[dropcap]A[/dropcap]m 25. Februar eskalierte eine Soli-Demo mit dem kurz zuvor geräumten „Effy 29“, einem besetzten Haus an der Effingerstrasse in Bern. Was bedeutet die momentane Welle von Hausbesetzungen? Und welche politische Strategie ist erforderlich, um die von den BesetzerInnen angesprochenen Missstände zu bekämpfen?

Das „Effy 29“ resultierte aus der Besetzung eines seit Mai 2016 leerstehenden Gebäudes des Bundesamtes für Bauten und Logistik letzten Dezember. Diese Besetzung reihte sich ein in eine regelrechte Welle von Hausbesetzungen in der Stadt Bern. An der Effingerstrasse wurden im Juli 2016 bereits drei Häuser besetzt, im Dezember 2015 war ausserdem ein Haus im Kirchenfeld-Quartier besetzt worden. Diese Besetzungswelle kommt nicht von ungefähr. Die Leerziffer von Wohnungen ist mit 0,46 Prozent historisch tief, der Wohnraum also knapp.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es insbesondere für Studierende und junge ArbeiterInnen sehr schwierig, eine zahlbare Bleibe zu finden. Die Verknappung des Wohnraums führt zu steigenden Mieten: Seit 2003 sind die Mietzinse in der Stadt um 13,9 % gestiegen, wobei sich gerade Zwei- und Dreizimmerwohnungen besonders verteuert haben ? und dies, obwohl der Referenzzinssatz seit Jahren am Sinken ist, wodurch theoretisch auch die Mietzinse sinken müssten.

Resultat der RGM-Wohnpolitik
Am 8. Februar berichtete die „Rundschau“ über die Auswirkungen der Stadtpolitik des „Rot- Grün- Mitte“ (RGM)-Bündnisses, welches seit 24 Jahren die Stadt Bern regiert. Anhand des Länggasse- Quartiers, einem ehemaligen ArbeiterInnenquartier, zeigte die Sendung auf, wie Verkehrsberuhigungsmassnahmen und der Bau von Grünanlagen zwar die Lebensqualität des Quartiers deutlich verbesserten, auf der anderen Seite allerdings die Mieten explodieren liessen. Die Mietzinse sind hier in den letzten 10 Jahren um 20% gestiegen, was deutlich über dem städtischen Durchschnitt liegt. Diese Entwicklung ist symptomatisch für die Wohnpolitik des RGM.: Natürlich ist die Aufwertung im Sinne einer Verschönerung der Quartiere und einer Steigerung der Lebensqualität grundsätzlich sinnvoll und unterstützenswert.
Doch das Ganze hat eine bedeutende Kehrseite: Im Kapitalismus wird Wohnraum als Ware produziert und gehandelt, das heisst für den Verkauf und die Vermietung, und damit mit einer Profiterwartung. Steigt nun die Attraktivität städtischen Raumes, steigt auch die Nachfrage nach Wohnraum, womit sich für die Immobiliengesellschaften die Möglichkeit ergibt, den bestehenden Wohnraum profitabler zu vermarkten: Anstelle einer 3-Zimmerwohnung, welche an eine WG vermietet wurde, lohnt sich beispielsweise nun die Sanierung und Umnutzung des Wohnraums zu einer Eigentumswohnung oder es entsteht zumindest der Anreiz, den Mietzins zu heben. Linke Wohnungspolitik, das heisst Politik im Interesse der Lohnabhängigen, sollte genau an dieser Stelle dem Kapital den Riegel vorschieben und sämtliche Erhöhungen der Mietzinse unterbinden.

Doch die Massnahmen des RGM-Bündnisses sind in dieser Hinsicht – freundlich formuliert – feige. Aus Angst vor der Konfrontation mit den Immobiliengesellschaften beschränkte sich das Regierungsbündnis in den letzten Jahren auf den Einsatz eines städtischen Immobilienfonds, welcher dazu eingesetzt wird, Liegenschaften und Wohnraum aufzukaufen und im Anschluss entweder als städtischen Wohnraum zu vermieten (wobei hier eine Quote an günstigem Wohnraum angewandt wird), oder sich an Genossenschaftsbauten zu beteiligen.
Zunächst muss hier aber festgehalten werden, dass die städtischen Wohnungen mit insgesamt 2000 Wohnungen gerade mal 2,7% aller Wohnungen der Stadt ausmachen und folglich umso schwerer zugänglich sind. Sowohl günstiger Wohnraum wie auch Genossenschaften sind nur durch das Erfüllen von engen Kriterien zugänglich und können aufgrund ihrer geringen Zahl dem allgemeinen Trend der Stadtaufwertung nicht entgegenhalten, denn ihr Einfluss auf die Marktmechanismen ist minim.

Was kann mit Hausbesetzungen erreicht werden?
Es ist also kein Zufall, dass es in den letzten Jahren in Bern vermehrt zu Hausbesetzungen gekommen ist. Wirkliche Aufmerksamkeit erhielt das Thema Hausbesetzungen in den bürgerlichen Medien allerdings erst nach der gewaltsamen Räumung bzw. der Razzia der Effingerstrasse 29. Diese berichteten in der gewohnten Art und Weise über das Thema. Die Botschaft lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Wohnungsnot sei vielleicht ein politisches Thema, aber „gewaltsame Besetzungen“ seien keine Lösung für das Problem. Schliesslich darf niemand die herrschenden Eigentumsverhältnisse kritisieren. Doch genau hier besteht das progressive Element von Hausbesetzungen: Sie stellen die bürgerlich- kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, welche in letzter Instanz verantwortlich sind für steigende Mieten, Gentrifizierung und Verdrängung, radikal in Frage.
Allerdings sind der Aktionsform Besetzung klare Grenzen gesetzt. Einzelne Hausbesetzungen sind keine massentaugliche Kampfform, solange der Kampf gegen kapitalistisch vermarkteten Wohnraum auf eine Gruppe von BesetzerInnen begrenzt bleibt. So wird dieses Problem bloss für eine Gruppe von Individuen im kleinen Rahmen behoben. Deswegen muss eine Besetzung immer auch verknüpft werden mit einer breiteren Bewegung gegen Wohnungsnot, steigende Mieten und Gentrifizierung. Eine Besetzung kann zwar eine symbolische Wirkung entfalten, muss aber eine Verbindung schaffen zu der ArbeiterInnenklasse und der Jugend und diese in den Kampf einbeziehen.

Historisch gab es zwar durchaus Kampfformen, welche zum Mittel der Besetzung von Wohnraum griffen und es zudem schafften, dies in einen kollektiven Kampf einzubinden. 1919 organisierten im Zuge der deutschen Revolution etwa Arbeitslosenräte in Berlin einen MieterInnenstreik mit bis zu 200’000 Beteiligten, um gegen die massiv gestiegenen Mietpreise zu protestieren. 1974 wurde ein ähnliches Mittel von Hamburger Studierenden und Lernenden ergriffen, um einen Anstieg der Mietpreise in StudentInnen- und Lernendenwohnheimen zu verhindern, und schliesslich fand auch jüngst in London ein ähnlicher Kampf statt: Über 500 Studierende des University College London stellten während 5 Monaten ihre Mietzahlungen ein, um gegen die Erhöhungen der Mieten (mit denen die Uni Gewinn macht!) zu protestieren. Schliesslich musste die Universität die Erhöhung im Sommer 2016 fallen lassen.
Solche Aktionsformen sind in diesem Sinne Besetzungen auf einem höheren Niveau: Das Problem wird nicht nur durch eine kleine Gruppe angegangen, sondern wird auf eine soziale Bewegung ausgedehnt. Damit ist der Druck auf die WohnungsbesitzerInnen deutlich höher, neue Schichten werden in den Kampf mit einbezogen und der Organisationsgrad der MieterInnen wird vorangetrieben. Doch eine solche Kampfform erfordert logischerweise auch bereits einen hohen Organisationsgrad, und um eine solche Bewegung zu organisieren, ist eine individuelle Besetzung kaum das geeignete Mittel.
Denn jede Besetzung muss auf lange Frist versuchen, innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu bestehen, zum Beispiel durch das Aushandeln eines Zwischennutzungsvertrages mit der Stadt. Auch die BesetzerInnen des „Effy 29“ hatten das Selbstverständnis, Raum für alternative Lebensformen zu schaffen und diesen selbst verwalten zu wollen. Damit wird die Besetzung zu einer Art „Insel“ im Kapitalismus und verkommt zum Selbstzweck, anstatt das Problem kapitalistisch vermarkteten Wohnraums auf gesellschaftlicher Ebene anzugehen.

Die Rolle der JUSO
Eine Bewegung, welche nicht nur auf die linke Szene begrenzt bleiben will, sondern auch andere Schichten der Lohnabhängigen und der Jugend erreichen will, braucht klare politische Forderungen, welche aber auch über die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hinausgehen. Die JUSO Stadt Bern forderte in ihrem Wahlprogramm zu den Stadtratswahlen im Herbst 2016 z.B. die „Festsetzung einer Mietpreis-Obergrenze nach ortsüblicher Vergleichsmiete“. Eine Forderung, welche eine Antwort auf die steigenden Mieten darstellen könnte, denn sie würde einerseits ansetzen bei einem weit verbreiteten Bedürfnis nach günstigem Wohnraum und andererseits dieses Bedürfnis verknüpfen mit einem radikalen Angriff auf die Profitinteressen der Immobiliengesellschaften, wodurch eine antikapitalistische Perspektive eröffnet würde wird.
Diese Herangehensweise unterscheidet sich auch klar von der Politik des RGM- Bündnisses. Genossenschaftswohnungen und städtischer Wohnraum sind schön und gut, doch stellen sie kein wirksames Mittel gegen das Steigen der Mietpreise dar, weil sie letztlich gezwungen sind, innerhalb des Wohnungsmarktes zu operieren und sich folglich auch dessen Gesetzen anpassen müssen. Es muss also die Funktionsweise dieses Marktes selbst direkt angegriffen werden. Leider enthält sich die ausserparlamentarische Linke allerdings in der Regel grundsätzlich solchen als „reformistisch“ verurteilten Forderungen und kann damit gar kein konkretes, aber offensives Programm formulieren, welches am Bewusstsein der Lohnabhängigen anknüpft und sie in einen Kampf einbezieht, der direkt die Profitlogik in der Vermarktung von Wohnraum angreift.

Folglich ist es die Rolle der JUSO, dieses Thema stärker in den Fokus zu nehmen. Ziel müsste es also sein, eine Art Synthese herzustellen: Konkrete Forderungen, eingebettet in ein sozialistisches Programm, welches aber nicht zum Selbstzweck verkommt, sondern zum Ziel hat, eine breite und kämpferische Bewegung der Lohnabhängigen und der Jugend gegen Gentrifizierung und Verdrängung zu mobilisieren. Eine entsprechende Organisierung der MieterInnen würde somit auch die Möglichkeit radikalerer Kampfformen wie MieterInnenstreiks oder Kollektivbesetzungen möglich machen.
Dennoch muss uns bewusst sein, dass das Problem des kapitalistisch organisierten Wohnraums mit all seinen unschönen Nebenwirkungen erst vollständig behoben werden kann, wenn auch die kapitalistische Produktionsweise überwunden ist. Somit kann auch dieser Kampf wiederum nicht selbständig und isoliert geführt werden, sondern muss eingebettet werden in einen generellen Kampf der Lohnabhängigen und der Jugend gegen den Kapitalismus.

Pan
Julian Scherler
JUSO Stadt Bern