Streiks, Kontrollen, Blockaden: Die Genfer Sektion der Unia (Unia Genève) fuhr über Jahre einen kämpferischeren Kurs als die nationalen Gewerkschaften. Heute verlässt der Regionalsekretär Alessandro Pelizzari nach 14 Jahren seinen Posten. Vor drei Jahren hatten wir uns mit ihm über die Herausforderungen und die Antworten einer kämpferischen Gewerkschaft in der Schweiz unterhalten. Artikel vom 9.2.2017

Die sozialen Kämpfe und Streiks in Genf haben der Schweiz im letzten Jahr gezeigt, was kämpferische Gewerkschaften möglich machen. Wir haben mit dem Unia-Regiosekretär Alessandro Pelizzari über Genfer Besonderheiten, Erfolgsrezepte, die extreme Rechte und die erfolgreiche Einführung von gewerkschaftlichen Betriebskontrollen gesprochen.

Funke: Wie sieht die Genfer Gewerkschaftslandschaft aus? Warum ist sie militanter als in anderen Kantonen?
Alessandro Pelizzari: Erstens gibt es in Genf eine alte kämpferische Tradition. Vor allem die Baugewerkschaften prägten jahrzehntelang die Landschaft mit spektakulären anarcho-syndikalistischen Aktionen. In der Industrie wurde der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) lange von einem starken Flügel kommunistischer MigrantInnen angetrieben, der in den 70er Jahren zahlreiche wilde Streiks organisierte. Auch der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) hat eine lange Tradition von Streiks im öffentlichen Dienst. Diese Tradition hallt vor allem im hohen Organisationsgrad, den wir z.B. auf dem Bau noch immer haben, nach.

Zweitens ist der Genfer Gewerkschaftsbund (CGAS, Communauté genevoise d’action syndicale) besonders. Er umfasst auch Gewerkschaften, die nicht Teil des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) sind, wie die Syndicat interprofessionnel des travailleurs (SIT). Die SIT entstammt dem linken Flügel der christlichen Gewerkschaften und hat sich in den 80er Jahren weiter radikalisiert. Mitte der 90er Jahre näherte sich die SIT den „roten“ Gewerkschaften an und schloss sich dem CGAS an. Diesem gehören inzwischen auch die Genfer Branchengewerkschaften von Travail.Suisse an. Heute treiben zwei kämpferische Gewerkschaften aus dem privaten Sektor im CGAS die anderen an: Unia und SIT.

Drittens beheimatet der Kanton Genf zwei Rechtsparteien, die starke Wahlresultate erzielen: Mouvement Citoyens Genevois (MCG) und SVP. Es gibt ArbeiterInnenquartiere, in denen sie viele Stimmen bekommen. Dieser Herausforderung haben wir uns gestellt. Wir versuchen, mit einer politischen Offensive ihre ideologische Vorherrschaft anzugreifen. Uns ist es wichtig, die Verwurzelung in den Betrieben voranzutreiben und gleichzeitig das politische Terrain zu besetzen.

Der CGAS war eine der ersten linken Organisationen, die zum Inländervorrang Stellung bezog.
Wir bezogen tatsächlich früh Stellung. Denn wir stellten fest, dass die SP in den parlamentarischen Debatten die Forderung der Gewerkschaften – Verbesserung der flankierenden Massnahmen im Arbeitsrecht – schnell fallengelassen hatte, um die bilateralen Verträge zu retten. Das ist kurzsichtig und trägt dem Hauptgrund für die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) keine Rechnung: der Angst vor schlechteren Arbeitsbedingungen. Und gegen diese Angst kämpft man nur mit einer Offensive für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für SchweizerInnen und ZuzügerInnen an. Der Inländer- oder Arbeitslosenvorrang, wie er nun genannt wird, kann einen verbesserten Arbeitnehmehmendenschutz nicht ersetzen. Im Gegenteil, wir erachten ihn als kontraproduktiv: er wirkt nicht gegen Lohndumping und Arbeitslosigkeit, ausländische Arbeitnehmende werden noch stärker stigmatisiert und ansässige Arbeitslose werden unter Druck gesetzt, Stellen zu tieferen Löhnen zu akzeptieren. Wer wirksam gegen Arbeitslosigkeit vorgehen will, muss den Kündigungsschutz stärken – anstatt Arbeitslose und MigrantInnen gegeneinander auszuspielen.

Was verstehst du unter proletarischem Internationalismus?
Wer, wie die Genfer Gewerkschaften, versucht, eine internationalistische Gewerkschaftspolitik wirklich umzusetzen, stellt fest, dass das nicht einfach ist. Die Spaltungen sind real. Die Trennlinien zwischen Nationalitäten sind zwar künstlich gezogen, aber sie existieren beispielsweise in Berufshierarchien und Lohnunterschieden. Von Internationalismus zu reden reicht nicht, um diese Spaltungen zu überwinden.
Der einzige Weg, um sich vor dem Konkurrenzkampf mit ausländischen KollegInnen zu schützen, ist, sich gemeinsam zu organisieren und sich gemeinsam für mehr Rechte einzusetzen. Diese Botschaft versuchen wir zu vermitteln. Beispielweise machten wir gegen die MEI mit dem Slogan „Nicht Grenzen, sondern Löhne schützen“ Kampagne und lancierten parallel dazu die Initiative für die Milizkontrollen in den Betrieben. Wir waren gezielt in Quartieren präsent, in denen SchweizerInnen und eingebürgerte MigrantInnen leben, die SVP und MCG wählen. Wir haben die Argumente der extremen Rechten offensiv angegriffen und dargelegt, dass es nicht die GrenzgängerInnen sind, welche Löhne senken oder Leute entlassen, sondern die ArbeitgeberInnen. Auf unseren Plakaten stand „Le boss te baisse“ („Der Chef senkt Deinen Lohn/fickt Dich“) und wir vermittelten eine klare Botschaft: Wir schlagen die SVP, indem wir die ArbeitgeberInnen angreifen.

Das Resultat gab uns Recht: Die MEI wurde in Genf mit 61 % abgelehnt und wir konnten inzwischen die Milizkontrollen einführen. Die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist in dieser Auseinandersetzung von zentraler Bedeutung: Wir dürfen uns weder populistischen Forderungen à la Inländervorrang anbiedern, noch uns im Namen der Rettung der bilateralen Verträge den Arbeitgeberverbänden unterordnen.

Warum kommuniziert ihr über die Tripartite Kommission?
In einem Kanton, in dem über die Hälfte der Lohnabhängigen keinen Schweizer Pass hat und rund ein Viertel aus GrenzgängerInnen besteht, ist es angesichts des Aufwinds der extremen Rechte zentral, das Feld der Arbeitsmarktkontrolle zu besetzen und nicht einfach dem Staat zu überlassen. Unsere Position ist klar: Wir verteidigen die Personenfreizügigkeit als Grundrecht ausländischer Arbeitskräfte. Aber wir lassen nicht zu, dass die ArbeitgeberInnen die Konkurrenzsituation dazu nutzen, die Löhne zu senken. Wir fahren eine permanente offensive Kampagne gegen ArbeitgeberInnenmissbräuche und für mehr Schutz für Arbeitnehmende. Die tripartite Kommission, in der auch ArbeitgeberInnen und Kantonsregierung sitzen, hat unter unserem Druck diese Position inzwischen öffentlich übernommen: In den letzten Stellungnahmen wird explizit mehr Arbeitnehmendenschutz gefordert und der Inländervorrang als potenziell rassistisch hinterfragt.

Meines Wissens ist dies die einzige kantonale Kommission die so kommuniziert. Es geht uns also nicht darum, über die tripartite Kommission zu kommunizieren, sondern diese dazu zu bringen, unsere Position mitzutragen.

Sicher erklärt sich die Position der tripartiten Kommission auch dadurch, dass der Genfer Arbeitgeberverband, im Unterschied zum Rest der Schweiz, noch immer deutlich auf Distanz zur SVP geht. Anders als Arbeitgeberverbandspräsident Valentin Vogt, der offen für eine Allianz mit der SVP plädiert, haben die hiesigen ArbeitgeberInnen Interesse daran, den starken Zufluss von ausländischen Arbeitskräften nicht zu bremsen. Die 80’000 GrenzgängerInnen sind unverzichtbar für die Genfer Wirtschaft und drängen die Patrons weg von der Anti-GrenzgängerInnen-Rhetorik und -Politik. Auch deshalb gehen sie in Sachen Arbeitsmarktregulierung eine Allianz mit uns ein. Dies erlaubte uns, den Arbeitnehmendenschutz in Genf auf ein Niveau heben, das sonst nirgends in der Schweiz erreicht wird. So konnten wir beispielsweise das Gesetz für das öffentliche Beschaffungswesen signifikant verschärfen, im Gastgewerbegesetz die Möglichkeit einschreiben, Restaurants zu schliessen, wenn die Arbeitsbestimmungen nicht eingehalten werden oder die Sonntagsverkäufe zu verbieten, wenn fürs Verkaufspersonal nicht bessere Bedingungen verhandelt werden können. Und, als wichtigste Massnahme, konnten wir die Milizkontrollen durchsetzen.

Was ist die Paritätische Betriebskontrolle (IPE) und wie kam sie zustande?
Die Initiative für eine Verstärkung der Betriebskontrollen forderte die Vervierfachung der Anzahl kantonaler ArbeitsmarktkontrolleurInnen und die Einführung von 30 gewerkschaftlichen InspektorInnen, denen die Türen der Betriebe offenstehen. Nach einem Rekurs beim Bundesgericht gegen die Gültigkeit der Initiative haben die UnternehmerInnen in einem Punkt Recht bekommen: Es können nicht ausschliesslich gewerkschaftliche InspektorInnen sein. Auch solche der Gegenseite müssen vorhanden sein.

Nach der Annahme der MEI haben wir den UnternehmerInnen das Zugeständnis gemacht, dass sie 15 MilizinspektorInnen aus ihren Reihen nominieren dürfen. Aus diesen Verhandlungen entstand ein Gegenvorschlag, der 2015 vom Kantonsrat einstimmig angenommen wurde. Seit dem 1. Mai ist die IPE im Amt. 15 gewerkschaftliche MilizinspektorInnen, das heisst GewerkschaftsaktivistInnen und -sekretärInnen, sind seither im Kanton unterwegs.

Die MilizinspektorInnen haben die gleichen Kompetenzen wie die kantonalen ArbeitsmarktkontrolleurInnen, mit einer Ausnahme: Wir haben explizit das Ausländergesetz aus ihrem Kompetenzbereich ausgeschlossen, damit sie nicht der Meldepflicht unterliegen, falls sie auf Sans Papiers treffen. Konkret stärken wir damit die Arbeitsmarktkontrolle und verschärfen den Kampf gegen Lohndumping.
Wichtiger ist aber, dass wir als Gewerkschaft nun über das Milizinspektorat freien Zutritt zu den Betrieben haben und frei vor Ort mit den Arbeitnehmenden sprechen können. Wir hatten in den letzten Jahren ja mehrere Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch am Hals. In der Schweiz wird der Schutz des Privateigentums höher gewertet als Gewerkschaftsrechte. Das ist nun vorbei: Wenn in einem Betrieb Lohndumping oder Verstösse gegen Arbeitszeitregelungen festgestellt werden, können die Arbeitnehmenden die MilizinspektorInnen anrufen, und das Unternehmen muss ihnen per Gesetz Einlass gewähren. Und da es sich bei den gewerkschaftlichen InspektorInnen hauptsächlich um Gewerkschaftsmitglieder handelt, die selber in Betrieben tätig sind, ist damit der erste Schritt zur gewerkschaftlichen Organisation gemacht.

Wie stehen die Genfer Gewerkschafen zum SGB und den anderen schweizerischen Gewerkschaften?
Genf erscheint als Grenzkanton mit eigener Problemlage und wird entsprechend oft als Sonderfall gehandelt. Man geht davon aus, dass viele unserer Errungenschaften anderswo nicht erreichbar sind. Sicher stimmt, dass wir als Grenzregion in der Schweiz wenig politisches Gewicht haben – ähnlich wie der Kanton Tessin, wo die Gewerkschaften eine ähnliche Dynamik entwickeln. Aber es ist auch nicht abzustreiten, dass unsere politischen Erfolge nicht der Ausdruck von besonders progressiven ArbeitgeberInnen und RegierungsrätInnen sind, sondern das Resultat einer hartnäckigen und offensiven Kampagnenstrategie, die durchaus zu exportieren wäre.

Der Unia-Kongress hat allerdings auch gezeigt, dass Bewegung in die Organisation kommt (Resolution). Unsere Position zum Inländervorrang wurde übernommen und dazu die vorgeschlagenen Massnahmen, ebenso die Position zur Rentenreform. Die Gewerkschaften sind in ganz Europa in der Defensive, da ist die Schweiz keine Ausnahme. Aber langsam macht sich die Überzeugung breit, dass Angriff die beste Verteidigung ist.

Bryan Chirinos & Michael Wepf
Unia Genève & Nordwestschweiz

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