[dropcap]V[/dropcap]or hundert Jahren haben die arbeitenden und ausgebeuteten Massen in Russland unmissverständlich „Nein“ gesagt zu Krieg, Krise, Elend und Fremdherrschaft. Sie haben erstmals den Versuch gewagt, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Ihr Werkzeug dafür war die Partei der Bolschewiki.

Von der russischen Revolution lernen, heisst in erster Linie siegen lernen. So schrieb die Revolutionärin Rosa Luxemburg kurz nach der Revolution, dass die Zukunft überall dem Bolschewismus gehören soll. Bis heute versuchen GegnerInnen, die Errungenschaften und die Perspektiven der russischen Revolution schlecht zu reden, zu verfälschen oder sie zu verteufeln. Als revolutionäre MarxistInnen geht es uns weder darum, die Revolution als toten geschichtlichen Gegenstand zu betrachten noch sie unkritisch zu feiern. Es geht darum, die wichtigsten Lehren und Erfahrungen aus ihr zu ziehen. Diese versuchen wir für die neue Generation von RevolutionärInnen fruchtbar zu machen und im aktuellen Kampf für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft in die Praxis umzusetzen.

Erfolge verteidigen

Bestimmte zentrale Errungenschaften der Revolution können trotz der verschiedenen früheren und aktuellen Schmutzkampagnen nicht zurückgewiesen werden. Die erfolgreiche russische Revolution hat die alten barbarischen Zustände samt ihrer alten Elite über den Haufen geworfen. Unter der Führung der Bolschewistischen Partei mit Lenin und Trotzki hat im Oktober die noch junge ArbeiterInnenklasse in Russland die Macht übernommen. Dabei wurden sie durch die enorme Mehrheit der anderen unterdrückten Klassen und Schichten unterstützt. Der neue «Arbeiter- und Bauernstaat», welcher mit seinen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets auf dem direktdemokratischen Räteprinzip aufbaute, war zu diesem Zeitpunkt unwiderlegbar das demokratischste Staatsprojekt in der bisherigen Geschichte.

Öffentliches Eigentum und demokratisch geplante Wirtschaft – als Inbegriff der Befreiung der arbeitenden Klasse – trugen ausserdem dazu bei, dass sich die revolutionäre Stimmung wie ein Lauffeuer auf die globale ArbeiterInnenbewegung ausbreitete. ArbeiterInnen weltweit gingen für die Ideen der russischen Revolution massenweise auf die Strasse und versuchten in vielen Ländern ihre eigenen Revolutionen zu machen. Leider scheiterten diese Bewegungen aufgrund verschiedener Faktoren, besonders durch Fehler und den Verrat ihrer Führungen. Die Idee des proletarischen Internationalismus sowie einer klassen- und staatslosen Gesellschaftsordnung setzte sich jedoch in den Köpfen der Arbeiter und ArbeiterInnen fest. Trotz des Stalinismus und des Niedergangs der Sowjetunion konnten sie nie aus dem Gedächtnis der Unterdrückten dieser Welt gelöscht werden. Diese Ideen und dass sie siegreich sein können, sind das wichtigste Erbe der russischen Revolution von 1917.

Revolutionäre Theorie

Eine weitere zentrale Lehre für Revolutionäre ist die Wichtigkeit einer umfassenden revolutionären Theorie, auf welcher die sozialistische Revolution fusst. Diese hatten die Bolschewiki im Marxismus gefunden. Trotzki fasste diese in seiner Kopenhagener Rede zur russischen Revolution folgendermassen zusammen:

«Die menschliche Gesellschaft ist eine geschichtlich im Kampfe um das Dasein und die Sicherung der Aufrechterhaltung der Generation entstandene Kooperation. Der Charakter der Gesellschaft wird durch den Charakter ihrer Wirtschaft bestimmt. […] Jeder großen Epoche in der Entwicklung der Produktionskräfte entspricht ein bestimmtes soziales Regime. Jedes soziales Regime sicherte bisher der herrschenden Klasse ungeheure Privilegien. […] Die Revolution bedeutet folglich einen Wechsel des sozialen Regimes. Sie übergibt die Macht aus den Händen einer Klasse, die sich erschöpft hat, in die Hände der anderen Klasse, die im Aufsteigen begriffen ist. Der Aufstand bildet den kritischsten und schärfsten Moment im Ringen zweier Klassen um die Macht. Der Aufstand kann nur in dem Falle zum wirklichen Siege der Revolution und zur Errichtung eines neuen Regimes führen, wenn er sich auf eine fortschrittliche Klasse stützt, die fähig ist, die überwältigende Mehrheit des Volkes um sich zu scharen.»

Internationale Perspektive

Auf der theoretischen Grundlage des Marxismus war es besonders Lenin und Trotzki möglich, die Situation in Russland und des Weltkapitalismus richtig zu analysieren und eine korrekte Perspektive daraus zu entwickeln. Konkret: Trotz der Rückständigkeit des halbfeudalen Russlands im Vergleich mit den weiterentwickelten kapitalistischen Ländern sagten sie voraus, dass auch in Russland das Proletariat und nicht das schwache Bürgertum die Rolle spielen musste, die Revolution anzuführen und das autokratische Regime zu stürzen. Dies widersprach den Ansichten der meisten ihrer sozialdemokratischen MitstreiterInnen zu dieser Zeit, welche sich starr auf den Feschluss von Marx beriefen, dass nach dem Feudalismus zwingend ein demokratisch-bürgerliches Regime folgen müsse.

Lenin und Trotzki sahen Russland aber nicht einfach als rückständiges Land, sondern als Teil des Weltmarktes und somit als Teil des kapitalistischen Weltsystems. Wie wir heute wissen, lagen sie mit dieser Annahme richtig. Schon die Februarrevolution wurde nicht von den bürgerlichen und auch nicht von den linken Parteien angeführt, sondern von den städtischen ProletarierInnen. Die bürgerlichen Parteien, wie auch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre waren weder fähig, noch willens, die drängendsten Probleme der Massen wie die Fragen der Landreform, des sozialen Elends oder die Friedensfrage zu lösen.

Und dies obwohl sie die Macht nach dem Sturz des Zaren von der Bewegung in ihre Hände gelegt bekamen. Diese falsche Politik, welche nicht zuletzt auf falschen theoretischen Konzepten beruhten, ebnete schliesslich den Weg für eine gewählte bolschewistische Mehrheit in den Sowjets im Oktober und zur Machtergreifung der Bolschewiki. Der Erfolg der Oktoberrevolution zeigte beispielhaft die Wichtigkeit einer umfassenden Gesellschaftstheorie und richtiger Perspektiven. Diese Rolle spielte in Russland der Marxismus und mit ihm die Methode des wissenschaftlichen Sozialismus. Dieser ermöglichte es den MarxistInnen, die Situation und die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen richtig zu analysieren und die richtigen Strategien daraus abzuleiten.

Theorie ist nicht genug

Auch eine noch so korrekte Theorie reicht aber noch lange nicht für eine erfolgreiche Revolution. Diese folgt nicht blind naturgeschichtlichen Gesetzmässigkeiten sondern wird aktiv von Menschen und durch Menschen verwirklicht. So folgerte Trotzki für die Revolution, dass gerade das «aktive Eingreifen der Massen in die Ereignisse das unerlässlichste Element der Revolution» bildet. Das Ignorieren dieses Umstands war unter anderem der Grund dafür, dass im Februar praktisch alle politischen Parteien und Organisationen die Massenbewegung nicht kommen sahen, welche zum Sturz des Zaren führte.

Eine Garantie für einen erfolgreichen Massenaufstand gibt es aber nicht: Wie Trotzki es formulierte, kann «selbst die stürmischste Aktivität im Stadium der Demonstration verbleiben, ohne sich auf die Höhe der Revolution zu erheben. Der Aufstand der Massen muss zur Niederwerfung der Herrschaft einer Klasse und zur Aufrichtung der Herrschaft einer anderen führen.» Diese entscheidende Rolle kommt der revolutionären Partei oder Organisation zu, welche Ausdruck der bewusstesten Teile der fortschrittlichen Klasse sein soll. Diese Partei soll fähig sein, «sich in der Umgebung zu orientieren, Gang und Rhythmus der Ereignisse abzuschätzen und rechtzeitig das Vertrauen der Massen zu erobern, um die proletarische Revolution zum Sieg zu bringen.»

Die Rolle der Bolschewiki

Exakt diese Rolle spielten Lenin und die Bolschewiki in Russland. Auch wenn sie während dem 1. Weltkrieg auf eine kleine, zersplitterte Gruppe in Russland zurückgedrängt wurden, zeichnete sich die Partei durch einen harten Kern von gut ausgebildeten und disziplinierten Revolutionären, eine lebendige Parteidemokratie, einen funktionierenden Parteiapparat und -presse aus. Zudem hatten sie trotz der widrigen Bedingungen starke Wurzeln besonders bei der Jugend des städtischen Proletariats und in der sozialistischen Bewegung geschlagen.

Wie wichtig eine solche revolutionäre Partei ist, zeigte sich konkret in der Zeit zwischen der Februarrevolution und dem Oktoberaufstand. Dabei gelang es den Bolschewiki durch geduldiges Erklären und der richtigen Taktik, die Mehrheit der Massen für ihr Programm zu gewinnen. Trotzki fasst die Wichtigkeit der revolutionären Partei in der russischen Revolution folgendermassen zusammen: «Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf!» Es ist nicht schwierig nachzuvollziehen, dass die Oktoberrevolution ohne Lenin, Trotzki und die Bolschewistische Partei nicht möglich gewesen wäre.

Lernen, organisieren, handeln

Gerade für heute ist es zentral, dass wir uns diese Lehren aus der russischen Revolution ins Gedächtnis rufen und sie vertieft studieren. Neben vielen anderen Fragen, welche sich in der russischen Revolution stellten und in anderen Artikeln im Jubiläumsjahr behandelt werden, sind jene nach der theoretischen Grundlage und der revolutionären Organisation – oder anders der Wechselbeziehung zwischen den objektiven und subjektiven Faktoren – zentral für deren Erfolg. Und mit ihr für jede zukünftige sozialistische Revolution. Wir sehen heute zwei Dinge: Das kapitalistische System und mit ihm die herrschenden Eliten stecken in der schlimmsten Krise seit langer Zeit. Zweitens herrscht in der Linken sowohl auf der theoretischen Ebene wie auch in der Frage des subjektiven Faktors – der Partei – grosse Ratlosigkeit und Verwirrung.

Die lohnabhängigen Massen in Europa und weltweit suchen aktuell immer stärker nach Auswegen aus ihrer Misere und verlieren je länger je mehr das Vertrauen in die herrschende Ordnung. Diese Situation ist gut vergleichbar mit der Zeit der russischen Revolution. Auch haben sich die grundsätzlichen Probleme und Merkmale des Systems nicht geändert. Trotz der Verschiedenheit einzelner Faktoren wie beispielsweise der technologischen oder der sozialen Fortschritte. Wie ein Hund ein Hund bleibt, egal ob er längere Haare oder eine kürzere Schnauze hat, ist der Kapitalismus als System immer noch der Kapitalismus – ganz gleich ob Raubtier-, Casino- oder Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Heute wie damals ist es die Aufgabe von SozialistInnen ihn zu stürzen und den Sozialismus zu errichten. Für diese Aufgabe benötigen wir aber das richtige Programm, die richtigen Methoden und die richtige Organisation!

Diese finden wir im Marxismus und im Aufbau einer revolutionären Partei, welche die Erfahrung aus den vorangegangen Revolutionen studiert, daraus die richtigen Lehren zieht und diese wieder in Bewegung hineinträgt. Dafür ist das Studium vergangener Revolutionen zentral. Gehen wir mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Vertrauen in die eigenen Kräfte und Ideen an diese Aufgabe, werden wir hoffentlich fähig sein, am Erbe der russischen Revolution anzuknüpfen.