kehrt sich Stalin offiziell von der Politik Lenins ab und verkündet den Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“.

Damit beginnt die Entartung der Kommunistischen Internationale, was zwei Jahrzehnte später zu ihrer Auflösung führt. Trotzki erweist sich als das Haupthindernis für die Festigung der bürokratischen Herrschaft. So lässt Stalin ihn aus seinen wichtigsten öffentlichen Ämtern entfernen, und seine „roten Professoren“ beginnen, den Namen Trotzki allmählich aus den Geschichtsbüchern der Revolution zu streichen. Alte Meinungsverschiedenheiten mit Lenin aus der Zeit vor 1917 werden wieder hervorgekramt und sinnentstellend zitiert, als ob es eine Todsünde sei, dem Meister Lenin widersprochen zu haben. Doch dabei bleibt es nicht. Zehntausende alter Bolschewiki und Anhänger der 1927 von Trotzki gegründeten Linken Opposition werden aus der Partei entfernt, nach Sibirien verbannt und schliesslich hingerichtet. Trotzki wird 1928 nach Alma Ata an der mongolischen Grenze verbannt und 1929 gewaltsam in die Türkei ausgewiesen.

Niederlagen und Rückschläge

Die 30er Jahre stehen im Zeichen verheerender Niederlagen und Erschütterungen für die internationale Arbeiterbewegung. Der Faschismus ist auf dem Vormarsch. In der Sowjetunion wird eine ganze Generation von Revolutionären ausgerottet.
Trotzki ist in diesen schwarzen Jahren gezwungen, aus der Ferne den Entwicklungen zuzusehen und versucht, Anhänger um sich zu organisieren. 1932 spricht er in Kopenhagen vor einer Versammlung sozialdemokratischer Studenten. Von 1933 bis 1937 wird er als Staatenloser in Frankreich und Norwegen hin- und hergeschoben, gehetzt und gejagt. Ab 1937 verbringt er die letzten Lebensjahre in Mexiko. Trotz schwerster Bedingungen, Krankheit und Not verfasst er gerade in jenen Jahren zahlreiche Bücher und Schriften, so über Deutschland und Spanien, die „Verratene Revolution“….

Nachdem sich Komintern und KPD 1933 weigern, aus der verheerenden Niederlage der deutschen Arbeiterklasse die Schlussfolgerungen zu ziehen, kommt er zu der Einsicht, dass diese Internationale nicht mehr auf den Boden Leninscher Politik zurückzubringen ist und nur noch eine neue Internationale fähig sein könnte, die Arbeiterklasse der Welt an die Macht zu führen. Trotzki arbeitet auf den Neuaufbau einer solchen Internationale hin, die sich schliesslich 1938 als die „4. Internationale“ gründet. Er muss aber erkennen, dass viele seiner Anhänger dem unmenschlichen Druck faschistischen und stalinistischen Terrors kaum standhalten können.

Nachdem schon einzelne Familienmitglieder von den Stalinisten in den Tod getrieben worden waren, kann sich ein stalinistischer Agent in das Haus Trotzkis einschleusen. Am 20. August 1940 verübt er einen Mordanschlag auf Trotzki. Dieser erliegt am folgenden Tag seinen Verletzungen.
Bis zu seinem letzten Tag hat er seinen revolutionären Optimismus behalten. In seinem Testament schreibt er wenige Monate vor seiner Ermordung:

Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker, als in meiner Jugend…. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll geniessen.“


Trotzkis Stalin-Biografie erstmals komplett und unzensiert veröffentlicht

Rechtzeitig zu diesem Jahrestag veröffentlicht die Internationale Marxistische Tendenz (IMT) das letzte grosse Werk Leo Trotzkis – die Stalin-Biografie. Aus diesem Anlass fand am 20.8. um 19 Uhr Ortszeit (1 Uhr früh MESZ) im zu einem Museum umgebauten ehemaligen Wohnhaus Leo Trotzkis in Mexico City eine Gedenkveranstaltung statt. Mit dabei: Alan Woods (Sprecher der IMT und Redakteur von marxist.com) sowie Trotzkis Enkelsohn Esteban Volkov, der als Heranwachsender den Tag der Ermordung seines Grossvaters im Hause erlebte und sich dem politischen Erbe Leo Trotzkis verpflichtet fühlt.

Trotzkis Buch mit dem Titel „Stalin“ liegt nun erstmals in kompletter, unverfälschter Fassung und mit einem Vorwort von Esteban Volkov vor. Eine von dem US-amerikanischen Professor Charles Malamuth übersetzte und im Jahre 1946 aufgelegte Fassung des Buchs war nach gründlichen IMT-Recherchen höchst unvollständig und enthielt zudem eigentlich unzulässige Kommentierungen des Übersetzers. So wurde das Werk auf der Grundlage von in der US-amerikanischen Harvard University aufbewahrten Originalmanuskripten Leo Trotzkis um Texte im Umfang von rund 100.000 Anschlägen bzw. um rund 30 Prozent erweitert. Die erstmalige Übersetzung dieser Passagen aus der russischen in die englische Sprache stammt von Alan Woods. Durch die Mithilfe vieler Freiwilliger wurde die Fertigstellung des Buches ermöglicht. Übersetzungen in die spanische und andere Weltsprachen werden folgen.

„Die Neuauflage von Stalin bereichert und ergänzt das riesige Arsenal an marxistischer Theorie, das von Leo Trotzki hinterlassen wurde“, so Esteban Volkov. Er zeigt sich froh darüber, dass nun nach langen Jahrzehnten endlich eine unverfälschte Ausgabe des Werks fertig geworden ist. Das gut 800 Seiten umfassende Buch beschreibt Stalins Werdegang vom unbekannten georgischen Klosterschüler in die Führungsgremien der Bolschewistischen Partei und schliesslich an die Spitze einer monströsen Diktatur. Trotzki schildert die Russische Revolution von 1917, beschreibt deren Entartung und erklärt das Zusammenspiel zwischen grossen historischen Ereignissen und der Rolle des Individuums in der Geschichte in einem Ausmass, das in der marxistischen Literatur selten erreicht wird.

“Wir haben damit erstmals wichtige Aussagen und Analysen Leo Trotzkis herausgegeben, die bei früheren Ausgaben willkürlich weggelassen wurden und ein dreiviertel Jahrhundert in staubigen Kartons gelagert haben“, so Alan Woods. „Damit stellen wir einer jungen, nach radikalen Veränderung der Welt strebenden Generation wertvolle Ideen und Theorien zur Verfügung.“

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