[dropcap]A[/dropcap]m 6. Juni haben sich gegen 16 Uhr rund 400 Personen auf dem Berner Rathausplatz versammelt, um gegen die vom Regierungsrat geplanten Kürzungsauflagen in der Sozialhilfe zu protestieren. Die Menschenmenge war heterogen, die Botschaft an die Regierung jedoch eindeutig: Finger weg von meiner sozialen Sicherheit!

Fotos: kriPo Bern

Die bewilligte Kundgebung wurde organisiert vom Verein „Verkehrt – Armut lässt sich nicht wegsparen“, dem Forum für kritische Soziale Arbeit (praxistätige, kritische Sozialarbeitende) und dem Komitee der Armutsbetroffenen und Arbeitslosen (Kabba). Verschiedenste Interessengruppierungen des schweizerischen ehrenamtlichen sowie amtlichen Sozialwesens äusserten ernste Bedenken und Unmut gegenüber der geplanten Massnahmen: 10% Kürzung im ausgezahlten Grundbedarf des sozialen Existenzminimums, Kürzungen von 15% für vorläufig Aufgenommene, 15-30% Kürzung für junge Erwachsene und Personen mit schlechten Sprachkenntnissen, wobei Ausnahmen bei harten Fällen vorgesehen seien.

Es grenzte an fundamentale Faktenblindheit, als der zuständige Regierungsrat der Gesundheits- und Fürsorgedirektion, Herr Schnegg (SVP), eine Studie der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit als unwissenschaftlich und parteiisch abtat. Die Studie wagte festzustellen, dass weitere Kürzungen den sozialhilfegesetzlichen Versorgungsauftrag der Sozialen Dienste gefährden würden: Existenzminima sollte man nicht unterschreiten!

Der Unmut steigt
Die Kundgebungsteilnehmenden waren denn auch emotional nicht gerade erquickt, als die bürgerlichen Grossräte des rechten Flügels aus der Session kamen, um in ihre Karossen einzusteigen. Es gab ein ordentliches Pfeif- und Buhkonzert. Selbstgefällig und siegesgewiss stapften jene jedoch durch die Arena des Hohns.

Die Lautstärke der Pfiffe und Buhrufe standen klar im Widerspruch zur Bravheit der abgehaltenen Reden. Diesen fehlte eine radikale Perspektive. Es wurde lediglich vom Stubentisch aus etwas moralisiert und über die Ungleichverteilung von Chancen und Reichtum geklagt. Diesem Mangel sei daher mit folgenden Zeilen Rechnung getragen: Wie könnte aus radikaler Sicht die Botschaft lauten, die sich politisch nutzbar machen lässt?

Sozialdienste – Dienst am Menschen oder am Kapital?
Bei derart emotionalen Manifestationen empfiehlt sich ein sachlicher Blick auf die Ereignisse aus marxistischer Perspektive. Dass die bürgerliche Sozialgesetzgebung den Charakter des Klassenstaates widerspiegelt, daran besteht kein Zweifel. Die moderne Sozialhilfe und ihr walten des Organ (die sozialen Dienste) verkörpern ebenso wenig wie das kirchliche Almosen des Armen Rechte und des Reichen Pflicht. Sie ist Ausdruck der Herrschaft des Bürgertums über die besitzlosen Massen.

Die Sozialhilfe ist rechtlich den Sozialversicherungen, die sich auch über die Löhne der Erwerbstätigen finanzieren, nachgelagert und funktioniert nach dem Finalprinzip: Die Ursache der wirtschaftlichen oder geistigen Not ist dabei irrelevant. Langzeitarbeitslosigkeit, Krankheit, Verschuldung, Überforderung: allesamt legitime Gründe, Hilfe in verschiedener Form vom Sozialdienst in Anspruch zu nehmen.

Die Sozialhilfe soll aber auch ein soziales Grundrecht erfüllen: Das Recht auf Hilfe in Notlagen. Dies ist ein mit allen Mitteln sozialpolitisch erkämpftes Recht! Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass in Not geratene Menschen durch andere Werktätige tatkräftig und finanziell unterstützt werden. Es ist kein Widerspruch, die Sozialhilfe zu verteidigen, auch wenn sie eine bürgerliche Institution ist: Es darf auf keinen Fall hinter die bisherigen sozialen Errungenschaften zurückgefallen werden.

Die Sozialhilfe ermöglicht den ArbeiterInnen aus dem Zustand permanenter Angst, materieller Not und drohender Verwahrlosung auszubrechen und damit überhaupt Zeit und Energie für politische Organisationsfragen zu haben. Dieses befreiende Potenzial halten wir für schützenswert und verteidigen diese notwendige Institution und das durch sie garantierte Existenzminimum daher gegen Angriffe durch das Kapital.

Dieses in wohlhabenden Ländern selbstverständliche Recht gilt zurzeit, in bürgerlicher Enge gefangen, freilich nur unter einer Bedingung: Die Unterstützungsbedürftigen haben alles zu unternehmen, um dem Staate nicht anheimzufallen. So regelt bereits Artikel 8 des Bernischen Sozialhilfegesetzes, dass jede zumutbare Arbeit anzunehmen sei, um das Ausmass der eigenen finanziellen Schieflage zu mildern.
Die Frage, was mit «zumutbarer Arbeit» gemeint ist, ist Interpretationssache: Prekäre Beschäftigung, mehrere Jobs und schlechte Löhne sind dabei Programm.

Sollte sich jemand dem gesetzlichen Zwang zur Selbstveräusserung der Arbeitskraft zum Preise der Mehrarbeit widersetzen (mit anderen Worten: sich nicht ohne Wenn und Aber für einen Auftritt auf dem Arbeitsmarkt entscheiden), so droht ihm oder ihr die Einstellungsverfügung der Sozialhilfeleistungen. Dann bleibt nur noch die Nothilfe. Das Bundesgericht stützte in der Vergangenheit diese Praxis des für die Rechtsangelegenheiten (Rekurse) der Sozialdienste zuständigen Verwaltungsgerichts.

Den Schleier gelüftet
Hier haben wir also des Pudels Kern: Die wirtschaftliche Sozialhilfe ist ein Disziplinierungsinstrument zur Wahrung der Eigentumsverhältnisse, zur politischen Herrschaft über die ArbeiterInnenklasse. Die Armen sollen sich schämen, dass sie von Steuergeldern leben und daher aus Solidaritätsgründen sich schleunigst, weil zur Eigenverantwortung verpflichtet, nach Lohnarbeit umsehen, statt sich aus dem Säckel des Staates zu speisen und in der „Sozialhängematte“ zu verweilen.

Die Eigenverantwortung wird gleichgesetzt mit der wirtschaftlichen Erwerbsfähigkeit. Die Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied und der eigenen Lage Herr sei, entpolitisiert die Arbeitslosigkeit und deren Klassenaspekt. Mediale Kampagnen von Grossindustriellen, Bildzeitungen, Polemiken und Tellerwäscher-Geschichten der Ideologen des Kapitals tun dazu ihr Nötigstes, um die um ihre soziale Position kämpfenden Individuen gegeneinander auszuspielen und damit zu verhindern, dass die Unterdrückten sich zusammentun und eine soziale Kraft (eine ArbeiterInnenbewegung) mit politischem Potenzial bilden.

Die psychische Verfassung zahlreicher Individuen der ArbeiterInnenmasse spielt den Machthabern dabei in die Hände: Es wird gegen oben geduckt, die Faust im Sack gemacht und nach unten bereitwillig getreten. Hauptsache, man ist in der Lage, seinen Lebensunterhalt selber zu finanzieren (wie entfremdet und ausbeuterisch das eigene Arbeitsverhältnis auch sein mag), währenddessen andere die Frechheit haben, erwerbslos zu sein: Welch herrliches Gefühl der eigenen Überlegenheit! Durch reaktionäre Propaganda und reale Beispiele des Sozialhilfemissbrauchs zum nützlichen Idioten für das Kapital gemacht, tragen breite Bevölkerungsschichten, die potenziell vom sozialen Abstieg betroffen sind, an Wahl- und Abstimmungssonntagen (durch Wahl oder Hereinfall auf die Polemik des Kapitals) die Abrisskugel zur Baustelle, um das Gebilde der erkämpften minimalen sozialen Sicherheit zertrümmern zu lassen.

Der einzelne Mensch ist, als Verkäufer seiner Arbeitskraft, isoliert und Manipulationsversuchen breiträumig ausgeliefert. „Allein machen sie dich ein!“ lautete einst ein Leitspruch der Linken. Als Mitglied seiner sozialen Klasse jedoch hat er zwangsweise fortschrittliche, gemeinschaftliche Interessen entwickelt. Es ist die Aufgabe aller MarxistInnen, die Klasse an sich in eine Klasse auch für sich zu entwickeln und zu zeigen, dass die ArbeiterInnen nur durch Assoziation aus ihrer misslichen Lage, aus der Programmatik der Kapitalverwertung und der damit einhergehenden systematischen Schikanen ausbrechen können.

Krisen lösen, indem man neue Krisen vorbereitet
Eine Kürzung der Sozialgelder hat ein Absinken der Reallöhne in der Privatwirtschaft zur Folge. Denn das bürgerliche Credo: „Arbeit soll sich lohnen“ fordert lediglich, dass Erwerbslose weniger haben als Erwerbende. Die Löhne in den Branchen, in denen ein Arbeitskräfteüberangebot herrscht, werden durch tiefere Sätze der Sozialgelder folglich unter Druck gesetzt. Dies ist die bürgerliche Agenda: Löhne runter, Profit erhöhen! Die fortwährenden Angriffe auf die Sozialwerke sind in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise keine Überraschung.

Die Wettbewerbsfähigkeit treibt das Kapital zu drastischen Massnahmen: Durch die marktgläubige Sichtweise reduziert sich das staatliche Hoheitsgebiet, die Politik und mit ihr das öffentliche Interesse auf einen Firmenstandort mit Verwertungsbedingungen. Die bürgerlichen Antworten auf die soziale Frage sind denn auch einfach: Mehr Markt, weniger Regulierung, Löhne runter, Steuern runter, mehr Freihandel, Privatisierung von Staatseigentum usw. Kurz gesagt: Mehr davon, was PatientInnen krank macht!

Dass sie dabei die sog. «Kaufkraft» der Massen senken in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation, und dass die Konsumkraft nur durch Neuverschuldung und Umweltzerstörung am Leben gehalten werden kann, erschliesst sich den Bürgerlichen wohl erst, wenn die Rechnung für die nächsten Wasserwerfer auf dem Tisch, die nächsten Banken zahlungsunfähig, die Kriminalität steigend, die Klimaflüchtlinge schutzsuchend und im Allgemeinen die bürgerliche Gesellschaft noch krasser in Auflösung begriffen ist.

Die allgemeine Krisenhaftigkeit im Verwertungsprozess des Kapitals fordert Opfer. Opfer, welche von den Besitzenden gewiss nicht erbracht, jedoch im (angeblich) öffentlichen Interesse gefordert werden. Die Krisenfolgen werden unweigerlich auf die ArbeiterInnen und die Jugend abgewälzt. Einschnitte im Arbeits-, im Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht, Verteuerung von Wohnraum, Krankenkassen, sinkende Reallöhne, Klimakrise, Zunahme politischer Repression usw. lassen die Menschen auf die Strasse gehen. Wer gegen genannte Entwicklungen auf die Strasse geht, muss sich demzufolge auf die Fahne schreiben: für den Sozialismus, für eine alternative, sozial gerechte und fortschrittliche Perspektive.